Autokratie, Militarisierung, demokratisches backsliding – diese Konzepte werden viel zu gerne auf WANA-Länder und Staaten des Globalen Südens angewandt. Ausgeblendet wird dabei der wachsende antidemokratische Rechtspopulismus in der EU.
Autoritär? Nicht wir, das sind doch die anderen. Geschwächte demokratische Strukturen und Institutionen? Doch nicht unsere. Militarisierung? Nicht bei uns. Nicht in Europa, nicht in unserer liberalen und menschenrechtsorientierten Europäischen Union. So lautet das Narrativ, das in weiten Teilen medialer Berichterstattung, aber auch in wissenschaftlichen Kreisen dominiert. Der Begriff Autoritarismus deckt vom Ausschluss der Öffentlichkeit bei wichtigen Entscheidungsfindungen bis hin zu gewaltsamer Repression ein breites Spektrum ab. Die meisten Definitionen stimmen dahingehend überein, dass Pluralismus und Protest eingeschränkt werden und Akteuren ein antidemokratisches Bild zugrunde liegt.
Um auf autoritäre Regime aufmerksam zu machen, wird in erster Linie auf Länder des Globalen Südens verwiesen, auch in WANA. Doch bei diesem dominanten Bild von Autoritarismus handelt es sich um einen stark orientalistischen und vereinfachenden Blick. Dieser Artikel soll nicht verkennen oder gar abschwächen, wie autoritäre Strukturen in WANA und in anderen Regionen funktionieren. Selbstverständlich ist es problematisch, wie die meisten arabischen Staaten ihre Beziehungen zum syrischen Präsidenten Baschar al-Assad normalisiert haben – trotz der anhaltenden Kriegsverbrechen und politischen Verfolgung. Selbstverständlich ist es gefährlich, wie das Militär in Ägypten immer weiter in die Gesellschaft vordringt und auf immer repressivere Maßnahmen zurückgreift.
Schaut man sich allerdings eher autoritäre Praktiken statt nur ganze politische Systeme an, werden Verflechtungen zwischen WANA und Europa deutlich und auch, wie sich autoritäre Strukturen in Europa verstärkt ausbreiten.
Der Blick nach innen
Zunächst lässt sich klar erkennen, dass immer mehr Bürger:innen in Europa die Anwendung autoritärer Praktiken befürworten, das bescheinigt beispielsweise die Autoritarismus-Studie der Universität Leipzig aus dem Jahr 2022. Unter anderem haben die Feindlichkeit gegen Muslim:innen, Antisemitismus, Antiziganismus und Antifeminismus zugenommen. Auch die neueste Mitte-Studie von September 2023 kommt zu dem Ergebnis, dass jede zwölfte Person in Deutschland ein geschlossen rechtsextremes Weltbild teilt und sich immer mehr Menschen einem antidemokratischen Graubereich zuwenden.
Diese autoritären Wertvorstellungen spüren zurzeit auch Teile der Klimabewegung in Deutschland: Aktivist:innen der Letzten Generation werden nicht nur terroristische Handlungen vorgeworfen, sondern sie sind auch Hasskommentaren auf Sozialen Medien, Aufrufen und teilweise sogar körperlicher Gewalt ausgesetzt. Der Begriff Rechtsruck wird für das Erstarken rechter Parteien und Bewegungen in Europa verwendet, damit ist aber eigentlich gemeint, dass viele Bürger:innen autoritäre Praktiken zunehmend für legitim halten.
Die angewandte Friedens- und Konfliktforschung macht häufig von Eskalationsanalysen oder early warnings Gebrauch, um auf potenzielle Konfliktsituationen in Staaten des Globalen Südens zu verweisen. Doch was, wenn wir dieses Konzept auch auf Staaten in der Europäischen Union anwenden? Nehmen wir das Beispiel der AfD, die in Umfragen auf Bundes- und Länderebene in den letzten Wochen häufig auf dem zweiten oder gar ersten Platz landete. Die Partei konnte unterdessen bei den Landtagswahlen vom 8. Oktober 2023 in Hessen mit 18 Prozent und in Bayern mit 15 Prozent jeweils Rekordergebnisse einfahren.
