Caman Baziz ist Aktivist in Berlin für die algerische Protestbewegung Hirak. Dis:orient erzählt er, warum politisches Engagement im Hirak in Europa so wichtig für die Zukunft Algeriens ist.
Triggerwarnung: Dieses Interview enthält explizite Beschreibungen von sexualisierter Gewalt. Bitte sei achtsam mit dir, insbesondere wenn dich dieses Thema betrifft.
Was ist deine persönliche Geschichte? Kannst du dich vorstellen?
Ich bin 1947 in der französischen Siedlungskolonie Algerien geboren. Mein Vater ist Amazigh aus Tizi Ouzou in der Kabylei in Algerien und meine Mutter ist Französin und stammt aus Malta. Wenn man von Algerienfranzös:innen spricht, sind damit alle christlichen europäischen Einwander:innen gemeint, die sich aus Malta, Italien, Spanien, Portugal, Griechenland und natürlich aus dem französischen Festland in Algerien ab 1830 angesiedelt haben. Alle erhielten automatisch die französische Staatsbürgerschaft. So betrifft mich also auch die algerische, die französische und da ich seit 1971 in Deutschland lebe, die deutsche Politik. In Berlin bin ich gesellschaftlich und politisch engagiert. Ich habe studiert, ich bin ein Intellektueller, ich bin Schauspieler und Maler. Engagiert zu sein ist ein Teil von mir: Alles, was in Frankreich passiert, berührt mich, alles, was in Algerien passiert, noch mehr: es sind meine Wurzeln. Hier in Deutschland bin ich Teil der Bevölkerung, ich bin für die gerechte Verteilung von Reichtum, Wissen und allen Gütern.
Im Jahr 1971, also vor über 50 Jahren, habe ich Algerien wegen der Militärregierungen und Diktaturen zur Zeit von Houari Boumédiène verlassen. Damals waren wir, meine Generation, die ersten jungen Leute, die Algerien verließen. Seitdem ist der Strom der Auswanderer:innen nie abgerissen.
Du bist also politisch engagiert und nicht nur in einer deutschen Partei, sondern auch im Hirak hier in Berlin. Wie kam es dazu?
Ich habe den Hirak durch Zufall 2019 auf Facebook entdeckt. Ich hatte ein Video von algerischen Jugendlichen gesehen, die sich hier in Deutschland auf der Autobahn gefilmt haben. Sie machten sich darüber lustig, dass sie so schnell fahren konnten und sprachen davon, an einer Demonstration teilzunehmen. Ich erfuhr, dass der Pseudopräsident Abdelmadjid Tebboune – er wurde nie vom Volk gewählt, sondern von der Armee eingesetzt – nach Berlin kommen sollte, um an einer Konferenz über Libyen teilzunehmen. Wir Algerier:innen in der Diaspora erkennen ihn nicht als unseren Präsidenten an. Damals waren wir wütend auf die deutsche Regierung: durch die Einladung von Tebboune verlieh ihm die deutsche Regierung Legitimität.
Ich nahm also an der Demonstration gegen die Einladung von Tebboune vor dem Kanzleramt teil, ich hatte meinen Fotoapparat dabei. Dort traf ich einen Freund, der mir die Geschichte des Hirak hier in Berlin erzählte: Die Aktivist:innen treffen sich jeden Sonntag am Brandenburger Tor. Seitdem komme ich regelmäßig zum Pariser Platz. Am Anfang habe ich nur passiv teilgenommen, aber nach und nach habe ich das Wort ergriffen, mich persönlich engagiert und Ideen eingebracht. Es reicht nicht, nur dort zu sein und Präsenz zu zeigen, man muss auch aktiv werden und die deutsche Regierung herausfordern, sie unter Druck setzen, die Ungerechtigkeit und die Verletzung der Menschenrechte in Algerien anprangern. Sie muss der Wahrheit ins Auge sehen.
Bildet sich die Diversität Algeriens auch in der Bewegung hier in Berlin ab?
Es gibt Meinungsverschiedenheiten, deshalb sind wir auch nicht mehr viele im Hirak in Berlin. Die Religion spielte eine große Rolle, ebenso wie die Identität der algerischen Nation. Einige sehen Algerien als arabischen Staat, andere sehen sich als Amazigh, oder einige sind religiös, andere nicht. Einige sind säkular, andere bevorzugen das islamische Recht.
Diese grundlegenden Unterschiede haben dazu geführt, dass sich verschiedene Gruppen gebildet haben. Die neue Generation hat ein arabisches Bewusstsein. Wir, die Älteren, sind Amazigh. Schau mal, Deutsche, die zum Islam konvertieren sind muslimische Deutsche. Genauso sind wir muslimische Amazigh. Wir Algerier:innen haben nichts mit den Araber:innen zu tun, die kommen aus Saudi-Arabien.
Dieses Jahr sind 60-Jahre Unabhängigkeit in Algerien. Wie steht der Hirak dazu? Gibt es Feierlichkeiten?
