Neun Kilometer nordwestlich von Ramallah entsteht im palästinensischen Westjordanland die Stadt Rawabi. Während sie für die einen ein zukunftsweisendes und patriotisches Vorzeigeprojekt darstellt, sehen die anderen in ihr eine Ressourcen verschlingende Verzerrung der Realitäten vor Ort. Von Raja Khalidi
Unter den vielen Indikatoren für Entwicklung stellen im palästinensischen Kontext die Lebensverhältnisse, vor allem in Bezug auf Wohnraum, wohl den wichtigsten Maßstab dar. Palästinensische Enklaven unterliegen je nach Standort unterschiedlichen Regelungen, die entsprechenden Einfluss auf Wohnraumprojekte haben.
Während Palästinenser_innen in Israel zusammengedrängt in Einfamilienhäusern innerhalb der engen Grenzen ihrer Dörfer leben, sind viele der fast 1,8 Millionen Palästinenser_innen im Gaza-Streifen dazu gezwungen, Wohnhochhäuser in unmittelbarer Nähe zu den überfüllten Flüchtlingslagern zu errichten.
Im besetzten Jerusalem bringen die von Israel den arabischen Bürger_innen auferlegten strengen Baubeschränkungen einige Palästinenser_innen dazu, in die Gegend zwischen Jerusalem und Ramallah zu ziehen, wo weder israelisches noch palästinensisches Recht den planlosen Bau von Wohngebieten reguliert.
In den Städten und Dörfern der A- und B-Gebiete im Westjordanland – die etwa 40 Prozent desselben ausmachen und in denen etwa 2,8 Millionen Menschen, also 90 Prozent der palästinensischen Bevölkerung, leben – erleichtert das palästinensische Gesetz den Wohnungsbau. Diese Gebiete weisen eine eigenartige Mischung aus älterer palästinensischer Architektur aus der Zeit der jordanischen Herrschaft und relativ neuen Wohngebäuden auf. Zudem entstehen in jüngster Zeit immer mehr herrschaftliche Villen, die oft im Besitz von Expatriates sind und die meiste Zeit des Jahres vernagelt bleiben. In den verarmten Vororten und Flüchtlingslagern sind Bauaktivitäten normalerweise auf den Bedarf einer Familie für einen Extraraum oder ein zusätzliches Stockwerk begrenzt.
Im Jordangraben und der Gegend südlich von Hebron – Gegenden, die als C-Gebiete unter der Verwaltung und Rechtsprechung der israelischen Besatzungsmacht stehen – bieten temporäre Strukturen aus Zement und Zinkblech oder auch Zelte Schutz für mehr als 100.000 Palästinenser_innen.
Die High-Tech-City
Der neueste Trend im Wohnungsbau im Westjordanland sind große, von und für Palästinenser_innen geplante und erbaute Wohnraumprojekte. Sie tauchten zuerst nördlich des Bezirks Ramallah auf, da sich dort genug Land in A- und B-Gebieten befindet, sodass ohne direkte israelische Intervention gebaut werden kann. Zu diesen Projekten gehören der vom Palestine Investment Fund der PLO erbaute Vorort Rayhant, eine diplomatische Wohngegend für Mitarbeiter des öffentlichen Diensts und weitere, mit wohlklingenden Namen wie Reef ("Land") oder Al-Ghadeer ("der Bach") versehene Bauprojekte. Die Zielgruppe dieser durchgeplanten und abgesperrten Wohngebiete ist die Mittelklasse, die Preise der Wohnungen und Häuser schwanken zwischen 70.000 und 300.000 US Dollar.
Das wohl ambitionierteste und prunkvollste dieser Bauprojekte ist Rawabi ("die Hügel"): Etwa neun km nordwestlich von Ramallah entsteht auf einer Fläche von circa 630 Hektar (A-Gebiet) eine High-Tech-Stadt, die in Zukunft in mehr als 5000 Wohneinheiten 25.000 bis 40.000 Menschen beherbergen soll.
Hinter diesem größten privatwirtschaftlichen Projekt der palästinensischen Geschichte steht die katarisch-palästinensische Investment-Partnerschaft Bayti ("mein Haus"). Gründer und Geschäftsführer der Bayti Real Estate Investment Company ist der palästinensische Geschäftsmann und Multimillionär Bashar al-Masri, dessen Unternehmen Massar International gemeinsam mit der Qatar Diar Real Estate Investment Company Eigentümer von Bayti ist und den Großteil der ursprünglich auf 700 Millionen US Dollar geschätzten und inzwischen auf über eine Milliarde US Dollar angestiegenen Baukosten trägt. Zudem erhält das Projekt finanzielle Unterstützung von der Palestinian Authority (PA), die Rawabi als ein nationales Entwicklungsprojekt befunden hat.
Bereits in der Planungsphase wurde Rawabi zu einem kontrovers diskutierten Thema. (Anm.d.R.: Das Projekt wurde auf der Palestine Investment Conference 2008 initiiert, Baubeginn war Januar 2010.) So wird unter anderem kritisiert, das Stadtprojekt vertrete einen Lebensstil, der der palästinensischen Gesellschaft unbekannt sei und bedürfe des weiteren der technischen und kommerziellen Kooperation mit israelischen Firmen, wodurch wiederum die militärische Besatzung normalisiert werde. Einige Stimmen bemerken gar, Rawabis Wohnarchitektur ähnele auffällig der israelischer Siedlungen.
