Im Süden Marokkos wurde 2016 einer der weltweit größten Solarkraftwerkskomplexe in Betrieb genommen. Im dritten Teil dieser Reportage stellen die Bewohnerinnen des Dorfes Tasselmante Fragen der globalen Verantwortung im Klimawandel.
Bevor wir Tasselmante verlassen, schlagen Rabha und Fatna vor, zu Mama zu gehen. Diese arbeitete zuvor in einem Hotelrestaurant, das wegen Covid-19 schließen musste. Ihr Chef zahlte ihr aber weiterhin ihr Gehalt. Aus reiner Barmherzigkeit, meint Rabha. Mama wird so genannt, auch wenn sie keine Kinder hat. Sie ist eine Frau mit tausend Talenten. Sie arbeitet im Hotel als Köchin und kocht während der Feiern im Douar.
Weil es im Douar kein Krankenhaus gibt, arbeitet sie als Hebamme – in einer Region, in der die Sterblichkeitsraten von Müttern und Kindern außergewöhnlich hoch sind. Sie ist auch als Familien- und Sozialhelferin in Krisenfällen tätig und ist Ansprechperson für alle Fälle. Das Verblüffendste an Mama ist ihr Blick. Es ist ein aufmerksamer Blick. Ein Blick, der ihr Wissen widerspiegelt.
Auf die Frage nach der Rolle des Kraftwerks und seinen Auswirkungen zählt sie die Vorteile erneuerbarer Energien auf, wie wichtig sie für eine bessere Welt seien und die des Solarprojekts, seine Technologie und seinen Erfolg. Sie tut dies in einer Tonlage, als ob ein Kind im Msid [Koranschule, Anm. der Übersetzung] Koranverse aufsagen würde.
Solarenergie für das Netz, Holz und Kohle für die Dorfbewohner:innen
Plötzlich unterbricht sie ihre Erläuterungen und verfällt in einen ernsten, kritischen Ton: „Haben wir jemals der Natur geschadet, der Erde? Nein! Wir haben stets im Einklang mit der Erde gelebt und sind ihr dankbar. Die Tourist:innen sagen mir, dass die Luft hier rein sei und dass die Luftverschmutzung in den großen Städten Europas und Amerikas vorherrsche. Haben sie ihre Fabriken geschlossen, um stattdessen Kraftwerke mit erneuerbaren Energien zu betreiben? Nein! Haben die marokkanischen Fabriken geschlossen? Nein! Nun sollen wir den Preis für die Leute zahlen, die der Natur geschadet haben und sich jetzt über die Verschmutzung beschweren?“
Mama stellt diese Frage, während sie Tafernoute-Brot in einem Holzofen backt und eine Hsoua[1] direkt über einer kleinen Gasflasche zubereitet. Die Produktion „grüner Energie” hat die Konsumgewohnheiten der Dorfbewohner:innen nicht direkt beeinflusst. Wie Mama verwenden auch die Einwohner:innen von Tasselmante hauptsächlich Butangas, Brennholz und Holzkohle zum Kochen, aber auch zum Heizen im Winter. „Ich habe schon immer Holz und Kohle verwendet, auch wenn sie teuer sind. Ich benutze nur eine Gasflasche zum Kochen und im Bad.“
In den Privathaushalten hat vor allem der Einbau von Prepaid-Zählern für Veränderung gesorgt. Dieses System wird „Nour“ genannt und soll angeblich besser für die Konsumgewohnheiten der ländlichen Kund:innen geeignet sein. Mama hingegen sieht das Ganze eher sarkastisch: „Mal angenommen, dieses Kartensystem wurde für unser Dorf entwickelt, weil wir mit unserem Energieverbrauch die Umwelt zu stark belasten. Jetzt müssen wir zum Aufladen der Karten zur Filiale ins Dorfzentrum fahren, und müssen dafür öffentliche Verkehrsmittel oder Motorräder nehmen. Daran haben sie nicht gedacht? Werden diese Transportmittel, die wir zum Aufladen der Karten nehmen müssen, mit Wind betrieben?“
Die Sonne geht unter und Sterne zieren den Himmel. Für uns wird es Zeit, Mama und das Dorf zu verlassen. Auf dem Rückweg wird es dunkel und still. Nur Mamas Frage hallt nach und ergibt Sinn: Müssen Mama, Rabha, Rachida, Fatna, Imane, ihre Familien, ihre Nachbar:innen und ihre Mitbürger:innen für die ökologische Schuld derjenigen Länder bezahlen, die seit jeher fossile Energieträger gefördert haben? Antworten darauf finden sich mitunter in amtlichen Berichten, wissenschaftlichen Studien und Stellungnahmen von Vereinen.
