30.08.2024
Deutschlands vergiftete Debatten
Die Debatten in Deuschland werden von immer rechtsextremistischeren Ansichten geprägt - das passiert nicht nur in der Gesellschaft, sondern längst bei politischen Entscheidungsträger:innen. Grafik: Zaide Kutay
Die Debatten in Deuschland werden von immer rechtsextremistischeren Ansichten geprägt - das passiert nicht nur in der Gesellschaft, sondern längst bei politischen Entscheidungsträger:innen. Grafik: Zaide Kutay

Die Debatte in Deutschland dreht sich im Kreis und treibt die Normalisierung rechtsextremer Positionen voran. Statt sachlicher Reaktionen auf Gewalt und Präventionsarbeit, folgen rassistische Narrative, kritisiert Mina Jawad.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Ursprünglich hatte ich geplant, einen nüchternen Text zu schreiben. Einen Text, der sich an das trügerische Ideal der Sachlichkeit hält – vernünftig und differenziert. Doch je länger ich das gesellschaftliche Klima in Deutschland miterlebe, desto klarer wird mir, dass diese deutsche Sachlichkeit ein Mythos ist.

Die Debatten und Diskurse der vergangenen Wochen, Jahre und gar Jahrzehnte zeigen eindeutig, wie sehr die deutsche Dominanzgesellschaft einerseits Anspruch auf Vernunft stellt. Gleichzeitig hat sie wenig Zugang zu ihren eigenen Emotionen, und niedere Instinkte prägen die nie endende „Migrationsdebatte“. Der deutsche Diskurs hat sich längst von der bloßen Idee der Sachlichkeit verabschiedet, soweit sie denn jemals bestand.

Besonders bezeichnend sind die Reaktionen auf den jüngsten Anschlag in Solingen, bei dem ein abgelehnter „Asylbewerber“ aus Syrien drei Menschen tötete und weitere schwer verletzte. Reaktionen, die sich nahtlos an den Anschlag vom Mai 2024 anschließen, bei dem ein afghanischer Mann einen Polizisten in Mannheim mit einem Messer tötete.

Während die etablierten Parteien nach Mannheim nicht zögerten, Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan zu fordern, reagierten die Grünen zunächst verhalten. Doch auch sie haben inzwischen auf „grün“ geschalten in dieser vergifteten Debatte. In einem Positionspapier fordern sie einen „Kurswechsel“: Aufrüstung nach Innen.

Bundesabsageprogramm

Bei den zahlreichen „Kurswechseln“ in der Politik bei gleichbleibenden Debatten stellt sich die Frage, ob sich die politische Diskussion nicht im Kreis dreht. Die schleichende Aushöhlung des Asylrechts, die spätestens mit der Reform des „Gemeinsamen Europäischen Asylsystems“ (GEAS) ihren Höhepunkt erreichte, hängt unmittelbar mit den jüngsten Forderungen nach einem Aufnahmestopp für Afghan:innen und Syrer:innen zusammen – wie kürzlich von Oppositionsführer Merz gefordert. Anstatt Gewalt als das zu erkennen, was sie ist, werden Grundrechte in Reaktion darauf mit Füßen getreten, und rassistische Argumentationen werden unverhohlen als rational präsentiert. Die meisten Afghan:innen und Syrer:innen, die vor islamistischer oder staatlicher Gewalt fliehen, werden mit denjenigen gleichgesetzt, vor denen sie Schutz suchen. Während Geflüchtete gezwungen werden, ihre Bedrohungslage individuell zu beweisen, werden sie kollektiv in Sippenhaft genommen.

Dass bereits faktisch ein Aufnahmestopp für Afghan:innen besteht, findet in der Debatte kaum Beachtung. Im Oktober 2022 präsentierte die Bundesregierung stolz das humanitäre „Bundesaufnahmeprogramm für besonders gefährdete Menschen aus Afghanistan“, doch dieses wurde schnell von mehreren Skandalen überschattet. Von den monatlich versprochenen tausend Evakuierungen – insgesamt also mehr als 20.000 Menschen – wurde nicht einmal ein Bruchteil, keine 1000, realisiert. Als 2023 die Debatte um islamistische Gefährder wieder aufflammte, führte die Regierung sogenannte Sicherheitsinterviews durch. Diese dienten oft als Vorwand, um Afghan:innen die bereits erteilte Aufnahmezusage zu entziehen. Besonders fragwürdig sind die Sicherheitsinterviews, die sich auf rassistische Klischees stützen, etwa durch Fragen zur sexuellen Selbstbestimmung. Es stellt sich die Frage, ob weite Teile der CDU/CSU und AfD diese Interviews selbst bestehen würden.

