20.04.2023
Die Berliner Mauer der Islamischen Republik
Die Islamische Republik setzt alles auf der Durchführung der Hijab-Pflicht. Grafik: Zaide Kutay
Die Islamische Republik setzt alles auf der Durchführung der Hijab-Pflicht. Grafik: Zaide Kutay

Die Islamische Republik setzt alles auf die Durchführung der Hijab-Pflicht, obwohl alle Versuche bisher gescheitert sind. Denn sie weiß, der Kontrollverlust über die Frauen kann gleich den Kontrollverlust über die gesamte Gesellschaft bedeuten.    

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Der Polizeichef der Islamischen Republik, Ahmad-Reza Radan, sagte am 14. April: Die Durchsetzung des „Hijab-und-Keuschheit-Plans“ würde am nächsten Tag anfangen. Er sprach am Rande des sogenannten al-Quds-Tages, an dem der iranische Staat seit über 40 Jahren eine Demonstration gegen Israel organisiert. In dem Plan, oder besser gesagt in dem Gesetz, geht es darum, die Hijab-Pflicht „besser“ umzusetzen. Das Gesetz beinhaltet sowohl sogenannte „kulturelle“ Strategien, also Werbung für den Zwang-Hijab, als auch polizeiliche Maßnahmen. Verabschiedet wurde es vom Obersten Rat für Kulturrevolution, einem Rat, dessen Mitglieder zum großen Teil direkt vom Obersten Führer Ayatollah Ali Khamenei ernannt werden. Der Rat funktioniert als paralleles Parlament und verabschiedet verbindliche Gesetze im Bereich Kultur und Bildung.

Radan wurde im Januar, als die Straßen des Landes noch von den massiven Protesten erschüttert waren, von Ayatollah Ali Khamenei, dem Obersten Führer der Islamischen Republik, zum Polizeichef ernannt. Die Beobachter:innen Irans haben diese Berufung als einen weiteren Versuch interpretiert, die Proteste endgültig niederzuschlagen. Denn Radan war zwischen 2006 und 2008 der Kommandeur der Polizei in der Hauptstadt Teheran und von 2008 bis 2014 stellvertretender Kommandeur der Ordnungskräfte Irans. Danach wurde er allerdings von der Führungsebene der Ordnungskräfte zur Seite gestellt, vermutlich infolge der Machtkämpfe innerhalb des konservativen Lagers des islamischen Regimes. Auch seine bedeutende Leistung bei der Niederschlagung der landesweiten Proteste gegen die vermeintlich gefälschten Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen 2009 – der Grünen Bewegung – wurde von der Chefebene nicht weiter Beachtung geschenkt.

Rückkehr eines gescheiterten Kommandeurs

Ob die Rückkehr des alten, brutalen Befehlshabers der Einsatzkräfte dem geschwächten Regime helfen würde, seine Autorität wieder zur Schau zu stellen, wird man noch sehen. Interessant ist, dass Radans Auftritt als starker Vollstrecker von „Keuschheit“ auf iranischen Straßen ein Déjà-vu ist, das er selbst nicht zu merken scheint: Googelt man Radans Namen und den Begriff „Hijab-und-Keuschheit-Plan“ zusammen, stößt man nicht nur auf das Interview, das er am 14. April 2023 gegeben hat. Die Google-Suche führt auch zu mehreren Newsbeiträgen aus dem Jahr 2010, als Radan noch Polizeikommandeur der Hauptstadt war. Zum Beispiel soll er im Juni 2010 Medien gegenüber gesagt haben, dass die Polizei auf keinen Fall Gewalt ausgeübt habe, wenn es um die Frauen ging, die ihr Kopftuch nicht richtig tragen. Im November desselben Jahres soll er vom islamischen Parlament – dem Majlis – die Frage gestellt bekommen haben, warum die Einhaltung des Hijab-Gesetzes in der Gesellschaft immer weiter ignoriert werde.

Radans Comeback mit der Kernaufgabe, einen Aufstand gegen die Hijab-Pflicht zu unterdrücken, deutet zwar auf die Entschlossenheit der Islamischen Republik hin, keine Reform bezüglich der Frage des Kopftuchzwangs einleiten zu wollen und weiterhin beim aktuellen Kurs – gewalttätige Durchsetzung eines mittlerweile gesellschaftlich nicht mehr tragbaren Gesetzes – zu bleiben.  Das ist aber nicht die einzige Bedeutung seiner Rückkehr. Kaum etwas könnte so deutlich das Versagen des Regimes in diesem Bereich implizieren. Unübersehbar ist auch, dass die Machthaber aus diesem Versagen auf keinen Fall eine Lehre ziehen wollen. Ihnen fällt nichts anders ein als ein wiederholter Versuch, dasselbe Gesetz, ohne jegliche bedeutende Verbesserung, wieder strenger „umzusetzen“. Daraus lässt sich schließen: Jeder weitere Plan, jedes andere Gesetz, das den Frauen vorgeben will, wie sie sich zu kleiden und zu verhalten haben, ist vorneweg zum Scheitern verurteilt.