„Grüne“ Energie für den globalen Norden auf marokkanische Staatskosten
Zur Förderung erneuerbarer Energien und nachhaltiger Entwicklung verschuldet sich Marokko bei europäischen, amerikanischen und afrikanischen Entwicklungsbanken, aber auch bei vielen saudischen und emiratischen Konzernen. Mit letzteren geht der Staat vermehrt Public-Private-Partnerships ein. Die Gesamtkosten für das Solarprojekt belaufen sich auf über 30 Milliarden Dirham, wie das Ministerium für Energie, Bergbau und nachhaltige Entwicklung mitteilte.
In den Jahresberichten des Wirtschafts- und Finanzministeriums über die Staatsverschuldung, die sich jedes Jahr weiter den 10 Milliarden Dirham annähert, wird die MASEN unter den Top Ten der am höchsten verschuldeten Unternehmen aufgeführt. Dabei wird darauf hingewiesen, dass das Unternehmen von Garantien des marokkanischen Staates profitiert.
Dies bedeutet, dass der marokkanische Staat die Schulden übernimmt, wenn die MASEN sie nicht zurückzahlen kann. Anders gesagt kommen die marokkanischen Bürger:innen für die Rückzahlungen an die zahlreichen Geldgeber der MASEN auf.[2] Die Dorfbewohnerinnen, die direkt betroffen sind, zahlen bereits den Preis dafür. Die Energieproduktion ist nicht in erster Linie für sie bestimmt, sondern für den Export nach Europa, das „saubere“ Energie importieren möchte.
Fortschreitende Nutzung auch von fossilen Energieträgern
Das Solarprojekt wird als das größte Projekt für erneuerbare Energien in Afrika und in WANA (Westasien und Nordafrika) vermarktet. Als „größtes Projekt in der arabischen und afrikanischen Welt“ orientiert es sich an der allgemeinen Energiepolitik Marokkos, die auf die Entwicklung erneuerbarer Energien abzielt. Diese sollen zur Versorgungssicherheit und Energieunabhängigkeit beitragen. Ihre Nutzung soll vor Versorgungsengpässen sowie Preisschwankungen schützen, die sich aus den Unsicherheiten der internationalen Märkte für fossile Brennstoffe ergeben. Zudem sollen sie die Erderwärmung aufhalten[3].
Auch wenn diese umweltpolitische Rhetorik verlockend klingt, ersetzt der Ausbau „sauberer“ Energien nicht die Nutzung fossiler Brennstoffe. Stattdessen wird die Gesamtmenge der erzeugten Energie erhöht. De facto schließt Marokko keine mögliche Energiequelle aus. Es werden immer mehr thermodynamische Solarkraftwerke (CSP), Photovoltaik (PV) sowie Wind- und Wasserkraftwerke als erneuerbare Energieprojekte gebaut. Parallel dazu werden Kohle-, Diesel-, Gas- und Ölschieferkraftwerke sowie die Kernkraft ausgeweitet, die allesamt fossile Energieträger sind.
Auf seiner Webseite stellt das Ministerium für Energie, Bergbau und nachhaltige Entwicklung eine Bergbaustrategie vor, die sich zum Ziel setzt, den Umsatz des Sektors bis 2025 auf über 15 Milliarden Dirham zu verdreifachen. Das Investitionsvolumen für die Erkundung und Erforschung des Bergbaus soll um das Zehnfache auf fast vier Milliarden Dirham steigen. Zu den zentralen Punkten der Ölpolitik zählen unter anderem die Ausweitung der Importmöglichkeiten für Erdölprodukte, sowie die regelmäßige Versorgung mit und ein breiterer Zugang zu diesen Produkten.
