21.08.2024
Und die Paläste schweigen noch immer
Der Palast des Beys. Foto: Yelles, Creative Commons
Der Palast des Beys. Foto: Yelles, Creative Commons

1994 war das Jahr, in dem die tunesische Filmemacherin Moufida Tlatli den modernen feministischen Film in WANA etablierte. Ihr Regie-Debüt „The Silences of the Palace“ feiert in diesem Jahr 30. Geburtstag. Ein Blick zurück.

Dies ist ein Beitrag unserer Reihe Re:zension. Hier stellen wir regelmäßig Bücher, Filme und andere Medien vor. Wenn Ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

Die Liste arabischsprachiger Filme, die in den letzten Jahren unter weiblicher Regie entstanden, ist lang. Viele von ihnen haben international für Aufsehen gesorgt: angefangen bei Wadjda (2011) und The Perfect Candidate (2019) von der saudischen Regisseurin Haifaa al-Mansour, über palästinensische Produktionen wie Mai Masris 3000 Nights (2015), Maysaloun Hamouds In Between (2016) oder Cherien Dabis‘ Amreeka (2019), bis zu den libanesischen Filmerfolgen Caramel (2007) und Capernaum (2018) von Nadine Labaki, der derzeit wohl bekanntesten Filmemacherin aus der arabischen Welt.

Ein Meilenstein des maghrebinischen und feministischen Kinos

Nicht all diese Filme sind dezidiert feministisch, aber alle entziehen sie sich auf ihre Weise dem male gaze  (also einer männlichen, heteronormativen und sexualisierenden Dominanzperspektive) und können als emanzipatorisches Kino gelesen werden. Dazu kommen einige arabische Filme mit feministischem Impetus, die unter männlicher Regie entstanden sind. Beispielhaft sei hier auf das neuere ägyptische Kino und Produktionen wie Cairo 678 (2010) von Mohamed Diab oder Asmaa (2011) von Amir Salama verwiesen. Auch auf dem Arabischen Filmfestival in Berlin werden feministische und queere Perspektiven immer prominenter, und mit dem Mawjoudin Queer Film Festival hat sich seit 2018 ein eigenes LGBTQ+-Festival in Nordafrika etabliert.

Die Tunesierin Moufida Tlatli (1947-2021) war eine der großen Wegbereiterinnen dieses feministischen Kinos. Ihr 1994 erschienenes Regie-Debüt The Silences of the Palace (Samt al-Qusur) gilt als Meilenstein sowohl des maghrebinischen als auch des feministischen Kinos. Vor nunmehr dreißig Jahren setzte sie sich darin mit den Verstrickungen von Patriarchat, Kolonialismus und Klassenzugehörigkeit in der tunesischen Gesellschaft auseinander. Erstmalig wurde damit die bedrückende Intersektionalität von Gender, State und Class im Tunesien der 1950er Jahre kinematografisch aufgearbeitet.

Alia und der Palast des Bey

Die Handlung des Films beginnt Mitte der 1960er Jahre. Protagonistin Alia ist in ihren Zwanzigern und lebt unverheiratet mit Lotfi, ihrem früheren Lehrer, in der Stadt. Sie ist schwanger und steht kurz vor einer Abtreibung, als sie die Nachricht ereilt, dass Sid Ali gestorben ist. Sid Ali war einer der Söhne des Bey, in dessen Haus Alia als uneheliches Kind einer Dienerin aufgewachsen und aus dem sie als Heranwachsende geflohen ist. Nach Jahren kehrt sie nun in dieses Haus zurück und wird dort von den Erinnerungen an ihre Kindheit eingeholt.

Das Leben im Palast des Bey war segregiert in einen Bereich für die Familienangehörigen des Bey, die zur gebildeten tunesischen Oberschicht gehören, und einen Bereich für das Hauspersonal, das dort in sklavenähnlichen Abhängigkeitsverhältnissen lebt. Kontakte zwischen diesen beiden Bereichen sind im Film vor allem geprägt von Ausbeutung, sexueller Übergriffigkeit und Gewalt. Zum Leitmotiv werden die ständigen Aufforderungen der Hausherren an die Dienerinnen, abends Tee in deren Nachtgemächer zu servieren, das heißt: sich sexuell verfügbar zu machen und vergewaltigen zu lassen.

Alias Flucht aus dem Palast

Alias Vater ist nicht bekannt, sie ist die uneheliche Tochter eines Familienmitglieds aus dem Palast des Bey, vielleicht Sid Ali. Ihre Kindheit bewegt sich deshalb ein Stück weit zwischen den beiden Hausbereichen: Sie lebt und isst bei den Dienerinnen, aber verbringt ihre Freizeit häufig mit Sarra, einer Enkelin des Bey, die im gleichen Alter ist wie sie. So lernt sie auch Lotfi kennen, den Hauslehrer, der Alia nicht nur Lesen und Schreiben, sondern auch das Lautenspielen beibringt. Daneben ist Lotfi Anhänger der tunesischen Unabhängigkeitsbewegung und macht Alia erstmals mit den Ideen des antikolonialen Widerstandes bekannt.

