28.05.2021
Wer stört die Ordnung?
Welches Erscheinungsbild gilt als „neutral" und welches nicht? Diese Frage stellt sich Simin Jawabreh in Bezug auf ein neues Gesetz für Beamt:innen. Illustration: Kat Dems
Welches Erscheinungsbild gilt als „neutral" und welches nicht? Diese Frage stellt sich Simin Jawabreh in Bezug auf ein neues Gesetz für Beamt:innen. Illustration: Kat Dems

Ein neues Gesetz regelt, wie Beamt:innen aussehen dürfen. Auch wenn es dabei vermeintlich um Neutralität und Objektivität gehen soll, werden die Regelungen Muslim:innen unverhältnismäßig treffen, meint Simin Jawabreh.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne Des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Im Bundesrat ist am 07. Mai 2021 das „Gesetz zur Regelung des Erscheinungsbilds von Beamtinnen und Beamten sowie zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften“ verabschiedet worden. Anlass für das Gesetzgebungsverfahren war ursprünglich ein Polizist, der mit verfassungsfeindlicher rechtsextremer Symbolik tätowiert war. Doch das frisch verabschiedete Gesetz enthält nun noch einen weiteren Zusatz: „Religiös oder weltanschaulich konnotierte Erscheinungsmerkmale“ sollen eingeschränkt oder sogar ganz verboten werden, sofern sie „objektiv geeignet sind, das Vertrauen in die neutrale Amtsführung der Beamtin oder des Beamten zu beeinträchtigen“. Damit geht es auf einmal um viel mehr als um Rechtsextremismus in der Polizei, nämlich um Grundfragen staatlicher Neutralität und Religionsfreiheit.            

Obwohl vergleichbare Themen in den sozialen Medien regelmäßig für Aufschrei sorgen, blieb es dieses Mal verhältnismäßig still. Zunächst diskutierten lediglich juristische Fachkreise, wie die Neutralität des Staates gegenüber persönlichen Religionsfreiheiten zu gewichten seien. Dann schalteten sich auch Islamverbände ein und warnten vor einem antimuslimischen Kopftuchverbot durch die Hintertür. Mit dem deutsch-israelischen Psychologen Ahmad Mansour meldete sich im Tagesspiegel schließlich eine Stimme zu Wort, die das Kopftuch als stets patriarchal repressive, unemanzipierte Symbolik liest und dafür plädierte, es aus dem öffentlichen Raum zu verbannen und für Beamt:innen zu verbieten.               

Die Frage an dieser Stelle soll aber kein reduktionistisches Kopftuch Pro-Contra-Wettern werden – darum geht es nicht. Entscheidend ist, wer oder was als neutral wahrgenommen wird und wer hingegen als ordnungsstörend und warum. Unter dieser Prämisse geht es daher nicht konkret um das Kopftuch, zentral ist vielmehr, dass in einer Welt, die von Machtverhältnissen geprägt ist, Kategorien von „Objektivität“ und „Neutralität“ stets herrschaftstheoretischen Ansprüchen obliegen. „Neutralität“ kann ihren Anspruch daher nicht einlösen, vielmehr ist sie selbst eine Norm und bildet einem gesamtgesellschaftlichen Durchschnitt ab. Wir leben nun mal nicht im luftleeren Raum ohne soziale Prägungen und Dynamiken.

Normierung vom „Eigenen“ durch Abgrenzung vom „Anderen“

Die Vorstellung, dass der säkulare Staat besonders neutral und objektiv sei, geht ideengeschichtlich auf die Epoche der Aufklärung zurück. Statt dem Trugschluss zu verfallen, von Übermenschlichem geleitet zu werden, rückte die Kantische Devise, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen in den Vordergrund. Wie Irfan Ahmad jedoch jüngst auf dis:orient argumentierte, bedeutete die Aufklärung größtenteils „keinen Bruch mit dem Christentum, sondern vielmehr eine Neueinschreibung des Letzteren“. So wurden beispielsweise christliche Missionierungen in den deutschen Kolonien auch nicht als widersprüchlich zu einem säkularem Staatsverständnis wahrgenommen. Stattdessen wurde das protestantische Christentum als „rational“ vorausgesetzt, während „der Islam als Antithese zu allem vermeintlich Rationalem“ galt.

Während also im „Westen“ eine imaginierte Gemeinschaft einen Ethos entwickelte, der sich als kultiviert, säkularisiert und modern verstand, erschuf sie zeitgleich ihr „östliches Gegenbild“ als repressiv, irrational und unzivilisiert. Diese Bilder waren nicht nur wirkmächtig für die Konstruktion einer „eigenen“ Identität, die sich vom konstruierten „Anderen“ positiv abgrenzte, sondern dienten darüber hinaus immer der ideologischen Legitimation imperialer Herrschaftspraktiken. Mit Blick auf den sogenannten „Orient“ bedeutete dies eine Projektion von Despotie, Grausamkeit, Fanatismus, Emotionalität, Traditionsgefangenheit und Vorwürfen der Frauenunterdrückung, während „der Westen“ als Fürsprecher der Frauenemanzipation, demokratisch, aufgeklärt, rational, selbstreflexiv und den modernen Werten verpflichtet erschien.

