06.09.2024
10 Jahre nach dem Genozid: Wie ergeht es den Jesid:innen heute?
Der Ziyarat-Tempel im armenischen Dorf Aknalitsch ist der größte jesidische Tempel der Welt. Foto: Henriette Raddatz
Der Ziyarat-Tempel im armenischen Dorf Aknalitsch ist der größte jesidische Tempel der Welt. Foto: Henriette Raddatz

Am 3. August 2014 fanden die schwelenden Spannungen im Nordirak einen traurigen Höhepunkt. Tausende Jesid:innen wurden vom IS ermordet und versklavt, Hunderttausende zur Flucht gezwungen. Doch wie ist die Situation der Jesid:innen zehn Jahre später?

Die Organisation Yazda schätzt, dass im Nordirak 1.268 Jesid:innen durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) ermordet wurden. Etwa 3.548 Frauen und Mädchen wurden verschleppt und versklavt und ca. 200.000 Menschen zur Flucht gezwungen. Noch immer werden über tausend Mädchen und Frauen vermisst. 

Die Gewalteskalation löste große Fluchtbewegungen aus. Einerseits Richtung Europa – vor allem Deutschland nahm damals eine Großzahl von Überlebenden auf – andererseits aber auch innerhalb des Iraks, wo Überlebende in provisorischen Zeltlagern untergebracht wurden. 

Einige Länder haben die systematische Verfolgung, Vertreibung und Gewalt schon früh als Genozid anerkannt, so beispielsweise Kanada im Jahr 2016. Andere folgten später, etwa Armenien 2018. Deutschland konnte eine parlamentarische Anerkennung erst im Januar 2023 erreichen. Russland, ein Land, in dem sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion viele Jesid:innen aus Armenien ansiedelten, erkennt den Genozid bis heute nicht an.

Fehlende Unterstützung im Irak

Zehn Jahre nach dem Genozid im Nordirak konnten sowohl die problematischen Machtverhältnisse zwischen Jesid:innen und der muslimischen Mehrheitsgesellschaft, als auch die Konflikte zwischen der regionalen kurdischen Regierung und der irakischen Regierung noch nicht aufgelöst werden. Im Gegenteil: Die als provisorisch errichteten Zeltlager stehen bis heute, die jüngere Generation kennt nur noch diese Zelte als zuhause. Die Lager sind geprägt von ökonomischer Not, Arbeitslosigkeit und Gewalt. Die meisten befinden sich rund um die Städte Dohuk, Sulaimaniyya und Erbil. Gebiete, auf welche sowohl die kurdische Zentralregierung als auch die irakische Regierung Anspruch erheben. Auch Berichte von einzelnen IS-Gruppen in der Region führen zu einem Gefühl von Schutzlosigkeit. Die Situation der Jesid:innen in der Region ist prekär, obendrein soll den Lagern nun die Unterstützung durch die Nordkurdische Zentralregierung entzogen werden. 

Jesid:innen im Nordirak sind aufgefordert, in ihre alten Siedlungsgebote im Schengal (Sindschar) Gebirge zurückzukehren. Doch dort bleibt es für sie unsicher. Im Bericht der Organisationen Pro Asyl und Wadi e.V. zum zehnjährigen Gedenken an den Völkermord werden neben der immer noch teilweise zerstörten und fehlenden Infrastruktur in Sindschar auch die traumatisierenden Auswirkungen des Genozids benannt: „Dieser Völkermord hat das gesellschaftliche Gewebe vor Ort zerrissen.“ 

Die historische Verbundenheit aus Armenien

Jesid:innen kamen Anfang des 20. Jahrhunderts nach Armenien, als sie im Zuge des osmanischen Genozids ebenfalls zu Vertriebenen wurden. Die meisten Jesid:innen siedelten sich im Norden Armeniens um den Berg Aragaz und die anliegenden Täler an. Ganz anders als im Irak hatte die Gemeinschaft hier die Möglichkeit, ab den 1920er Jahren unter sowjetischer Regierung ihre Sprache und Kultur zu leben. Es gab Tageszeitungen wie die R’ya Teze auf Kurmandschi. Auch das transnational bekanntgewordene Radio Jerevan war ein Lichtblick. Die Verwendung von Kurmandschi und Übertragung kurdischer Lieder stärkte während angespannter politischer Lagen auch das Selbstbild der Kurmandschi-Sprechenden in anderen Ländern.

Heute bilden die Jesid:innen die größte Minderheit in Armenien und haben sich in den Dörfern Aknalitsch und Reya Teza mittlerweile zwei Tempel für die Ausübung ihrer Religion erbaut. Diese sind für die armenischen Jesid:innen sogar wichtiger als der Heimatstempel in Lalish. So erfährt die jesidische Gemeinschaft im Irak oft nur durch die jezidische Gemeinschaft in Armenien oder Russland Unterstützung, da hier die nötigen monetären Ressourcen und politischen Freiheiten vorhanden sind. 

