Bei einem Spaziergang durch Neukölln am Nakba-Gedenktag wurde unser Autor mit Polizeipraktiken konfrontiert, die ihn zum Nachdenken anregen: über Rassismus, Demokratie und seine Erfahrungen in Ägypten. Ein Bericht über den Kampf um eine Kugel Eis.
Der 15. Mai 2022 war ein warmer, sonniger Sonntag. Es war kurz nach 16 Uhr, als ich mit meiner Freundin Nadine durch Neukölln lief, mein Viertel in Berlin. Wir schoben unsere Fahrräder und diskutierten, ob wir lieber an den See oder in die Hasenheide gehen sollten, einen nahe gelegenen Park. Der kürzeste Weg zum Park führt über den Hermannplatz, wo am selben Tag eine palästinensische Demonstration geplant war, um an die Nakba zu erinnern. Die Polizei in Berlin hatte jegliche Demonstrationen dazu verboten, was später auch das Berliner Verwaltungsgericht bestätigte. Der Platz war voller Polizei; ein für die Nachbarschaft gewohnter Anblick, da auf dem Hermannplatz fast jeden Sonntag Demonstrationen stattfinden.
Als ich vor Jahren diesem Polizeiaufgebot zum ersten Mal gegenüberstand, beängstigte es mich. Aus meinen Erfahrungen mit der ägyptischen Polizei hatte ich gelernt, dass Polizeipräsenz Gefahr bedeutet. Über die Jahre ließ meine Angst nach. Meine Konditionierung schien zu funktionieren, ich lief an diesem Sonntag auf den Platz und wollte durch die Polizei und die Demonstrierenden hindurch zum Park.
Nadine und ich hatten gerade die Straße zum Hermannplatz überquert, als sie ihre Freundin Bahia traf, eine Deutsche mit marokkanischen Wurzeln. Bei ihr waren noch zwei palästinensische Freunde. Unsere Unterhaltung wurde aber unterbrochen, bevor sie überhaupt begonnen hatte.
Erinnerungen an Demonstrationen in Ägypten
Plötzlich umringte uns die Polizei und wir fanden uns in einem blauen Kreis von Polizist:innen in voller Montur wieder. „Was machen Sie hier?“, fragte einer der Polizist:innen. Worauf ich auf Englisch antwortete: „I live around here“ (dt.: Ich wohne hier um die Ecke.) Majed, einer von Bahias palästinensischen Freunden, antwortete auf Deutsch: „Spazieren gehen“.
Diese Szene erinnerte mich an einen der ersten Proteste, an dem ich teilnahm, im Juni 2010, direkt vor dem Innenministerium in Kairo. Wir forderten auf dieser Demonstration, dass die Polizei für den Mord an Khaled Said, einem jungen Mann aus Alexandria, zur Rechenschaft gezogen würde. Ich erinnere mich deutlich, dass ich nicht wegrannte, als die Polizei auf uns zukam. Damals griff der diensthabende Offizier mit beiden Händen nach meinem Freund Scherif und wies seine Soldaten an, „diese Jungs wegzusperren“. Polizei umringte uns von allen Seiten, wir standen mit dem Rücken zur Wand. Die Polizei kesselte mehrere Gruppen ein, manche von ihnen so eng, dass sie nach Luft schnappten.
Trotz dieser Erinnerungen war mir klar, dass die Situation in Berlin zu keinem Zeitpunkt mit Ägypten vergleichbar war. Wir konnten atmen, außerdem waren die deutschen Polizist:innen mindestens anderthalb Mal so groß wie die armen ägyptischen Wehrdienstleistenden, die die Anweisungen hatten, uns zu verprügeln, zu verhaften und in den folgenden Jahren auch zu ermorden.
Angriff in Blau
„Ausweis!“ forderten die kräftigen Polizeibeamt:innen. Vor uns stand eine Wand aus blauen Uniformen. Jeder und jedem von uns waren zwei oder drei Beamt:innen zugeteilt. „Was ist das Problem?“ fragte ich in ruhigem Ton; ein Versuch zu verstehen, was wohl als nächstes passieren würde. Der Beamte erklärte: „Hier sollte eine Demonstration stattfinden, die dann verboten wurde. Wir stellen sicher, dass niemand versucht, illegal zu demonstrieren.“ Das war seine Nicht-Antwort auf meine Frage – egal wie oft ich ihn daran erinnerte, dass ich zufällig am Platz vorbeigekommen war und Auskunft verlangte, warum er meinen Ausweis sehen wollte.