Es ist erschreckend, wie schnell sich der Diskurs von „Nicht mit Rechten reden“ zu „Nicht mit Rechten regieren“ gewandelt hat. Die berüchtigte Brandmauer der CDU/CSU zur AfD wurde indes bereits am 14. September 2023 im thüringischen Landesparlament durchbrochen. Hier würde ein early warning sicherlich ein sinnvolles Konzept darstellen, um vor zukünftiger rechter Gewalt gegen Migrant:innen und andere Minderheiten zu warnen und diese zu verhindern. Die Anschläge von Hanau und die wiederkehrenden Skandale um rechtsextreme Chatgruppen in der Bundeswehr und in der Polizei machend deutlich: Es gibt Anlass zur Sorge.
Autoritarismus prägt auch, wie Staaten zusammenarbeiten
Dann wäre da noch das Thema Militarisierung in Europa. Über die letzten Jahre hinweg wurde beispielsweise Frankreichs Polizei und Gendarmerie waffentechnisch so stark aufgerüstet, dass sogar Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und die Vereinten Nationen die Polizeigewalt in Frankreich anprangerten, unter anderem für die übermäßige Verwendung von Flashball-Gummigeschossen. Letztere nutzten die französischen Ordnungskräfte auch im Zuge der Proteste im Juli 2023, gegen die Tötung des 17-jährigen Nahel. Dabei richteten sich die Proteste gegen eben diese Polizeigewalt und racial profiling.
Frankreich ist nicht nur der drittstärkste Waffenexporteur der Welt (Deutschland belegt den fünften Platz) und liefert unter anderem an Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, sondern hat auch im Jahr 2016 eine geheime Militäroperation zusammen mit Ägyptens Präsidenten al-Sisi durchgeführt. Nachdem die französische Journalistin Ariane Lavrilleux über damit in Verbindung stehende Bombardierungen von Zivilist:innen berichtet hatte, wurde sie im September für anderthalb Tage festgenommen und verhört – ein klares Zeichen dafür, wie die Pressefreiheit im Zuge militärischer Zusammenarbeit eingeschränkt wird.
Damit zeigt sich, dass autoritäre Praktiken nicht nur isoliert innerhalb einzelner Nationalstaaten angewandt werden. Nehmen wir das Beispiel wenn die italienische Ministerpräsidentin Meloni gemeinsam mit EU-Kommissionschefin von der Leyen und dem niederländischen Premierminister Rutte einen Migrationsdeal mit dem tunesischen Präsidenten Kais Saied aushandelt. Ihr Vorgehen zeigt deutlich, dass der sich verstärkende Autoritarismus in Tunesien akzeptiert und gar finanziell und politisch gestärkt wird, auch wenn dies auf Kosten von Flüchtenden geht. Dies war und ist auch bei dem EU-Türkeiabkommen von 2016 der Fall.
Das Problem beim Namen nennen
Vor allem im Bereich der EU-Migrationspolitik, aber auch im Rahmen von Kooperation für erneuerbare Energien und im Außenhandel mit anderen Staaten wird Autoritarismus nach außen zunehmend konsolidiert. Da sich autoritäre Handlungen ebenso nach innen hin ausbreiten, sagen all diese Verflechtungen mehr über die politische Situation in der Europäischen Union aus, als man es wahrhaben möchte. Es wäre gefährlich, autoritäre Praktiken in Europa und ihre Verbindungen zu anderen Regionen zu ignorieren, was die Tendenz zur Repression noch verstärken könnte.
Autoritär, das sind die anderen und nicht wir – so lautet das Credo. Diese Trennung zwischen Fremdbild und Selbstbild ist jedoch viel zu vereinfachend. Autoritarismus hat nichts Regionales oder Kulturelles – er kann überall auftreten. Vor allem in außenpolitischen Analysen lohnt es sich daher auch einen Blick nach innen zu werfen, unter anderem um internationale autoritäre Verflechtungen zu verstehen. Ja, gefestigte autoritäre Regime und liberale Demokratien unterscheiden sich in ihrer Qualität deutlich, doch es ist gefährlich, dass autoritäre Praktiken normalisiert und unbemerkt salonfähig gemacht werden. Das early warning liegt in diesem Falle an uns allen, die wir in Europa leben.