17.04.2024
Berlin hat sein Versprechen gebrochen
Deutsche Medien berichten oft unfair über pro-palästinensische Proteste, findet unser Autor. Foto: Wael Eskander
Deutsche Medien berichten oft unfair über pro-palästinensische Proteste, findet unser Autor. Foto: Wael Eskander

Berlin zog mit dem Versprechen von Freiheit und Rechten Aktivist:innen aus WANA an. Unser Autor fühlt sich jetzt an seine Heimat Ägypten erinnert. Ein persönlicher Bericht, wie es ist, in diesen Tagen in Berlin für Gaza auf die Straßen zu gehen.

Read this article in English: Berlin has broken its promise

Ich konnte das erste Mal Ende Oktober 2023 an einer der Berliner Demonstrationen gegen den Völkermord in Gaza teilnehmen. Bis dahin befand ich mich außerhalb der Stadt, hatte aber bereits im Vorfeld Videos gesehen, in denen die deutsche Polizei Minderjährige angriff und verhaftete. Einer meiner Freunde wurde ohne ersichtlichen Grund von der Polizei zu Boden gerissen. Vielleicht hatte er darauf bestanden, dass Protestieren ein Recht sei —  etwas, woran die Berliner Polizei nicht mehr zu glauben schien.

Als ich mich an jenem Samstag, dem 21. Oktober, auf den Weg zum Oranienplatz machte, um an der von Global South United organisierten Demonstration teilzunehmen, bereitete ich mich darauf vor, dass ich mich womöglich nicht mehr auf meine Grundrechte und -freiheiten als Berliner Bürger:in verlassen können würde. Als wir an einem Treffpunkt an der Ecke Adalbertstraße/Oranienstraße auf einen Freund warteten, sahen wir eine spanischsprachige Gruppe, die sich ebenfalls auf den Protest vorbereitete. Sie schrieben die Nummer eines Anwalts auf ihre Arme, der sie im Falle einer Verhaftung vertreten würde, so wie es einige der Organisator:innen empfohlen hatten. Wir baten darum, ihren Marker ausleihen zu dürfen und taten es ihnen nach.

Es war beängstigend für mich, zum ersten Mal seit dem 7. Oktober an einer Demonstration in Berlin teilzunehmen. Dieses Gefühl der Angst war mir dagegen nur allzu vertraut. Ähnlich hatte ich mich im Vorfeld einiger der Proteste 2011 in Ägypten gefühlt. Wieder einmal hatte ich das Gefühl, dass es unerlässlich war, sich den Protesten anzuschließen. Für mich und viele andere war es offensichtlich: Wir brauchten kein Urteil des Internationalen Gerichtshofs (IGH), um zu erkennen, dass vor unseren Augen ein Genozid wie aus dem Lehrbuch stattfand.

From the river to the sea, we demand equality

An diesem Protest am 21. Oktober, nach dunklen Tagen brutaler Repression, beteiligte sich eine große Zahl an Menschen. Darunter viele weiße Gesichter, die nach Möglichkeit die nicht-weißen Menschen schützten. Wir fanden Trost ineinander, wir waren nicht wenige und wir waren nicht isoliert. Wir spürten, dass viele noch ihre Menschlichkeit besaßen, und bereit waren auf die Straße zu gehen und ihrer Ablehnung Ausdruck zu verleihen – des Völkermords und Deutschlands beharrlicher Unterstützung dessen, während die Bundesregierung dessen bloße Möglichkeit leugnete.

Während dieser Demonstration kündigte die deutsche Polizei an, den Sprechchor „From the river to the sea, Palestine will be free“ (Vom Fluss bis zum Meer wird Palästina frei sein) zu unterbinden. Für mich schien es völlig unverständlich, dass ein tatsächliches Massenschlachten unschuldiger Zivilist:innen toleriert und mit deutschen Waffen durchgeführt wird, während das bloße Rufen nach Freiheit als genozidal gelten soll.

Im Nachgang der Demonstration schlug ich vor, dass wir stattdessen beim nächsten Mal „From the river to the sea, we demand equality” (Vom Fluss bis zum Meer, fordern wir Gleichberechtigung) skandieren könnten. Mit dem geänderten Slogan wollten wir klarstellen, dass es sich nicht um einen Aufruf zur Tötung anderer handelt, sondern um einen Aufruf zur Befreiung der Palästinenser:innen durch gleiche Rechte. Eine Demonstrantin, die ein Schild mit dem geänderten Slogan trug, wurde bei einer anschließenden Demonstration am 4. November 2023 verhaftet. Diese Absurdität erschütterte uns zuerst. Inzwischen sind wir sie von den deutschen Institutionen gewohnt.