Die Polizist:innen sagten uns, es läge nichts gegen uns vor, sie würden nur unsere Daten aufnehmen und dann könnten wir gehen. Also dachte ich, sie würden unsere Ausweise checken, sie zurückgeben und uns freilassen. Aber die Papiere blieben bei ihnen; sie sagten, wir sollten bleiben, wo wir sind.
Ich hielt immer noch mein Fahrrad, sprach mit der Polizei und wurde daran gehindert zu gehen. In der Zwischenzeit wurde Majed von einem großen, kräftigen Polizisten konfrontiert. Majed verlangte eine Erklärung für die Ausweiskontrolle und forderte sein Recht ein, sich, wie alle anderen, frei zu bewegen. Die Auseinandersetzung eskalierte soweit, dass der Polizist ihm sagte, es läge an seiner Kufiya, dem traditionellen palästinensischen Schal. Majed protestierte und wiederholte immer wieder, der Schal sei ja wohl nicht illegal. Irgendwann war der Polizist so gereizt, dass er sagte, doch, die Kufiya sei illegal. Verständlicherweise war Majed außer sich.
Und die Auseinandersetzung eskalierte weiter. Der Polizist wurde ungeduldig und griff Majed plötzlich an, er drehte ihm die Arme brutal auf den Rücken. Majed konnte es nicht glauben, er rief, er könne selbst gehen, aber der Polizist ließ ihn nicht los. Nadine, Bahia und eine weitere junge Frau aus unserer Gruppe protestierten gegen die Brutalität. Daraufhin griffen weitere Beamt:innen ein und schirmten die Gewalt ihres Kollegen mit ihren Körpern ab, sie schützten ihn vor jeder Störung. Majeds Tag endete im Krankenhaus, seine Schulter schien ernsthaft verletzt.
Minority Report
Nadine, deutsche Staatsbürgerin, protestierte gegen die willkürliche Ausweiskontrolle, unsere Festsetzung und dagegen, dass die Polizei sie nicht weitergehen ließ. Während ich diese Szene beobachtete, kam ich nicht umhin zu denken, dass sie mit ihrem dicken, dunklen, lockigen Haar nicht weiß genug ist. Weiße Passant:innen wurden nicht von Polizei umringt und festgehalten. War das eine interne oder sogar offizielle Entscheidung? Ich frage mich, was die genaue Anweisung an die Beamt:innen war. Etwa: Haltet alle fest, die arabisch aussehen?!
Ruhig, aber bestimmt hatte uns die Polizei ins Visier genommen. Es war ein bisschen wie im Film Minority Report. Dort kann die Polizei künftige Straftaten vorhersehen und verhaftet Personen, bevor diese die Straftaten überhaupt begehen können. In unserem Fall war es die präventive Verhaftung für den Fall, dass wir arabisch aussehenden Leute den Wunsch hegten zu demonstrieren. An diesem Punkt fing ich an, mich zu fragen: Ab wann ist eine Demo eine Demo? Wenn Slogans gerufen werden? Wenn man Schilder und Plakate dabei hat? Eine bestimmte Art der Kleidung trägt? Oder wenn man sich auf eine bestimmte Weise ausdrückt? Zu realisieren, dass unsere Gedanken und die Pigmente unserer Haut und Haare polizeilich überwacht wurden, ist befremdlich.
Es ist schon seltsam, dass wir uns damit abgefunden haben, dass Proteste von denselben Behörden genehmigt werden müssen, gegen die man protestiert. Das Verbot der Demonstrationen zum Nakba-Tag halten viele nach deutschen Standards für verfassungswidrig.
„So läuft es eben“
Meine Unterhaltung mit der Polizei war entspannter als Majeds und der anderen. Die Polizistin, die unsere Ausweise eingesammelt hatte, wies einen großen, gutmütigen Mann an, sicherzustellen, dass ich mich nicht aus dem Staub machte. Ich fragte ihn direkt: „Ist das hier racial profiling?“
„Natürlich nicht“, kam prompt die Antwort und ich war von der schnellen Reaktion überrascht. Wie kann er so sicher sein? Wo er doch nicht einmal die Entscheidungsgewalt hat, ob wir bleiben müssen oder gehen dürfen? Es gab auch keine Möglichkeit, die Entscheidung durch unsere Antworten oder Dokumente rückgängig zu machen. Ich fragte mich, wie das für ihn Sinn ergab.