In Wirklichkeit ist Algerien nicht unabhängig. Das war eine Strategie von [Charles] de Gaulle: Er schaffte es, den Eindruck zu erwecken, dass Algerien gewonnen hatte, obwohl es nie dazu in der Lage war. Nicht gegen die Atommacht Frankreich. Wir waren eine Ameise neben Frankreich.
Der Sohn des Generals de Gaulle erzählt in seinem Buch De Gaulle, mon père (2005), dass sein Vater 140.000 Harki - die Kollaborateure - in Algerien zurückgelassen hatte. Sie infiltrierten die Reihen der neuen Verwaltung des unabhängigen Algeriens. Sie werden für immer für Frankreich arbeiten.
Der Hirak will Algerien befreien, wir wollen unsere wahre Unabhängigkeit. Wir müssen mit der algerischen Regierung, die für Frankreich arbeitet, brechen und mit Frankreich brechen.
Und wie wird mit dem Unanbhängigkeitsjubiläum in Algerien umgegangen?
Die Politik in Algerien ist wie die Mafia: Es sind Clans, die sich gegenseitig ablösen. Jeder neue Clan an der Macht bringt den anderen Clan ins Gefängnis. Ein arabisches Sprichwort sagt: „Lass deinen Hund hungern und er wird dir überallhin folgen“, der Hund steht für die Bevölkerung. So wird in Algerien geherrscht.
Die Regierung nutzt Volksfeste, missbraucht sie und macht daraus Propaganda, um nach außen hin ein positives Bild zu vermitteln. Unter muslimischen Ländern schmeichelt man sich immer mit großen Ereignissen und nationalen Märtyrer:innen. In Algerien spricht man von den Shuada, den Gefallenen des Unabhängigkeitskrieges zwischen 1956 und 1962. So manipuliert die Regierung die Armen, Schwachen und Hungernden, die fast die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Die Elite interessiert sich nicht dafür, was in Algerien passiert, sie lebt zwar in Algerien, fliegt aber nach Paris, um einen Kaffee zu trinken oder nach London um shoppen zu gehen, und kommt am gleichen Tag wieder zurück. Sie lebt im Exzess, in der Opulenz und in der Dekadenz.
Auch die Diaspora wird manipuliert, nicht alle Algerier:innen im Ausland sind engagiert. Ein Drittel dieser Diaspora hat Beziehungen zu Algerien und betreibt dort noch Handel. Einfach nur aus wirtschaftlichem Interesse. Ein weiteres Drittel hat Angst vor Repressionen, hat Angst um seine Familie in Algerien. Hier in Berlin sind es diejenigen, die nicht fotografiert werden wollen. Und das letzte Drittel, der Hirak, hat keine Angst, vor gar nichts und vor allem nicht vor Tebboune. Ich gehöre dazu und wir sind bereit zu sterben, genau wie diejenigen, die ihr Leben gaben, um Algerien von Frankreich zu befreien.
Der Hirak begann 2019 in Algerien, weil Bouteflika, der ehemalige autokratische Präsident eine fünfte Amtszeit anstrebte.
Ja, wir Algerier:innen wollten verhindern, dass Bouteflika Präsident bleibt. Er war zu alt und krank. Frankreich unterstützte seine Kandidatur: 2015 sagte François Hollande über Bouteflika: „Ich habe noch nie mit jemandem mit einer solchen Lebhaftigkeit diskutiert“. Das war angesichts von Bouteflikas Gesundheitszustand nicht glaubwürdig.
Schließlich kandidierte Bouteflika nicht für eine fünfte Amtszeit und starb kurz danach. Abdelmadjid Tebboune ersetzte ihn. Was ist jetzt das Ziel des Hirak?
2019 kam Tebboune an die Macht, seitdem gibt es in Algerien keine politischen Parteien mehr, alle wurden aufgelöst. Ihre Vorsitzenden sitzen im Gefängnis oder im Exil, sie dürfen nicht mehr sprechen.
Der aktuelle Hirak ist nur noch im Ausland aktiv, über die Diaspora. In Algerien hat die Repression gewonnen: mindestens 300 Menschen sitzen im Gefängnis. Einige haben mit Hungerstreiks begonnen, die Stärksten werden in Gefängnisse ganz im Süden Algeriens in die Wüste verschleppt. Der Besuch von Familienangehörigen wird unmöglich gemacht. Ob jung, alt, Frau oder Kind, sie werden dort täglich vergewaltigt und geschlagen. Sie werden gedemütigt.
In Algerien gibt es kaum etwas Schlimmeres: Sexualität ist immer noch ein Tabu. 2021 berichtete Walid Nekiche, ein entlassener Häftling, darüber, dass er eine Woche lang jeden Tag mit einem Besenstiel vergewaltigt wurde. Sein Mut hat ihn seine Freiheit gekostet: Er ist wieder im Gefängnis. Wenn die Gefangenen entlassen werden, haben sie keine Lust mehr, auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren. Die Regierung hat den Hirak in Algerien getötet.
Die Repression ist zu stark, die Regierung findet alle Mittel. Sie greift unsere Familien an, die in Algerien geblieben sind, weil wir anprangern wollen, was in Algerien wirklich passiert. Wir werden als Terrorist:innen betrachtet, wir wollen aber nur einen Rechtsstaat mit transparenten Wahlen und echten politischen Parteien.