Unsere Ängste finden keinen Raum

Die oft fehlerhafte Berichterstattung und das miserable Niveau vieler Redaktionen, wenn es um Palästina geht, haben mich und viele andere schwer enttäuscht. Es fühlt sich so an, als berichteten viele deutschen Medien in einer stark vereinfachten Weise: Die Proteste seien antisemitisch und diejenigen, die gegen den Völkermord protestieren, würden Terrorismus verherrlichen. Egal wie viel Angst ein pro-palästinensischer Mensch hat, seine Ängste schaffen es nicht in den allgemeinen Diskurs. Gefühlt wird ständig darüber berichtet, dass jüdische Menschen ängstlicher werden, obwohl auch viele jüdische Protestierende mit Schildern zu uns kamen, auf denen sie ihre Ablehnung des Völkermords verdeutlichten und darum baten, nicht in ihrem Namen zu töten.

Ein Schild bei einem Protest in Berlin. Foto: Wael EskanderDennoch wirkt es so, als würden viele Medien und die Bundesregierung lieber eine:n Juden:Jüdin des Antisemitismus beschuldigen, als zu akzeptieren, dass ihre eigene Unterstützung des Völkermordes nichts mit der Bekämpfung von Antisemitismus zu tun hat. Bekanntermaßen pflegt der Axel-Springer-Konzern eine historische Nähe zu Israel, die Eingang in das Verlagsstatut gefunden hat. Insbesondere Bild, B.Z. und Welt, die zu Springer gehören, haben meiner Ansicht nach nicht fair über die Proteste berichtet, sie als „Juden-Hasser“ verunglimpft. Dass Springer gerade mit Bild sonst oft rechte Themen aufgreift und verstärkt, lässt Zweifel an ihrem vermeintlichem Kampf gegen Antisemitismus aufkommen. Aus meiner Sicht scheint die deutsche Öffentlichkeit manipuliert zu werden. Zugleich trägt deren Angst vor dem Abgleiten in den Antisemitismus dazu bei, Antisemitismus nicht angemessen zu bekämpfen.

Universitäten sind plötzlich keine Orte offener Debatten mehr

Dass viele pro-palästinensische oder Anti-Völkermord-Veranstaltungen als antisemitische Vorfälle registriert werden, zeichnet ein verzerrtes Bild der Situation in Deutschland. Nach Angaben der Monitoring-Gruppe RIAS steht ein Fünftel des neu registrierten Anstiegs antisemitischer Vorfälle im Zusammenhang mit „antiisraelischem Aktivismus“. Allerdings werden 84 Prozent der antisemitischen Straftaten von rechts begangen.

Unsere Ängste, unsere Verletzungen, unsere Meinungen haben wenig Gewicht — nicht nur in den deutschen Medien. Auch an Bildungseinrichtungen finden wir keinen Raum dafür. Bei einem Treffen, an dem ich zusammen mit Studierenden deutscher Universitäten teilnahm, waren die Berichte der Studierenden durchweg einheitlich: Die deutsche Wissenschaft scheint sich abzuschotten — selbst an jenen Orten, die sich traditionell als Hüter von Wissen und offenen Debatten verstehen.

Reine Lippenbekenntnisse? Die Berliner Polizei durfte den Campus der Freien Universität Berlin betreten, um eine Hörsaalbesetzung pro-palästinensischer Studierender, die sich mit dem heiklen Thema auseinandersetzten, zu räumen. Noch schlimmer erscheinen mir jedoch die Vorwürfe von Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP), dass es sich bei der Aktion an der Freien Universität um „Israel-Hass“ und „Hamas Propaganda“ handele. Als Grundlage nahm sie einen Tweet des Bild-Reporters Iman Sefati.

Kampf gegen deutsche Repression — Erinnerungen an Ägypten

Die Proteste in Deutschland erinnern mich an die weniger extremen Tage des autoritären Ägyptens. Es ist erschreckend, aber was ich zum Teil in deutschen Medien lese, klingt für mich nach Propaganda. Die habe ich während meiner Berichterstattung über die ägyptische Revolution schnell zu erkennen gelernt. Für mich ist dabei die größte Propagandabotschaft, die der Öffentlichkeit vermittelt wird, dass die freie Meinungsäußerung in Deutschland geschützt ist, während doch die Mehrheit der pro-palästinensischen Stimmen zensiert, zum Schweigen gebracht und diffamiert wird, wie die Instagram-Seite „Archive of Silence“ dokumentiert.