Er war freundlich und hatte eine sanfte Art zu sprechen. Wären wir uns in einer Bar begegnet, hätten wir uns möglicherweise gut unterhalten. Trotzdem regte er sich auf, als ich ihm erklärte, dass der Umgang mit uns ungerecht sei und dass er mich an die Arbeitsweise der ägyptischen Polizei erinnere. Er sagte nur: „Aber so läuft es eben.“ Worauf ich antwortete: „Ja, natürlich. So muss es laufen: ihr habt die Waffen und ich kann nichts dagegen tun.“
Ich weiß nicht, ob sie realisieren, dass das der Kern ist – Gewalt und Waffen. In jeder Art von Eskalation wären sie überlegen, und zwar nicht aus moralischen Gründen, Gerechtigkeit oder Legalität, sondern aufgrund ihrer Waffen.
Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Regierung die Bevölkerung repräsentiert: Die Sicherheitskräfte, die vor Ort über unsere physische Sicherheit und Bewegungsfreiheit entscheiden, werden nicht gewählt. Sie sind ohne demokratische Legitimierung im Amt und bleiben meist straffrei. Auf der Straße gilt: Macht ist Recht.
Eine Kugel Eis
Die Polizei demonstrierte am 15. Mai 2022 ihre Macht durch die schiere Anzahl der Uniformierten, die den Platz überschwemmten. Neben der Stelle, an der sie uns festhielten, befand sich eine Eisdiele. Davor standen einige Stühle. Bevor wir festgenommen wurden, saßen dort einige Leute. Sie sahen nicht arabisch aus und die Beamt:innen ließen sie in Ruhe.
Während wir warteten, fragte ich die Polizist:innen immer wieder, ob ich gehen dürfe. Ich durfte nicht. Meine Zeit war nicht mehr meine. Ich fragte, ob ich sitzen dürfe, ich durfte. Später nahmen sie diese Erlaubnis zurück. Ich wollte die Grenzen der Situation ausloten, um das Gefühl des Gefangenseins etwas aufzulösen.
Ich fragte den netten Polizisten, ob ich mir ein Eis kaufen dürfe. Er sagte, das sei in Ordnung und schien fast schockiert, dass ich annahm, er könnte mir den Wunsch ausschlagen. Es beschäftigte mich, dass sie mir einige Dinge erlaubten und den Anschein erweckten, ich sei frei. Gleichzeitig schränkten sie aber meine Bewegungsfreiheit ein und hielten mich ohne Grund fest.
Ich stand in der Schlange vor der Eisdiele und fragte Nadine, ob sie auch ein Eis wolle. Als sie auf mich zuging, geriet sie in einen Streit mit ihrem Aufpasser. Er hatte etwas dagegen, dass sie zwei Schritte ging, ohne ihn vorher um Erlaubnis zu bitten. Anscheinend war ich ein guter Junge gewesen, respektvoll gegenüber meinem Meister, und so wurde ich nicht gemaßregelt, wenn ich mich bewegte.
Der Eisverkäufer war ein sehr angenehmer Mensch. Ich musste nur die Sorte wählen. Nadine kam dazu, nachdem sie mit ihrem Aufpasser verhandelt hatte, entschied sie sich für Mango. Sie wollte zwei Kugeln, aber der Polizist erlaubte ihr nur eine. Wie schrecklich, die zweite Kugel wurde verboten. Die absurde Verhandlung darüber, wie viel Eis wir kaufen durften, zeigt das tiefe Bedürfnis der Polizei, großzügig zu sein und gleichzeitig ihre Kontrolle über uns zu demonstrieren.
Meine Wahl fiel auf Tiramisu, doch es war ausverkauft. Das war an diesem Tag vielleicht der enttäuschendste Moment. Ich nahm stattdessen Karamell. In der Zwischenzeit bat der Besitzer der Eisdiele die Polizei, Abstand zu seinem Laden zu halten, weil ihre Präsenz ihm das Geschäft verdarb. Ich habe großen Respekt vor seiner Haltung und wie liebenswürdig er mir mein Eis reichte und mir mit einem Lächeln mein Rückgeld gab.
Nadine war gleichzeitig überrascht und dankbar, dass ich in einem so angespannten Moment entschied, Eis zu essen. Ich konzentrierte mich auf die Dinge, die ich tun durfte, so wie Gespräche führen, Fragen stellen, meine Sicht der Dinge erklären und sogar ein Eis kaufen, vielleicht sogar sitzen und es genießen, während wir warteten. Es stand immerhin nicht so viel auf dem Spiel wie in Ägypten, das tröstete mich.
