In Jaffa leben Muslime, Juden und Christen in Parallelgesellschaften nebeneinander her. Lässt klassischer Tanz sie aufeinander zugehen? Ein spannender Dokumentarfilm erzählt, wie ein Tanzweltmeister arabische und jüdische Schüler/innen dazu bringen möchte, miteinander zu tanzen – doch der Film scheitert am eigenen Anspruch.
Der Film „Dancing in Jaffa“ lässt uns teilhaben an einem großartigen Schulprojekt, für das es zahlreiche Nachahmer auf der ganzen Welt geben sollte. Pädagogen könnten meinen, dass der Tanzweltmeister die Schüler überfordert. Gerade dieser Ansatz ist jedoch spannend bei „Dancing in Jaffa“. So macht er deutlich, dass eine Persönlichkeit wie Pierre Dulaine nicht nur die Eltern einbezieht, sondern auch die Kinder aktiviert und motiviert, über sich hinauszuwachsen. Er zeigt, wie hilfreich für viele Kinder solche extern konzipierten und durchgeführten Projekte sind. Mit dem Gesellschaftstanz überwindet jede Schülerin und jeder Schüler erst die eigenen Grenzen und dann gesellschaftliche Gepflogenheiten.
Die Kamera begleitet die Kinder auf ihren Wegen. Ein arabischer Junge zum Beispiel lädt ein jüdisches Mädchen in sein Zuhause ein, eine heruntergekommene Bruchbude, und ermöglicht ihr so eine andere Perspektive. Auch bei seinem Besuch bei Verwandten in Gaza, unvorstellbar für jüdische Israelis, die Gaza nur als Hort des Terrors aus den Medien kennen, ist die Kamera dabei. Die Ursachen für die hohen Sicherheitsvorkehrungen und Mauern, wie der Raketenbeschuss, oder die Armut in Gaza werden aber ausgeblendet, der Film konzentriert sich stattdessen auf die Kinder. Diese lassen immer mal wieder einfache Sätze fallen, wie „zuerst müsst ihr gute Menschen sein“, die tiefer gehen als vermutet und die Botschaft von „Dancing in Jaffa“ erzählen.
Der Film endet mit einem Ruderboot. Erst rudert ein muslimischer Junge, dann ein jüdisches Mädchen, und schließlich rudern beide gemeinsam und gleiten durch das Meer vor dem Hafen von Jaffa. Beim Rudern auf dem Meer kommt es auf das gegenseitige Vertrauen an und darauf, im Takt zu bleiben –- wie beim Gesellschaftstanz.
Von Parallelgesellschaften zu Begegnungen
So entsteht eine spannende Dokumentation. Die Kamera fängt authentische Szenen und Aussagen von christlichen, jüdischen und muslimischen Kindern übereinander ein. Denn Christen, Juden und Muslime leben in Jaffa oft in parallelen Gesellschaften nebeneinander her – zwar nicht als Feinde, wie der Film suggeriert, aber eben auch nicht als Freunde.
Wo verschiedene Religionen und Kulturen auf engem Raum zusammenleben, gibt es Spannungen, Vorurteile, und meist wird mehr über- als miteinander gesprochen und gelebt. Jaffa bildet da keine Ausnahme, sondern die Regel, wenn wir an die Banlieues von Paris oder den Kontakt zwischen Flüchtlingen oder Asylsuchenden und Einheimischen in bayerischen Dörfern und auf der ganzen Welt denken.
„Dancing in Jaffa“ zeigt, wie persönliche und gesellschaftliche Grenzen überwunden werden. Pierre Dulaine, vierfacher Tanzweltmeister, ist ein berühmter Tanzlehrer mit eigenem Studio in New York und mit einer Vision: Klassischer Gesellschaftstanz lehrt die wirklich relevanten Lebensfertigkeiten. Im Paartanz mit Rumba, Tango, Foxtrott, Merengue, Swing etc. wird trainiert und erlebt, was es bedeutet, in wechselseitigem Vertrauen und Respekt zu führen und zu folgen.
Für Dulaine ist das Projekt auch eine Rückkehr zu den eigenen Wurzeln. Denn Jaffa ist der Geburtsort (1944) des Amerikaners mit irisch-arabischer Abstammung. Er kehrt zum ersten Mal nach der Flucht seiner Eltern 1948 an die Wiege seiner Kindheit zurück.
