02.10.2024
Polizeigewalt in Deutschland: Einzelfälle mit System
Demonstrant:innen fordern an der Katharinatreppe in Dortmund Gerechtigkeit für den 2022 von einem Polizisten erschossenen Senegalesen Mouhamed Dramé. Foto: C. Suthorn (CC BY-SA 4.0, Wikimedia)
Demonstrant:innen fordern an der Katharinatreppe in Dortmund Gerechtigkeit für den 2022 von einem Polizisten erschossenen Senegalesen Mouhamed Dramé. Foto: C. Suthorn (CC BY-SA 4.0, Wikimedia)

Der Journalist und Autor Mohamed Amjahid recherchiert seit über zehn Jahren zu Polizeigewalt in Deutschland. In seinem neuen Buch blickt er tief in die Strukturen der Institution hinein und wirft die Frage auf: Hat Deutschland ein Polizeiproblem?

In Dortmund wurde im August 2022 ein 16-jähriger Senegalese von der Polizei erschossen, während des rassistischen Anschlags in Hanau im Februar 2019 waren SEK-Beamt:innen aus Frankfurt im Einsatz, die nachweislich in rechtsextremen Chat-Gruppen aktiv waren. Videos vom Juli 2024 dokumentieren, wie ein Berliner Polizist bei einer pro-palästinensischen Demonstration auf eine Frau einprügelt.

„Alles nur Einzelfälle?“, fragt der 36-jährige Journalist und Autor Mohamed Amjahid auf dem Titel seines neuen Buchs, das Ende September erschienen ist. Wobei die Frage wohl eher rhetorisch zu verstehen ist: Der Untertitel „Das System hinter der Polizeigewalt“ macht sofort klar, worüber der Autor wirklich sprechen möchte: strukturelle Probleme innerhalb des deutschen Sicherheitsapparates. 

In seinem neuen Buch "Alles nur Einzelfälle?" deckt Mohamed Amjahid auf, wie tief das Polizeiproblem in Deutschlands Sicherheitsarchitektur verwurzelt ist. Foto: Piper Verlag

 

 

Amjahid, selbst Sohn sogenannter Gastarbeiter:innen, zeigt anhand repräsentativer Studien, langjähriger investigativer Recherchen und persönlicher Erfahrungen auf, wie tief verwurzelt das Polizeiproblem in Deutschland demnach ist. Seit 1976 hat die Polizei in Deutschland rund 500 Menschen erschossen. Dabei sind andere Todesursachen in Verknüpfung mit Polizeigewalt gar nicht mitgezählt. Weniger als ein Prozent der Fälle von Polizeigewalt enden mit einer Verurteilung.

„Ohne die Polizei hätte es das nationalsozialistische Terrorregime und seine Verbrechen nicht gegeben“

Um das System hinter der Gewalt zu verstehen, steigt Amjahid zu Beginn tiefer in die Geschichte der deutschen Polizei ein. Diese sei komplex, zeige aber auch ein klares Muster: In ihren Anfängen diente sie dem Schutz der Reichen, über die Jahre entwickelte sie sich zu einer staatlichen Institution, die unter anderem eine entscheidende Rolle im Nationalsozialismus spielte: „Das Naziregime war vor allem durch eine brutale, repressive, straff organisierte Polizeiapparatur geprägt“, schreibt Amjahid. Ganz konkret wurde nach der Machtübernahme der Nationalsozialistischen Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) die Polizei zentralisiert und unter der Führung von Heinrich Himmler in der „Reichsführung-SS“ zusammengeführt. „Die Polizei teilte Informationen mit der Geheimen Staatspolizei (Gestapo), unterstützte sie bei Verhaftungen und half bei der Identifizierung von sogenannten ‚Unerwünschten‘“, heißt es weiter. 

Auch Polizeibeamte stürmten in die Häuser und suchten nach jüdischen Menschen, nahmen Sinti:zze und Romn:ja fest oder spionierten queeren Menschen hinterher. Amjahid ist sich sicher: „Ohne die Polizei hätte es das nationalsozialistische Terrorregime und seine Verbrechen nicht gegeben, sie war direkt in die Umsetzung des Holocaust involviert“. Diese These belegt er historisch präzise. 