Rawabis Media Outlet hingegen betont die Vorzüge der geplanten Stadt: Grüne Energie, Smart Technology, 5000 neue Arbeitsplätze, Einkaufs- und Vergnügungsmöglichkeiten, Schulen, Gärten, ein Krankenhaus, christliche und muslimische Gebetsstätten sowie Industriezonen. Sie verbreitet Slogans wie „Das beste Apartment in der besten Nachbarschaft mit dem besten Blick“ und beauftragte gar den irakischen Sänger Ilham al-Madfai, einen Werbesong zu komponieren: „Rawabi, ich sehne mich nach meinem Heimatland.“
Aus dieser Perspektive erscheint der Bau der Stadt wie ein zukunftsweisendes und patriotisches Nationalprojekt. Die Kooperation mit Israel wird als politischer Fortschritt gewertet. So wurde beispielsweise die Entscheidung Israels, Rawabi für 18 Monate an das israelische Wasserversorgungsnetz anzuschließen, als Sieg im Kampf für das palästinensische Recht auf Wasser dargestellt. (Anm.d.R.: Dieser von Bashar al-Masri am 1. März 2015 verkündeten Zusage Israels gingen jahrelange Diskussionen voraus, welche nicht nur den Bau herauszögerten, sondern auch den Bezug bereits fertiggestellter Einheiten durch ihre Käufer verhinderten.)
Hindernissen und Verspätungen zum Trotz
Seit 2015 hat Bayti keine Informationen mehr über die Anzahl der verkauften Apartments oder demographische Details über die Käufer bekannt gegeben. Der aktuellste Bericht besagt, dass mehr als 600 Apartments fertig gestellt und verkauft worden seien und seit August 2015 teilweise von ihren Käufern bewohnt würden. Weiterhin geht daraus hervor, dass eine nicht geringe Zahl von Apartments bisher von israelischen Staatsbürger_innen palästinensischer Herkunft erstanden wurde und einige Palästinenser_innen aus der Westbank Wohnungen als Geldanlage kauften, ohne selbst dort einzuziehen.
Ein Besuch vor Ort zeigt, dass die öffentlichen Einrichtungen alles andere als fertig gestellt und nur wenige Wohngebäude beziehbar sind. Tatsächlich ähnelt die Stadt eher einer riesigen staubigen Baustelle als einer urbanen Wohnanlage.
Bashar al-Masri selbst hat in der letzten Zeit in mehreren Interviews zugegeben, dass das Projekt sich in einer finanziellen Krise befinde. Details nannte er nicht und so bleibt es unklar, ob diese Sorgen - wie man munkelt - auf finanzielle Streitigkeiten mit den katarischen Partnern zurückgehen, auf die chronische Bauverzögerung oder die geringe Nachfrage für derlei Wohnraum in einer durch wirtschaftliche Stagnation charakterisierten Atmosphäre.
Tatsächlich tragen wohl mehrere Faktoren zu der geringen Nachfrage nach Rawabis Apartments bei: Das Übermaß an vergleichbaren Wohnprojekten auf dem Markt, der öffentliche Vertrauensverlust in die rechtzeitige Fertigstellung des Projekts und die räumliche Entfernung der Stadt zu Ramallah. Darüber hinaus zögern viele Palästinenser_innen, sich von ihren Städten und Dörfern zu entfremden, nur um an einem gesellschaftlichen Experiment teilzunehmen, das voller Unsicherheiten steckt.
Dennoch: Die Fertigstellung von Rawabi scheint für al-Masri und alle anderen Involvierten nicht nur aus nationalistischer oder finanziell-investorischer Sicht von größter Bedeutung zu sein. Offizielle palästinensisch-israelische und regionale politische Abkommen stehen auf dem Spiel. Daher muss die Stadt vollendet werden – allen Hindernissen und Verspätungen zum Trotz. Ebenso wie die US-Regierung eingriff, um die Banken zu retten, so scheint dieses Projekt zu groß zu sein, um scheitern zu dürfen – selbst wenn Rawabi in der Zwischenzeit wie eine Geisterstadt erscheint.
Utopie - oder die Lösung?
Es gibt einen Vorschlag, der Rawabi vor einer finanziellen Krise retten, die Reputation der palästinensischen Führung steigern und einen bescheidenen Beitrag zur Lösung der größten humanitären Krise unserer Zeit leisten könnte.
Die Idee ist einfach: Präsident Mahmoud Abbas sollte seinen Vorschlag in die Tat umsetzen und palästinensische Flüchtlinge aufnehmen, die aus Syriens zerstörten Camps geflohen sind – ohne dabei jedoch deren legales Recht auf Rückkehr zu gefährden. Auch Israel müsste, notfalls unter diplomatischem und politischem Druck, einen Teil der Verantwortung in der Flüchtlingskrise übernehmen. Um die Rückkehrer_innen möglichst schnell begrüßen, ihnen Asyl, Arbeit und andere notwendige Leistungen bieten zu können, könnte die PLO Rawabis leerstehende Apartments mit der finanziellen Hilfe von Geberländern aufkaufen. Die Eigentumsurkunden würden an die Flüchtlinge übergehen, während die Stadt in den Industriezonen Arbeitsmöglichkeiten bieten und lokale Behörden die Administration übernehmen könnten.
Solch eine Zukunft jedoch spiegelt nicht das Modell wider, welches Bashar al-Masri und seinen Partnern vorschwebt. Jedoch würde die Umsetzung dieses Vorschlags Rawabi von einem undurchsichtigen, viel kritisierten Projekt zu einer patriotischen wie humanitären Entwicklungsleistung wandeln.
Raja Khalidi ist ein palästinensischer Entwicklungsökonom. Von 1985 bis 2013 arbeitete er für die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD). Zur Zeit ist er als unabhängiger Wissenschaftler in den palästinensischen Gebieten tätig.
Dieser Beitrag erschien auf Arabi as-Safir.
Aus dem Englischen von Laura Overmeyer
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