Die Situation hat sich verschlechtert. Das Lied von Cheb Bello beweist es: „Tebboune, du hast uns reingelegt, gib uns Bouteflika wieder“.
Und so hat der Hirak nun ein neues Ziel: Anti-Korruption, Anti-Autokratie.
Jahrzehntelang kämpften verschiedene Bewegungen genau dafür: ein demokratisches Algerien, darunter der FNL und der Hirak. Wie kommt es deiner Meinung nach, dass die Regierung sich aber immer weiter von demokratischen Zügen entfernt?
Algeriens Bodenschätzen könnten reiche und entwickelte Länder errichten. Doch vor Ort herrscht ein Elend, eins, dass man sich hier in Europa nicht vorstellen kann. Es gibt keinen Strom, kein Licht, kein fließendes Wasser. Die Menschen können sich kein Brot leisten. Um fünf Uhr morgens stehen sie Schlange, sie wollen nur einen Liter Milch kaufen.
Die Generäle hingegen sind alle Milliardäre, in US-Dollars. Einige besitzen Ölquellen in den USA. Mit welchem Geld konnten sie sich das leisten, wenn der Unabhängigkeitskrieg doch für beide Seiten eine Kostenfalle war?
Die Regierung und die Armee sind korrupt, das ist der wahre Grund. Die Regierung erpresst die wirtschaftlichen Akteure: „Wenn Sie mir zehn Prozent Nachlass geben, kaufe ich bei Ihnen“. Der Hersteller sagt ja. Die Regierung verlangt eine Anhebung des Marktpreises. Der Hersteller sagt ja. Sie stecken alle unter einer Decke, arbeiten alle zusammen. Und die Banque Nationale d’Algérie überweist das Geld auf die persönlichen Konten der Regierungs- oder Militärführer.
Die Bevölkerung hat nie auch nur irgendetwas von diesem Reichtum gesehen. Es gibt keine lokale Entwicklung, nur sehr wenige Güter werden direkt in Algerien hergestellt, alles wird importiert.
Wie könnten pro-demokratische Bewegungen in der algerischen Diaspora die Politik beeinflussen? Wie könnten sie die Einführung einer Demokratie in Algerien beeinflussen?
Tebbounes Mafia-Clan ist schlimmer als der von Bouteflika. Militär und Polizei spielen eine noch größere Rolle innerhalb dieser Regierung. Gesetze wurden geändert: Der Präsident hat mehr Macht, die Repression ist stärker und die Bevölkerung wird ärmer. In Algerien trauen sich die Menschen nicht mehr raus. Und jetzt richtet sich die Repression gegen uns, die Diaspora, die im Hirak ist. Anhand unserer biometrischen Daten: Wir sind alle als Gefährder:innen eingetragen.
Früher haben wir Neuankommenden aus Algerien geholfen eine Arbeit und eine Wohnung zu finden, um sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Jetzt wagen wir es nicht mehr: Das Risiko ist zu groß. Wir wissen nicht, ob es Menschen sind, die von der Regierung geschickt wurden, um sich in den Hirak einzuschleusen und Informationen zu sammeln, oder ob es wirklich nur Unschuldige sind. Die Regierung will unsere Stimmen unterdrücken. Und die europäischen Regierungen kollaborieren.
So wie im März 2022, als ein Ex-Militär, der nach Spanien geflohen war, weil er die Beteiligung der algerischen Regierung des Drogenhandels bezichtigt hatte, verhaftet und den algerischen Behörden übergeben wurde. Und das, obwohl Spanien die UN-Antifolterkonvention ratifiziert hat. Und die EU hat es nicht einmal verurteilt.
Und was will der Hirak hier in Deutschland und Europa erreichen?
Die Menschen in der algerischen Armee gehorchen Befehlen, manche haben keine Wahl: Wenn sie sich auflehnen, riskieren sie ihr Leben. Wir vom Hirak kennen dieses Dilemma, wir wollen ihnen nicht schaden. Wir wollen nur die Menschen aufrütteln, sei es auf der algerischen Seite oder hier in Europa. Die europäischen Regierungen geben für einen Moment ihre Ethik und ihr Gewissen zugunsten ihrer Interessen auf. So kann es nicht weiter gehen.
Dass es so viele Immigrant:innen gibt, ist allein die Schuld der europäischen Regierungen. Sie benutzen ärmere, undemokratische Länder für politische und wirtschaftliche Zwecke. Niemand verlässt sein Land freiwillig für immer. Ich wäre nach meinem Studium gerne nach Algerien zurückgekehrt, aber ich konnte nicht, es war für mich unmöglich unter einem Militärregime zu leben. Heute hat sich nichts geändert: Ganze Bevölkerungsgruppen fliehen vor Krieg, Unterdrückung und Elend.
Wir, der Hirak in Deutschland, wollen, dass die Mafia nicht mehr existiert, dass die EU aufhört, sie zu unterstützen und dass freie und unabhängige Wahlen in Algerien endlich stattfinden. Wir wollen einen Rechtsstaat.