24.11.2025
Gaza auf dem Handy: Zeugnisse eines Genozids
Ausschnitt des Covers der englischen Printauflage. Mazen Kerbaj: Gaza in my phone, OR Books, New York/London 2025.
Ausschnitt des Covers der englischen Printauflage. Mazen Kerbaj: Gaza in my phone, OR Books, New York/London 2025.

Zwei Jahre lang teilte der Künstler Mazen Kerbaj seine Zeichnungen unter dem Titel „Gaza in my phone“ auf Instagram. Nun ist daraus ein Comic entstanden, der die tägliche Gewalt im Gazastreifen nach über zwei Jahren Krieg darstellt.

[Contentwarnung: Dieser Artikel enthält explizite Beschreibungen von Gewalt und Tod.] 

Dies ist ein Beitrag unserer Reihe Re:zension. Hier stellen wir regelmäßig Bücher, Filme und andere Medien vor. Wenn Ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

Wir alle sind Zeug:innen eines Genozids. Wir alle konnten zwei Jahre lang detailliert verfolgen, was im Gazastreifen passiert. Wir alle haben mitbekommen, wie es den Menschen vor Ort geht – all das durch unsere Handys. Auch Mazen Kerbaj ist Zeuge des Völkermords. So wie wir, erlebte er alles über sein Handy mit. In seinem neuen Comicband zeichnet er genau das nach: die Bomben, den Tod, den Hunger, das Überleben, den Schutt, die Hinrichtungen, die Panzer, die Waffen, die Kranken, die Opfer.

Mazen Kerbaj lebt seit 10 Jahren in Berlin, kommt ursprünglich aber aus dem Libanon. Er ist Comic-Zeichner und Musiker. „Gaza in my phone“ erschien in diesem Jahr noch vor dem Waffenstillstand zwischen der Hamas und Israel. Die Relevanz des Buchs bleibt unverändert – besonders angesichts der kontinuierlichen Brüche der fragilen Feuerpause und Israels andauernden Angriffen auf den Gazastreifen.

„Gaza in my phone“ sind Zeichnungen dessen, was Mazen Kerbaj auf seinem Handy gesehen hat. Unter ihnen sind auch politische Statements, in denen er auf zynische Weise die von ihm so genannte „freie Welt“ kritisiert. Besonders die deutsche Doppelmoral gerät hierbei ins Visier.

Ausschnitt aus „Gaza in my phone“ von Mazen Kerbaj: Schwarze Schrift auf weißem Hintergrund. Fett geschrieben ist: "Stand on the RIGHT SIDE of HISTORY in two easy steps". Darunter ist ein Strich, der das Bild teilt. Darunter steht: "(1) Check on which side Germany is standing. (2) Stand on the opposite side".

Marzen Kerbaj fängt Nachrichten ein, die weltweit geteilt worden sind: das Öffnen des Grenzübergangs bei Rafah, um Palästinenser:innen ausreisen zu lassen, die einen zweiten Pass besitzen. Die ersten zehntausend Toten, die unzähligen nachfolgenden Toten, immer in zehntausender Schritten. Das gezielte Ermorden von Journalist:innen durch die israelische Armee. Das Töten der 6-Jährigen Hind Rajab

Ausschnitt aus „Gaza in my phone“ von Mazen Kerbaj: Schwarz-weiße Zeichnung. Oben steht „Breaking news“ . Darunter ein gezeichneter Reisepass mit der Aufschrift „Free world passport“ . Darunter steht der Text: „The Rafah border with Egypt is now open to evacuate some wounded people and the foreigners stuck in Gaza. Understand: clear the ground for Israel to continue the slaughter of exclusively ‘pure’ Palestinians.“ (alles  in Großbuchstaben).

„Gaza in my phone“ ist nicht nur ein Comic. Es ist ein Aufruf laut zu werden, ein Aufruf, um endlich gehört zu werden. Es ist ein Appell daran, weiterhin auf den Genozid aufmerksam zu machen. Denn die Bilder und Videos auf dem Handy scheinen bei den Mächtigen der sogenannten „freien Welt“ nicht anzukommen. Oder verschließen sie einfach die Augen vor diesen Bildern und Videos, wie dem eines Vaters, der in den Trümmern nur eine Hälfte seines toten Sohnes wiederfindet?

Ausschnitt aus „Gaza in my phone“ von Mazen Kerbaj: Schwarz-weiße Zeichnung mit einer großen, zentralen „1/2“. Darunter steht der Text: „This is exactly what a father found of his son – the upper half to be precise. He was holding a legless and dusty body and screaming to the sky. How do you live after that?“ (in Großbuchstaben.)

„Gaza in my phone“ ist auch ein Tagebuch. Eine Aufzeichnung dessen, was wir alle in den letzten zwei Jahren gesehen haben. Einige Zeichnungen von Mazen Kerbaj sind Klebezettel oder To-Do-Listen; Erinnerungen an das, was er gesehen hat und was er noch zeichnen möchte. Aber der Völkermord wartet nicht. Jeden Tag neue Bilder, neue Videos von Kindern, die Zeug:innen der Hinrichtung ihrer Eltern geworden sind. Von Eltern, die direkt nach der Geburt ihres Kindes dessen Todesurkunde überreicht bekommen haben. Von Familien, die ausgehungert ihr zerstörtes Dorf verlassen und in Richtung Süden fliehen mussten. Von israelischen Soldaten, die gezielt auf die Menschenmengen, die an der Essensausgabe warten, schießen. Von Bomben, die alles zerstört haben. Es geht weiter, es hört nicht auf. Auch heute noch sind die Bilder aus dem Gazastreifen erschreckend.

Ende des Buches, Tränen laufen übers Gesicht, eine Erinnerung an uns alle:

Ausschnitt aus „Gaza in my phone“ von Mazen Kerbaj: Schwarz-weiße Zeichnung. Oben steht „History 101“ (im Original in Großbuchstaben). Darunter der Satz „When in doubt, remember that:“. Auf der Tafel steht: „The oppressor is always wrong.“ (nur „always“ in Großbuchstaben.)

Mazen Kerbaj: Gaza in my phone, OR Books, New York/London 2025, US $20/£15.

 

 

 

Claire studierte in Berlin, Paris, Montréal und Tel Aviv Sozialwissenschaften mit einem Schwerpunkt in Rechtswissenschaften. Sie recherchierte und arbeitete viel zu Grundrechten in Demokratien und dem israelisch-palästinensischen Konflikt. 
Redigiert von Martje Abelmann, Lotta Stokke und Alexander Waiblinger