1994 gründete Pierre Dulaine in New York City Dancing Classrooms, ein zehnwöchiges Entwicklungsprogramm, das soziale Fähigkeiten mit zwei Tanzeinheiten pro Woche für die fünfte bis achte Jahrgangsstufe fördert. Gesellschaftstanz ist dabei eine Methode, um das Leben aller beteiligten Kinder, Lehrer und auch der Eltern ein klein wenig zu verändern. Gerade Kindern und Jugendlichen aus unterprivilegierten Schichten und benachteiligten Stadtvierteln können so eine neue Chance bekommen.
Kein Nahost-Film ist unpolitisch
So erzählt „Dancing in Jaffa“ die Geschichte eines amerikanischen Helden, der „Versöhnung“ will, und – wohl um den Spannungsbogen für das amerikanische Publikum zu erhöhen – mehr Feindschaft und Hass in eine Gesellschaft projiziert als tatsächlich vorhanden sind. Pierre Dulaine selbst versteht seinen Ansatz als apolitisch. Doch da irrt er sich, denn: Alles ist politisch.
Die Regisseurin des Films, Hilla Medalia, will ihrerseits die „Probleme, Geschichten (der in Israel lebenden Palästinenser) und (den) nicht endenden Kampf untereinander thematisieren.“ Ihrer Ansicht nach wächst „die Kluft zwischen den Palästinensern und Israelis unaufhörlich, und der politische Status quo lindert die extrem angespannte Situation nicht einmal annähernd.“
Das klingt gut, vermischt aber Themen und Begrifflichkeiten, die ihrerseits wieder Vorurteile schüren können. Wenn sie von der Kluft zwischen „den“ Palästinensern und „den“ Israelis spricht, meint die Presse oder Politik damit meist den Konflikt zwischen der israelischen Regierung auf der einen und der palästinensischen Autonomiebehörde der PLO/Fatah-Führung in Ramallah/Westbank und der Hamas-Herrschaft im Gazastreifen auf der anderen Seite. Die persönliche Identität jeden/r Israelis/n, von Hebräisch sprechenden Juden sowie Hebräisch und Arabisch sprechenden Muslimen, Christen oder Drusen ist eine andere Frage, die von weiteren Faktoren wie dem Geschlecht oder der sozialen Schicht geprägt werden. Identität wird kollektiv geprägt, doch individuell entwickelt. Es überfordert wohl jeden Film, dies so komplex darzustellen, wie es ist.
Um dem Film die Aura eines amerikanischen Wunderheilers einzuhauchen, behauptete denn auch die Produzentin Diane Nabatoff: „Pierre kam in eine Stadt, die voller Hass war, und in nur zehn Wochen vollbrachte er eine grundlegende Veränderung. In den Schulen bot er dem Hass Einhalt und änderte das Weltbild der Kinder.“ Solche Ansprüche zeigen, wie weit entfernt amerikanische Filmproduktionen von der Realität des Nahen Ostens sein können.
Als „Beweise“ für diese Behauptung zeigt der Film zwei Demonstrationen, eine jüdischer Rechtsextremisten und eine von muslimischen Aktivisten mit PLO-Fahnen. In diesem Zusammenhang fehlen ein paar Hinweise: Bei den jüdischen Rechtsextremisten, die in Jaffa demonstrieren, ist deutlich der damalige Knesset-Abgeordnete Michael Ben-Ari zu erkennen, der als Anhänger der als terroristisch eingestuften Kach-Partei seine potentiellen Wähler immer wieder mit rassistischen Kampagnen gegen Flüchtlinge oder Araber aufstachelt. Die konkrete Demonstration zielte, nach Ben-Aris Aussagen, darauf ab, die Bevölkerung zu erinnern, dass Jaffa Teil Israels ist, entgegen einer Kampagne der Islamischen Bewegung, einer in der Knesset vertretenen arabisch-muslimischen Partei Israels. Interessant ist auch, dass die rechten Demonstranten mit einem Bus kommen, was darauf schließen lässt, dass sich die in Jaffa lebende jüdische Bevölkerung nicht oder kaum an solchen Demonstrationen rechter Demagogen beteiligt.