Die Mär vom aufgeklärten Land

Auch heute spielt Deutschland generationsübergreifend mit seinen gefeierten Dichtern und Denkern (generisches Maskulinum beabsichtigt) nach wie vor gerne das aufgeklärte Land: freiheitlich, rational, stark, klardenkend, neutral. Die privilegierte Sonderstellung des Christentums wird dabei ausgeblendet. Der „eigenen“ Religion kommt eine derart mächtige Vormachtstellung zu, dass sie gesellschaftlich als quasi unreligiös wahrgenommen und behandelt wird.

Auch wenn wir säkular sind, hängen in bayrischen Amtszimmern Kreuze. Wir sind säkular, werden aber von einer christlich-demokratischen Partei regiert. Aller Säkularität zum Trotz sind die allermeisten gesetzlichen Feiertage in Deutschland christlichen Ursprungs. Weil sich das Bild des „Eigenen“ aus der Konstruktion des „Anderen“ speist, wird der Islam als ordnungsstörend verhandelt, sodass es ihn zu reglementieren gelte. In dieser Logik ist der Islam die religiöse Religion. Auch deswegen stellt sich das deutsche Fernsehen viel zu gerne die Frage: Gehört der Islam überhaupt zu Deutschland?

Statt darüber zu sprechen, ob muslimisches Leben zu Deutschland gehört oder nicht, sollten wir uns fragen, warum diese Frage überhaupt diskutiert wird. Während jährlich stattfindende sexuelle Gewalttaten auf dem bayerischen Oktoberfest weitgehend unsichtbar bleiben, fantasierte sich nach der Kölner Silvesternacht 2015 gefühlt das halbe Land die importierte Gefahr durch migrantische Frauenunterdrücker zusammen. Obwohl Femizide in allen gesellschaftlichen Gruppierungen gleich häufig auftreten, werden patriarchale Strukturen immer wieder als für Deutschland fremd ausgewiesen. Dieser Tage sorgen sich Politiker:innen darum, dass Muslim:innen Antisemitismus nach Deutschland importieren würden – und das in einem Land, welches die systematische Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden zu verantworten hat.

Was all diese Zuschreibungen gemeinsam haben: Sie konstruieren ein Islambild, das exotisierend vereinnahmt, hierarchisierend herabgesetzt und ausgegrenzt wird. Um selbst für Ordnung und Sicherheit stehen zu können, müssen die „Anderen“ als fremde, ordnungsstörende Gefahr inszeniert werden.

Neutralität heißt Norm

In einer Welt, die sich über Machtverhältnisse strukturiert, bedeutet Neutralität letztendlich vor allem eines: einer aus dieser Ordnung geschaffenen Norm zu entsprechen, deren eigene Konstruktion davon abhängt, sich von anderen abzugrenzen. Da stellt sich die Frage, wen dieses Gesetz betreffen wird.

Dass das Erscheinungsbild von Beamt:innen Neutralität und Objektivität ausstrahlen soll, bedeutet, dass diese Anforderungen vorerst diejenigen treffen, die als gesellschaftlich „Andere“ gelten – nicht-christlich, nicht-weiß, nicht-männlich. Das rückt die Muslima mit Kopftuch ins Zentrum der neuen Regelungen. Es ist zu erwarten, dass einem weißen Mann mit Kreuzarmband seine objektive Zurechnungsfähigkeit weniger abgesprochen werden wird als einer nicht-weißen Frau mit muslimischer Symbolik. Solche Gesetze verlaufen dementsprechend nicht nur anhand gesellschaftlich vorhandener Machtstrukturen, sie perpetuieren und verstärken diese zusätzlich. Auch wenn das Gesetz sie nicht direkt benennt und sogar behauptet, durch die scheinbare Neutralität die verfassungsmäßig garantierte Freiheit der Menschen schützen zu wollen: Muslim:innen müssen mit weiterer Stigmatisierung und gesellschaftlicher Exklusion rechnen.

Und überhaupt: Es ist zu bezweifeln, inwiefern das Erscheinungsbild im Jahre 2021 Rückschluss auf die Fähigkeit eigener Amtsführung geben kann. Wenn die Nazis von heute in Hipster-Klamotten rumlaufen und die Corona-Leugner:innen im Fair-Trade-Outfit ihren Kaffee im Prenzlauer Berg schlürfen, brauchen wir vielleicht andere definitorische Marker als bloß äußerlich erkennbare Merkmale.

 

Mehr Arbeiten der Illustratorin Kat Dems finden sich auf ihrem Instagram-Account oder auf ihrer Webseite. 

 

 

 

 

Simin Jawabreh (@siminjawa) absolviert gerade ihren Bachelor in Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Jawabreh arbeitet an der Humboldt Universität Berlin im Lehrbereich Theorie der Politik, in der politischen Bildungsarbeit und ist antirassistisch organisiert. Sie beschäftigt sich mit abolitionistischen Theorien, Dekolonialismus...
Redigiert von Maximilian Ellebrecht, Johanna Luther