Maßnahmen, die ins Auge gehen    

Der einzige, aber große Unterschied zur Situation vor zehn Jahren ist, dass es nicht mehr darum geht, dass ein Großteil von Frauen ihr Kopftuch „nicht richtig“ trägt, sondern dass sie es gar nicht mehr trägt. Das zeigt sich nicht nur in tausenden Fotos von iranischen Straßen, die täglich in sozialen Medien viral gehen, sondern auch in Aussagen der staatlichen Funktionäre und Medien. Zum Beispiel schrieb die ultrakonservative Zeitung Javan am 16. April: „Das Phänomen der ‚Hijablosigkeit’ stört nicht nur den gläubigen Teil der Gesellschaft, sondern auch die, die ihr Hijab nicht ganz streng tragen.“ Die Ironie besteht also daraus: Nach all den Einwänden und Ressourcen, die die Islamische Republik in den letzten Jahrzehnten für die strenge Umsetzung der Hijab-Pflicht verbraucht hat, ist alles nur „schlimmer“ geworden. Heute könnte sich das Regime zufriedengeben, wenn die Mehrheit von Frauen ihr Zwangshijab wie vor zehn Jahren einhalten würden, was aber nicht passiert:  Die Frauen, die sich seit Jahren gegen die Hijab-Pflicht wehren, kennen nur einen Weg, der vorwärts geht. Es soll sich lustig anhören, wenn täglich mehrere Frauen in sozialen Medien schreiben: „Die Mullahs müssen sich wünschen, dass es diesen Sommer nicht warm wird. Denn je wärmer es wird, umso ‘hijabloser’ werden wir.“ Für die Fanatiker:innen, für die Anhänger:innen des Regimes ist es aber alles andere als lustig. Am 3. April sagte ein ehemaliger Parlamentsabgeordnete: „Die Saison, Frauen Hijab aufzuzwingen, war Winter, der nun verpasst ist.“  Viele überwiegend männliche Regime-Anhänger äußern in sozialen Medien ihre Wut immer wieder und drohen, auf eigene Faust zu handeln, wenn der Staat es nicht schaffen würde.

„Die Islamische Republik hat ein umfassendes Schlachtfeld definiert, um sich den menschlichen und edlen Forderungen der Frauen zu widersetzen, und betritt dieses Feld jeden Tag mit einem neuen Plan,“ schrieb die angesagte Islamwissenschaftlerin Sedigheh Vasmaghi in einem offenen Brief an Ayatollah Khamenei am 11. April. Zu diesem „umfassenden Schlachtfeld“ gehört inzwischen, dass Frauen der Zugang zu      öffentlichen Verkehrsmitteln verwehrt wird, wenn sie die Hijab-Regeln nicht einhalten. Die noch härtere Maßnahme ist, dass Krankenhäuser und Kliniken angewiesen wurden, die ‘hijablosen’ Frauen nicht zu behandeln. Ein klarer Schritt gegen alle menschlichen Vorstellungen und auch gegen religiöse Lehren.

Der „totale Krieg“, den die Islamische Republik gegen die eigene Bevölkerung, oder mindestens die Hälfte davon, führt, kann erfahrungsgemäß nur eine Gewinnerin haben: die Frauen. Das wissen auch die meisten Regime-Anhänger:innen. Die eigentliche Frage ist, ob die Hijab-Pflicht – wie manche der Oppositionseite meinen – die Berliner Mauer der islamistischen Machthaber Teherans ist. Kippt also die Hijab-Pflicht, kommt dann das Regime zum Sturz? Oder findet der Staat andere Formen, die Unterdrückung weiterzuführen? Ein möglicher Weg, den besonders die anti-feministischen Oppositionellen der Islamischen Republik für möglich, überhaupt wahrscheinlicher halten, wäre, dass das Regime die Umsetzung dieses Gesetz aufgeben würde, um den Unzufriedenen dann keinen Anlass zum Protest zu geben. Schlussendlich sei alles erlaubt, wenn es ums Überleben des islamischen Regimes gehe. Das hat Ayatollah Khomeini, der Gründer der Islamischen Republik ganz klar gesagt. Die antifeministische Fraktion iranischer Opposition fürchtet also, dass das Regime durch Aufhebung des Hijab-Gesetzes die Lage wieder in den Griff bekommt.          

Vom Zwangskopftuch angewiesen    

Die Maßnahmen und Strategien des Regimes sprechen aber eher für das erste Szenario: Die Führer des Gottesstaates setzen alles auf die Umsetzung dieser Vorschrift, auf einen verlorenen Kampf. Die Islamische Republik kann sich von ihrem frauenfeindlichen Kern nicht trennen. Ihr scheint also die Theorie der Berliner Mauer besser zu gefallen. Denn sie kennt sich besser als all ihre Gegner:innen: Verliert sie die Kontrolle über weibliche Körper, geht die Kontrolle über die gesamte Gesellschaft verloren. „Frauen sind der Schwerpunkt der Strategie zur Unterdrückung der revolutionären Bewegung durch den Staat. Aber ausgerechnet die Frauen sind auch der Schwerpunkt der Strategie zur Beendigung der Islamischen Republik durch die Bevölkerung,“ schrieb neulich die prominente Menschenrechtsaktivistin Narges Mohammadi in einem Brief aus dem Evin-Gefängnis.

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Omid Rezaee ist ein iranischer Journalist. 2012 verließ er seine Heimat, nachdem er aufgrund seiner journalistischen und politischen Tätigkeiten einige Monate im Gefängnis verbracht hatte. Bis Ende 2014 berichtete er aus dem Irak vor allem über den Krieg gegen den sogenannten Islamischen Staat. 2015 kam er nach Deutschland und schreibt seitdem...
Redigiert von Sophie Romy, Regina Gennrich