Sind solche Details zu kompliziert für ein Filmprojekt, das „dem Hass Einhalt (bot) und das Weltbild der Kinder“ änderte? Der Rechtsextremist und seine Partei sind übrigens nicht besonders erfolgreich und schafften es wegen oder trotz des gepredigten Rassismus bei den Knesset-Wahlen 2013 nicht wieder ins israelische Parlament. Das zeigt, dass die von den Demonstranten vertretene Meinung eine ziemliche Minderheitenposition in Jaffa wie allgemein im jüdisch-israelischen Spektrum vertritt.
Identitäten können nicht auf Gesellschaften projiziert werden
Einen unpolitischen Film im oder über den Nahen Osten zu drehen ist unmöglich. Der Ansatz des Filmes und der Dancing Classrooms-Methode ist subversiv politisch, weil ein bildungs(-politischer) Anspruch vertreten wird. Demnach ist es für Kinder möglich, sich „einen unabhängigen Blick auf das Leben zu entwickeln“. Jedes Kind wächst in seiner eigenen Community auf und entwickelt langsam eine Identität, die von diesem Umfeld geprägt ist.
Diese Identitätsentwicklung sollte gerade ein Film, der zeigt, wie sich durch positive Begegnungen und gemeinsame grenzüberschreitende Erfahrungen Barrieren überwinden lassen, ernst nehmen und thematisieren. „Dancing in Jaffa“ stellt jedoch als kollektive Identitäten nur die israelisch-palästinensische der israelisch-jüdischen gegenüber. In Jaffa wie an vielen Orten mit multikultureller Gesellschaft ist dies allerdings eine Bevormundung durch auswärtige Gutmenschen, die den Kindern und dieser Stadt nicht gerecht wird.
Die Frage der Identität beantwortet jeder Einzelne unterschiedlich, was eine wechselhafte Auseinandersetzung darstellt. So ist der Wert von Kunst- und Kulturprojekten dann groß, wenn sie benachteiligten Kindern Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen geben, gerade um sich der eigenen Identität besser stellen zu können.
Es ist ein weltweites Phänomen, dass Vorurteile, Hass oder Unkenntnis herrschen zwischen Reichen und Armen, Menschen unterschiedlicher Hautfarben, Akademikern und Arbeitern, Einheimischen und Einwanderern, Katholiken und Muslimen, Protestanten und Juden, Bahais und Atheisten usw.
Aus pädagogischer Sicht ist „Dancing in Jaffa“ deshalb ein sehenswerter Film, der ein interessantes Projekt zeigt. Die modernen (Wettkampf-) Ruderboote sind so angelegt, dass man hintereinander sitzt und im Takt rudert. Gesellschaftstanz ist folglich eine viel größere Herausforderung mit entsprechender Kompetenzerweiterung. „Dancing in Jaffa“ erinnert an das Kribbeln im Bauch bei der ersten Tanzstunde vor vielen Jahren und motiviert junge Menschen zum Gesellschaftstanz.
Aber: „Dancing in Jaffa“ fördert leider nicht ein besseres Verständnis des Nahost-Konflikts. Die Aufmachung amerikanischer Hollywood-Filme entspricht oft einer schwarz-weißen konfliktreichen Darstellung mit einem heldenhaften Erlöser. So könnte die Auswahl der authentischen Konfliktbilder Vorurteile gerade verstärken. Das Gebot des Spannungsbogens des äußeren Konflikts macht es dabei schwierig, ausreichend Kontext zu vermitteln. Dieser wie andere Filme auch sind damit überfordert.
Die Realitäten im Nahen Osten wie an anderen Orten auch, wo verschiedene Kulturen und Religionen zusammenleben, sind meist voller verschieden starker und schwacher Schattierungen. Auch ohne den Nahost-Konflikt als Hintergrund wäre dieser Film also spannend und lehrreich in Bezug auf interkulturelle und interreligiöse Kommunikation und Begegnung. Jaffa kann dann als Synonym für viele Orte stehen, wo es genauso Vorurteile zwischen den Kulturen gibt.
Lehrer/innen, die den Film im Unterricht einsetzen wollen, finden entsprechendes Material bei filmernst.
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