Häufig beteiligen sich jüdische Menschen an den Protesten für einen Waffenstillstand. Foto: Wael EskanderObwohl wir eine systematische Auslöschung von Stimmen, die sich gegen den Völkermord aussprechen, wahrnehmen, protestieren wir weiter. Diejenigen, die hinsehen, was in Gaza passiert, die den Genozid sehen, können die Bilder nicht mehr loswerden. Während das Töten weitergeht, gibt es zahlreiche Beweise dafür, dass das Geld der deutschen Steuerzahler:innen dazu verwendet wird, die Beweise zu begraben, indem sie unsere Stimmen zum Schweigen bringen. Als Steuerzahler:innen finanzieren wir die Auslöschung unserer eigenen Stimmen.

Berlin hat sein Versprechen progressiver Werte gebrochen

Ich bin, um ehrlich zu sein, enttäuscht. Von der verhaltenen Reaktion der deutschen Gesellschaft auf die Einschränkung der Freiheitsrechte. Von der Qualität der Berichterstattung über Palästina. Von der deutschen Unterstützung der israelischen Gräueltaten durch Waffenverkäufe, Rhetorik und institutionelle Unterdrückung von Protest. Von der Zensur im deutschen Kultur- und Wissenschaftsbetrieb, die zuletzt auch die US-Anthropologin Nancy Fraser traf.

Was mich jedoch am härtesten trifft, ist, dass ich all dies nicht in Kairo oder Moskau erlebe, sondern in Berlin. Diese Stadt hat ihr Versprechen von Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit verraten. Berlin ist eine Stadt, die viele Menschen aus der ganzen Welt mit progressiven Werten gelockt hat. Jetzt fühle ich mich in einem Netz aus Rassismus, Bigotterie und Diffamierung gefangen.

Trotzdem: In Berlin sind noch Kämpfe möglich

Gegen einen Völkermord in Deutschland zu protestieren, bedeutet insbesondere für People of Color wie mich den potenziellen Verlust von Status und Lebensunterhalt. Protestieren bedeutet, sich mit möglichen Verleumdungen auseinanderzusetzen. Nichtsdestotrotz, finde ich hier noch eine Möglichkeit zu kämpfen, die in Kairo, meiner anderen Heimatstadt, nicht mehr existiert.

In Berlin kann ich die in der deutschen Gesellschaft tief verwurzelte Mythen bekämpfen, etwa dass Palästinenser:innen Terrorist:innen sind, während Israel unfehlbar scheint. Hier kann ich gegen die Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus ankämpfen. Ich kann den Mythos bekämpfen, dass Grundrechte wie Meinungsfreiheit und eine faire Justiz garantiert sind. Ich kann gegen die Verunglimpfung von Stimmen kämpfen, die sich gegen Völkermord aussprechen. Ich kann für den Schutz meiner Moral, meines Rechtsempfindens und meiner Seele kämpfen.

Schließlich habe ich Hoffnung, und wir geben nicht auf. Die unzähligen studentischen Aktionen, die sich gegen die akademische Zensur wehren. Die unermüdlichen Proteste gegen brutale Polizeikräfte und gegen eine Politik des Wegschauens. Unabhängige Medien, die ein faires Bild der Lage in Deutschland und in Palästina zeigen. All das gibt mir Hoffnung.

Gerade habe ich das Gefühl, dass wir denen, die den Völkermord leugnen und unterstützen, weiter die Stirn bieten müssen. Wir müssen diejenigen mobilisieren, die aus einem Gefühl der Menschlichkeit heraus den Krieg in Gaza mit Schrecken beobachten und nicht mitschuldig sein wollen. Wir müssen kämpfen, um das Töten von Unschuldigen zu stoppen. Viele, auch ich, haben das Gefühl, dass wir für die Menschen in Gaza eintreten müssen, damit wir später überhaupt noch in den Spiegel schauen können. Damit wir eines Tages unseren Kindern sagen können: „Wir waren nicht mitschuldig am Völkermord, wir haben gekämpft bis uns die Puste ausgegangen ist. Wir kämpften und kämpften für unsere und eure Seelen.“

 

 

Wael ist ägyptischer Autor und Fotograf. Er hat umfassend über die Politik der ägyptischen Revolution geschrieben und seine Texte unter anderem bei ZEIT Online, Jadaliyya, Ahram Online und The Independent veröffentlicht. Außerdem schreibt er über das Verhältnis zwischen Deutschland und der pälastinensischen Sache. Seine Texte sind auf seinem Blog...
Redigiert von dis:orient
Übersetzt von Hannah Jagemast