Darüber hinaus wird in Erwägung gezogen, Kernenergie in den nationalen Strommix zu integrieren. In diesem Sinne wurde 2009 eine Arbeitsgruppe für Kernenergie und Meerwasserentsalzung gebildet, um Kernenergie in Marokko bis zum Jahr 2030 und darüber hinaus einzuführen. Das Nationale Amt für Erdöl und Bergbau (Office national des hydrocarbures et des mines, ONHYM) ist der wichtigste Betreiber des Königreichs im Bereich der Erdöl- und Bergbauerkundung. Das Amt stellt seine Zukunftsvision zur Stärkung des Sektors in Marokko vor, ebenso wie seine Strategie zur Erkundung unkonventioneller fossiler Brennstoffe wie Ölgas und Ölschiefer.
Woanders leben, um besser zu leben
Im sonnen- und windverwöhnten Marokko „brennt unser Haus und wir schauen weg“[4]. Ein Tag mit den Frauen von Tasselmante verdeutlicht, wie vielschichtig dieses Problem sein kann und wie sich mehrere Unterdrückungsformen überlappen. Ein Tag mit ihnen veranschaulicht die Herrschaftsverhältnisse, denen sie und die Natur systematisch ausgesetzt sind.
Die Frauen, die wir getroffen haben, verfügen über weitreichende Kenntnisse. Sie sind am besten dazu in der Lage, Lösungen für sich selbst zu finden und Alternativen zu entwickeln, mit denen sie ihre prekäre Stellung durch geeignete, inklusive und partizipative Ansätze bekämpfen könnten. Nelson Mandela hat einst gesagt: „Demokratie, das heißt ein Mensch, eine Stimme und Elektrizität für alle.“ Demokratie besteht aus Frauen, Männern, Stimmen, Biodiversität und dem Wohlbefinden für alle.
Erneuerbare Energien stecken voller Verheißungen für die Weltbevölkerung. Der Solarpark Noor strotzte nur so vor Versprechungen für die lokale Bevölkerung. In Wirklichkeit aber zerschlägt er den Mythos über erneuerbare Energien, den die Entscheidungsträger:innen geschaffen haben. Denn diese Art der Politik bringt weder Demokratie noch Gerechtigkeit hervor und ist keineswegs nachhaltig. Sie schützt nicht den Planeten und trägt auch nicht zum Kampf gegen den Klimawandel bei. Diese Energiepolitik basiert auf Strukturen von Macht und Ausgrenzung. Sie bestimmt, wer von Energietechnologien profitiert und wer darunter leidet.
Die Frauen in Tasselmante tragen die Last und verharren ohne Hoffnung auf Besserung in einer Welt und in einem Land, die sich vermeintlich in Richtung Nachhaltigkeit entwickeln. Imane wollte bei ihrer Mutter bleiben. Jetzt will sie nicht mehr zurück ins Dorf ziehen: „Es heißt, die Heliostat-Spiegel des Kraftwerks führten zur Erblindung der Vögel, weil der Wärmefluss um den Sonnenturm herum so hoch sei. Ich kann nicht blind bleiben, ich kann nicht stumm bleiben. Ich muss mein Nest verlassen, weg von Tasselmante.“
[1] (marokkanische) Suppe aus Grieß und Milch
[2] Die MASEN ist bei mehreren Organisationen verschuldet, die auf der Website der Agentur als Geldgeber aufgeführt werden: Clean Technology Fund, Europäische Union, Neighborhood Investment Facility, KFW unter dem Mandat des deutschen Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB), KFW im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), Weltbank, Afrikanische Entwicklungsbank, Französische Entwicklungsagentur (AFD) und die Europäische Investitionsbank. Quelle: https://www.masen.ma/fr/projets/noor-ouarzazate-i (aufgerufen am 15. März 2021).
[3] Ministerium für Energie, Bergbau und nachhaltige Entwicklung, La nouvelle Stratégie Energétique Nationale - Bilan d’étape, Rabat, 2013.
[4] Das Zitat stammt vom ehemaligen französischen Präsidenten Jacques Chirac und ist Teil seiner Rede zur Eröffnung des IV. Weltgipfels für nachhaltige Entwicklung am 2. September 2002 in Johannesburg.