Als Kind folgt Alia ihrer Mutter immer wieder heimlich und wird mehrmals Zeuge ihrer Vergewaltigung. Nach einem traumatischen Abtreibungsversuch, bei dem ihre Mutter stirbt, beschließt Alia, aus dem Palast zu fliehen. Sie zieht mit Lotfi in die Stadt, wird zu seiner Geliebten und verdingt sich als Hochzeitssängerin. Lotfi hat jedoch kein Interesse daran, Alia zu heiraten, und es zeigt sich, dass vor allem er sie dazu drängt, nun selbst eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Der Film endet mit Alias Entscheidung, die Schwangerschaft nicht abzubrechen und das Kind nach ihrer Mutter zu benennen.

Emanzipation und Kolonialismus

Es war eine zentrale Errungenschaft des Second-Wave-Feminismus, also der neuen feministischen Bewegung der 1960er Jahre, die Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre dekonstruiert zu haben. Familienstrukturen und Beziehungsdynamiken gerieten zunehmend in den Fokus feministischer Kritik, und das Private wurde politisch. In dieser Tradition (Tlatli war stark vom französischen Feminismus der 1960er geprägt) ist The Silences of the Palace ein hochpolitischer Film. Silence bezieht sich dabei auf zweierlei: erstens auf das Silencing der Frauen, mit dem ihnen abgesprochen wird, politische, das heißt: selbstbestimmte Subjekte zu sein, und zweitens auf das einvernehmliche Schweigen, mit dem die Gesellschaft diese Ausbeutung weiblicher Körper und Arbeitskraft akzeptiert.

Aber Tlatlis Film ist mehr als die feministische Coming-of-Age-Geschichte eines Mädchens aus der tunesischen Unterschicht. Literaturwissenschaftlerin Lamia Ben Youssef Zayzafoon versteht The Silences of the Palace als eine „politische Allegorie für den Kampf der Frauen gegen neue Formen der Unterdrückung im postkolonialen Zeitalter.“ Damit meint sie a) die Bevormundungserfahrung muslimischer Frauen durch Weiße Feministinnen, b) die fortwährende weibliche Internalisierung misogyner Denklogiken, und c) die patriarchalen Strukturen in den neuen postkolonialen Staaten Nordafrikas.

Die Handlung des Films ist in den letzten Jahren des französischen Protektorats angesiedelt. Der Figur des Lotfi kommt dabei eine Doppelrolle zu: Während er es Alia als Lehrer und Fluchthelfer ermöglicht, eine gewisse Handlungsmacht als Frau zu gewinnen, kommt sie durch ihn auch zum ersten Mal in Kontakt mit Ideen aus dem tunesischen Unabhängigkeitskampf. Die emanzipativen Momente von Frauenbefreiung und Nationalbewegung werden also in Lotfi zusammengeführt. Doch schon bald bricht Tlatli mit dieser Lesart: Nachdem Alia sich wiederholt von Lotfi entmündigt sieht, wird klar, dass die beiden Befreiungskämpfe eben doch nicht harmonisch Hand in Hand gehen. Die nationale Befreiung gelingt, doch für Frauen ändern sich damit zunächst nur die äußeren Umstände struktureller Unterdrückung. Ihre Stimmen bleiben ungehört, und die Paläste schweigen noch immer.

Feministisches Kino aus WANA

Was macht The Silences of the Palace so besonders? Zunächst einmal handelt es sich um einen der ersten feministischen Spielfilme aus WANA. Es lässt sich darüber streiten, was feministisch heißt und wann feministisches Kino wirklich begann. Manche werden auf die Schauspielerin und Drehbuchautorin Aziza Amir verweisen, die 1926 (!) mit Laila den ersten ägyptischen Spielfilm überhaupt produziert hat. Besonders aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gibt es außerdem eine ganze Reihe von WANA-Produktionen, die weibliche Erfahrungswelten – unter männlicher Regie – auf beeindruckende Art und Weise in den Mittelpunkt rücken: von The Nightingale’s Prayer (1959) mit Faten Hamama bis zu türkischen Klassikern wie The Girl with the Red Scarf (1978) mit Türkan Şoray.

Die ersten Regisseurinnen in WANA tauchten dann in den 1970er Jahren auf, allen voran die ägyptische Filmemacherin Ateyyet al-Abnoudy, die mit ihrem dokumentarischen Kurzfilm Horse of Mud (1971) zu einiger Bekanntheit gelangte. Moufida Tlatli hat mit The Silences of the Palace jedoch ein Werk geschaffen, das „weitgehend durch weibliche Performanzen und Wahrnehmungsraster visualisiert wird“, wie Literaturwissenschaftlerin Laura Rice schreibt. Es handelt sich um ein Werk, das Fragen von weiblicher, nationaler und sozioökonomischer Befreiung in einer hochgradig intersektionalen Erzählung verdichtet. 1994 kann deshalb als das Jahr gelten, in dem Tlatli erstmals den modernen intersektional-feministischen Film in WANA etablierte.

 

 

 

Jakob Eißner hat Religionswissenschaft, Geschichte und Israelstudien in Leipzig, Beer Sheva und Jerusalem studiert. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Religion und Politik in modernen Gesellschaften, Diskurstheorie und Säkularitätsforschung. Zurzeit lebt er in Jerusalem.
Redigiert von Henriette Raddatz, Emilia SC