Ein Lalish-Model im armenischen Dorf Shamiram. Foto: Henriette Raddatz

 

Heute finden sich auch jesidische Vertreter:innen im armenischen Parlament. Trotz dieser politischen Teilhabe, die nicht zuletzt durch das Yezidi Center for Human Rights institutionalisiert wurde, ist es ein fortwährendes Ringen um Partizipation, wie das Beispiel des Gründers des Zentrums Sashik Sultanyan zeigt. Sultanyan wurde 2022 wegen „Förderung von ethnischer Feindschaft“ angeklagt, weil er offen über die fehlenden Rechte der Minderheiten, insbesondere der Jesid:innen, in Armenien sprach. Nach der Anklage, die aus Mangel an Beweisen fallen gelassen wurde, musste Sultanyan sich aus dem politischen Leben zurückziehen. 

Zuletzt kandidierte der Erzbischofs Bagrat Galstanyan zur Präsidentschaftswahl und lässt bereits erkennen, dass seine Politik stark von streng orthodoxen christlich Werten geprägt sein wird. Die Auswirkungen auf die Minderheitsrechte dieser Wahlen in Armenien lassen sich nicht abschätzen. 

Weitere außenpolitische Faktoren, wie der Konflikt mit Aserbaidschan, destabilisieren zunehmend die armenische Ökonomie und gefährden damit die Wahrung von Minderheitsrechten.

Russland und die unterschätzen Möglichkeiten

Einige Jesid:innen zogen mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion aus politisch-ökonomischen Gründen nach Russland, wo sie durch die instabilen 1990er Jahre hinweg in Großstädten wie Moskau, Krasnodar oder Nowosibirsk florierende Unternehmen aufbauten. Durch das gewonnene monetäre Kapital und die gewachsenen sozialen Ressourcen konnten sich Jesid:innen sehr gut in der russischen Gesellschaft etablieren. Diese Ressourcen werden nicht selten zur Bewahrung der eigenen Gemeinschaft, Religion und Identität eingesetzt. So wurde beispielsweise die Tempelanlage in der armenischen Stadt Aknalitsch im September 2019 eröffnet und vom jezidisch-russischen Unternehmer Mirsa Slojan finanziert, der dadurch Raum schuf, die jezidische Gemeinschaft näher zusammenzubringen.

So steht die Situation der jezidischen Gemeinschaft in Russland in positivem Kontrast zur Situation vieler ihrer Glaubensgenoss:innen in anderen Ländern. Durch den jesidischen Kongress haben Jesid:innen heute eine russlandweite und transnationale Gemeinschaftsorganisation. Diese lässt es zum einen zu, fernab von einer Opferdarstellung Solidarität zu zeigen, und verschafft zum anderen den Belangen von Jesid:innen öffentlich Gehör, wenn auch die Stigmatisierung des Lebensortes Russlands dies oft erschwert. Zuletzt haben kurz vor dem zehnten Jahrestag des Genozids wiederholt Solidaritätsfußballspiele stattgefunden. Hier kommen Jesid:innen unterschiedlicher Städte in Russland zusammen, um auf ihre Identität aufmerksam zu machen und dabei für Jesid:innen im Irak Gelder zu sammeln.

Deutschland droht mit Abschiebungen

Trotz der ökonomisch und politisch instabilen Lage vor allem im Irak wurden 2023 die ersten Abschiebungen von Jesid:innen in Deutschland erlassen. Betroffen sind oft jesidische Männer, die nicht über ein staatliches Aufnahmeprogramm nach Deutschland kamen. Hier ist im Aufenthaltstitel nur „Herkunft: Irak“ hinterlegt und die besonderen Nöte und Ängste werden nicht berücksichtigt. In einem Hungerstreik vor dem Brandenburger Tor in Berlin im Oktober 2023 versuchten Betroffene auf ihre Situation, aber vor allem auf die immer noch unsichere Lage im Irak aufmerksam zu machen. Die Organisation Hawar Help e.V. trug diese Anliegen weiter und berichtete im Juli dieses Jahres dem Bundestag zur Situation im Irak. Die Gründerin Düzen Tekkal forderte klar: „Jeder Mensch hat ein Recht auf ein Zuhause, auch die Jesiden. Es muss einen bundesweiten Abschiebestopp geben[…]“

Diese weltweiten Beispiele zeigen, dass zur Wahrung von Menschenrechten und Gewaltprävention politischer Wille und wirtschaftliche Konsequenzen essenziell sind. Doch darauf können viele Jesid:innen auch zehn Jahre nach dem Genozid nicht zählen. Sie bleiben häufig auf ihre eigenen transnationalen Netzwerke angewiesen. 

 

 

 

 

Henriette studierte Vorderasiatische Archäologie und Islamwissenschaft im Master in Berlin, London und Amman und arbeitete und lebte im Sudan, Tunesien, Syrien, Tadschikistan, Aserbaidschan und Russland. Sie arbeitet als Sozialarbeiterin im Bereich Migration und promoviert in der Iranistik zu Kurd*innen in Russland.
Redigiert von Emilia Chammas, Wanda Siegfried