Die Polizei übt sich in Stillschweigen

Dem Autor ist an Faktentreue gelegen, wobei er transparent macht, dass es bei der Recherche zu seinem Buch große Hürden gab. „Polizeibeamt:innen und ihre Vorgesetzten sprechen nicht gerne über ihre Arbeit und Macht mit Außenstehenden“, schreibt Amjahid. Erst recht nicht, wenn diese einen kritischen Blick auf die Institution Polizei werfen. Es gelang ihm dennoch mit ehemaligen Polizist:innen und Polizeischüler:innen zu sprechen, die von rechten Tendenzen innerhalb der Polizei bereits während der Ausbildung berichteten.

Simon Neumayer aus Leipzig ist einer dieser Auzubildenden. Im Gespräch mit dem Autor erklärt er: „Wenn wir beim Mittagessen saßen, sprachen viele sehr positiv über die AfD. Als ich sagte, dass die AfD eine rechtsextreme Partei ist, kam direkt Widerstand“. Braun sei besser als grün, hieß es demnach vonseiten seiner Mitschüler:innen. Neumayer berichtet von Dozent:innen an der Polizeiakademie, die das N-Wort gebrauchten und von Polizeikolleg:innen, die NPD-Parteifeste besuchten. 

„Exzessive Polizeigewalt ohne erkennbare Notwehr-Komponente ist nie zu rechtfertigen“

Beim Lesen stellt sich immer wieder die Frage: Warum dürfen deutsche Beamt:innen, von Berufswegen ausgestattet mit Waffen und einer ordentlichen Machtfülle, so ungeniert mit Rechtsextrem:istinnen sympathisieren? Schaut der deutsche Staat hier verantwortungsbewusst genug hin?

Amjahid geht auch auf Rechtfertigungsversuche seitens Polizei und Öffentlichkeit ein. Wenn die Polizei Gewalt anwende, sei es ein gängiger Mechanismus, dass zunächst die Betroffenen selbst angezweifelt würden: Was hat die Person denn getan, um von der Polizei so grob behandelt zu werden? Konkret greift der 36-Jährige einen Vorfall aus Pforzheim im Jahr 2021 auf, bei dem Polizist:innen auf einen am Boden liegenden Mann einschlugen. In den sozialen Medien hätten viele Menschen versucht, diese Gewalt zu rechtfertigen. Für Amjahid ist das kein Argument: „Mit Blick auf Polizeigewalt ist wichtig festzustellen: Es ist beim Einsatz exzessiver Polizeigewalt ohne erkennbare Notwehr-Komponente eigentlich nie als Rechtfertigung zu verstehen, was der schon am Boden fixierte Mann getan oder nicht getan haben soll“.  

Seine weitreichende Analyse sowie die Interviews mit Expert:innen, Betroffenen und (ehemaligen) Polizist:innen veranlassen Amjahid zu der Annahme, dass Polizeigewalt zwei Komponenten hat. „Rechtsextremes Gedankengut und das Schweigekartell“, wie er selbst es nennt. Immer wieder lasse sich beobachten, dass Polizei-Skandale, die an die Öffentlichkeit gelangen, vorher von unzähligen Beamt:innen stillschweigend hingenommen wurden. So weit muss es laut Amjahid nicht kommen: Wenn die Gesellschaft wachsam bleibt, hinschaut und solidarisch handelt. 

Mohamed Amjahid: Alles nur Einzelfälle? Das System hinter der Polizeigewalt. Piper Verlag, München 2024. 352 Seiten, 18 Euro. 

 

 

 

 

 

Yasemin hat Amerikanistik und Ethnologie an der Goethe Universität in Frankfurt studiert. Sie arbeitet als freie Journalistin für das Jugendportal des deutschen Bundestags und absolviert aktuell ein Volontariat bei der Rheinischen Post. Sie beschäftigt sich vor allem mit Migration und Perspektiven in der postmigrantischen Gesellschaft.
Redigiert von Alissa Kleer, Hanna Fecht