„Platzverweis!“
Bevor wir uns aber setzen konnten, wurden wir endlich angewiesen, zum Mannschaftswagen zu gehen um dort unsere Daten zu „verifizieren“. Als ich die Straße überquerte, kam der Polizist auf mich zu, der kurz vorher Nadine angegangen war. Er dankte mir, dass ich in Gewahrsam ruhig geblieben war. Es mag eine gute Entscheidung gewesen sein, Eis zu holen. Schließlich ist ein williger Gefangener für den Aufpasser immer angenehmer.
Später erfuhren wir, dass die Ausweiskontrolle wegen einer Diskussion so lange dauerte: Die Polizist:innen waren sich uneinig, ob wir alle ein Bußgeld für die Teilnahme an einer verbotenen Demonstration bekommen, oder ob sie uns einfach gehen lassen sollten. Unsere Körper waren Geiseln einer Entscheidung, ohne dass wir etwas dagegen tun konnten, und ohne zu wissen, wann und ob sie uns freilassen würden.
Als wir zu den Polizeiwägen gebracht wurden, entdeckten wir Majed in einem der Wägen. Er rief: „Sie diskutieren darüber, welche erfundenen Straftaten sie mir vorwerfen sollen!“ Wir machten uns Sorgen um ihn.
Nach mehr als einer Stunde bekamen wir unsere Ausweise zurück und einen Platzverweis. Ich fragte meinen Aufpasser, was als nächstes passieren würde. Er meinte, ich bekäme wahrscheinlich einen Brief mit einem Bußgeldbescheid. Ich solle mir aber keine Sorgen machen und könne Einspruch einlegen, da ich um die Ecke wohne. Mir kam die Frage, warum sie den Aufwand betreiben, wenn sie anscheinend schon wissen, dass ich kein Bußgeld zu zahlen habe. Nadine wurde gesagt, es käme nichts mehr auf sie zu.
Entgegen diesen Versprechungen bekamen wir sechs Wochen später Post. Im Schreiben hieß es, wir hätten an einer illegalen Versammlung teilgenommen. Nadines Anhörungsschreiben stellte fest, sie sei um 16.36 Uhr am Hermannplatz eingetroffen, bei mir stand 16.10 Uhr. Das deutet darauf hin, dass die Vorwürfe eine rassistische und politische Entscheidung sind. Sie scheinen abgekoppelt zu sein von den Aussagen der Beamt:innen, die mit uns vor Ort zu tun hatten und ausgeführt von maßlosen, nicht rechenschaftspflichtigen Bürokrat:innen, die ihre Arbeit nur mechanisch erledigen. Wir wissen nicht, in welchen Punkten sie noch von der Realität unserer Geschichte abweichen werden.
Eine obligatorische Schlussfolgerung
In Ägypten war ich auf vielen Demonstrationen; ich habe freiwillig an Veranstaltungen teilgenommen, bei denen mein Leben in Gefahr war. Dieses hier aber war ein Vorfall, bei dem ich nichts getan habe und mir nicht einmal bewusst war, dass etwas passieren könnte.
Diese Geschichte sollte die Gesellschaft in Deutschland wachrütteln. Mehr als eine Stunde meines Lebens wurde mir von der Polizei gestohlen, weil ich im öffentlichen Raum unterwegs war und nicht weiß bin. Während ignoriert wird, was tatsächlich geschehen ist, verschwendet der Staat lieber Energie und Steuergelder, um uns strafrechtlich zu verfolgen.
Auch wenn einige der Beamt:innen liebenswert waren: Sie wurden dazu gebracht, rassistische Entscheidungen umzusetzen und machten sich so zu Kompliz:innen – auch wenn sie selbst keine rassistischen Überzeugungen haben.
Ich war überrascht zu erkennen, dass Polizist:innen in Deutschland selten zur Rechenschaft gezogen werden und dass ihre Aussagen mehr Gewicht haben, als die von normalen Bürger:innen. Wie in vielen anderen Ländern werden ihre Kolleg:innen zu ihrem Vorteil aussagen und notfalls für sie lügen. Das sind beunruhigende Anzeichen eines autoritären Staates. Aufgrund meiner langjährigen Erfahrung erkenne ich diese Warnsignale nur zu gut.
Trotz der aufkommenden Bitterkeit hat dieses Ereignis zum Glück keinen schlechten Geschmack in meinem Mund hinterlassen. Wenn ich zurückblicke, werde ich immer den Geschmack von Karamell-Cookie-Eis auf der Zunge haben. Mit freundlicher Genehmigung der deutschen Polizei.