Wie wenig feministisch und außenpolitisch die Frage des Umgangs mit Afghanistan und Afghan:innen ist, zeigt sich deutlich: Alles ist eine innenpolitische und wahltaktische Frage. Die Streichung von 90% der Mittel für das Programm durch Innenministerin Faeser ist ein erschreckendes Zeichen dafür, wie wenig die Versprechen der neuen Regierung zählen. Aufarbeitung und Verantwortung gibt es nicht.

„Ausländer raus“ ist längst Mainstream

Anstatt sich ernsthaft mit den Ursachen islamistischer Gewalt auseinanderzusetzen, wird oft übersehen, dass die Radikalisierung vieler Menschen durch eine Politik gefördert wird, die zwar von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit spricht, diese aber je nach eigenen Interessen selektiv anwendet. Diese vernachlässigten Menschen werden dann von extremistischen Ideologien wie dem Islamismus aufgefangen, die ihnen eine scheinbare Alternative bieten. Dabei wird auch übersehen, dass der Kampf gegen den Faschismus nicht konsequent geführt wird – schließlich sind Islamismus und rechte Ideologien weltweit nur unterschiedliche Ausdrucksformen desselben Problems.

Wie es um die Glaubwürdigkeit des Kampfes gegen rechte Gewalt steht, zeigt sich eindeutig: In Deutschland scheitert progressive Politik am politischen Willen, während rechte Politik zeitgleich geleugnet und durch die Instanzen durchgewunken wird.

Tragischerweise veranschaulicht dies Solingen selbst. 1993 wurden bei einem rechten Brandanschlag fünf Menschen getötet. Erst im März dieses Jahres kamen erneut bei einem Anschlag drei Menschen ums Leben. Die Behörden negieren einen rechten Hintergrund. Doch in allen Fällen ist klar: Die Politik hätte diese Anschläge verhindern können, wenn die Grenzen des Sagbaren nicht verschoben worden wären, die die Grenze zum Machbaren erst öffnen.

Kurz nach dem Anschlag in Solingen hieß es in einem Slide der Tagesschau-App, der Ton in der „Asyldebatte“ habe sich verschärft. Dies trifft genauso wenig zu, wie der Rechtsruck in Deutschland keiner ist, sondern eine sich stetig verschlimmernde Kontinuität. Das Treffen von Rechtsextremisten in Potsdam, bei dem ein „Masterplan zur Remigration“ mit Beteiligung von CDU-Mitgliedern stattfand, „Ausländer raus“-Gesänge und Hitler-Grüße in der „bürgerlichen Mitte“ und rechte Aufmärsche gegen den CSD in Leipzig sind nicht im luftleeren Raum entstanden.

Nach Hanau wurde einfach Karneval gefeiert, nach Solingen kommt eine nationale Welle der Entrüstung und Repression: nur noch Brot, Seife und Bett für Geflüchtete und der erste Abschiebeflug ins Taliban-regierte Afghanistan.

Das vergiftete Klima in Deutschland ist in einer Umgebung gediehen, in der sich etablierte Parteien damit brüsten, bei den deutschlandweiten Demonstrationen gegen Rechts mitgelaufen zu sein, zeitgleich aber mindestens stillschweigend oder aktiv die rechte Politik mittragen. Die Normalisierung dieser kognitiven Dissonanz und die Präzedenzfälle, die dadurch geschaffen werden, werden von den voraussichtlich noch rechteren Regierungen, die uns erwarten, dankend angenommen.

Die Zukunft in diesem Deutschland ist ein nicht endender Albtraum, vor dem lange genug gewarnt wurde.

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

 

 

 

Mina Jawad ist freie Autorin. Sie befasst sich mit der Konstruktion von Raum, Gender und ihren Wechselwirkungen. Ihre Schwerpunkte liegen in postkolonialer Analyse in Kunst, Kultur und Gesellschaft. Mina Jawad is a freelance writer. She works on the construction of space, gender and their interactions. Her work focuses on postcolonial analysis in...
Redigiert von Regina Gennrich, Sophie Romy