20.04.2020
„Die israelische Blockade muss aufgehoben werden“
Ahmed Abu Artema, Foto: Pedro Rios
Ahmed Abu Artema, Foto: Pedro Rios

Ahmed Abu Artema aus Gaza ist Ideengeber der „Great March of Return“-Proteste, die seit 2018 an der Grenze zu Israel stattfinden. Im Interview spricht er über die Folgen des Corona-Virus in Gaza und die Zukunft der Protestbewegung.

Ende März meldeten die palästinensischen Gesundheitsbehörden die ersten Coronavirus-Fälle im Gazastreifen. Seitdem wächst die Sorge, dass sich das Virus in dem von Israel abgeriegelten Küstenstreifen ausbreiten könnte und sich die humanitäre Lage vor Ort weiter verschlimmert. Um dem vorzubeugen, haben die Behörden das öffentliche Leben in Gaza im Eiltempo heruntergefahren; es gelten Ausgangsbeschränkungen, Großveranstaltungen wurden abgesagt.

So auch die seit zwei Jahren andauernden Great March of Return-Proteste, bei denen tausende Palästinenser*innen jeden Freitag an der Grenze zu Israel demonstrierten. Der 35 Jahre alte Journalist und Schriftsteller Ahmed Abu Artema ist der Begründer der Proteste, zu denen er 2018 über Facebook aufrief.

Im Gazastreifen, einem Gebiet, das so isoliert und dicht bevölkert ist wie kaum ein anderes auf der Welt, wurden mittlerweile dreizehn Corona-Fälle nachgewiesen. Wie ist die Situation vor Ort?

Bis jetzt ist die Situation noch unter Kontrolle. Gerade weil Gaza so abgeschnitten vom Rest der Welt ist. Außerdem haben die Gesundheitsbehörden in Gaza schnell gehandelt und Maßnahmen zur Eindämmung des Virus eingeleitet. Schulen und Märkte wurden geschlossen und in den Moscheen werden keine Gebete mehr abgehalten. Auf den Straßen ist viel weniger los als üblich, auch wenn nicht alle Leute den Ernst der Lage begreifen.

Darüber hinaus müssen alle Menschen, die nach Gaza zurückkehren, für drei Wochen in Quarantäne. Ich denke, dass diese Maßnahmen dazu beigetragen haben, dass Gaza bis jetzt nur wenige Corona-Fälle zu verzeichnen hat. Und ich hoffe, dass es so bleibt, denn wenn sich das Virus in Gaza ausbreitet, wäre das eine absolute Katastrophe. Nach dreizehn Jahren unter israelischer Land-, Luft-, und See-Blockade steht unser Gesundheitssystem am Rande des Zusammenbruchs.

Wie genau wirkt sich die israelische Blockade auf die Kapazitäten des Gesundheitssystems und der Bevölkerung aus, das Corona-Virus einzudämmen?

Die israelische Blockade schränkt den Waren- und Personenverkehr zwischen Gaza und dem Rest der Welt massiv ein. Beispielsweise wird der Import dringend benötigter Baumaterialien nur selten genehmigt, was dazu führt, dass vielköpfige Familien oft auf engstem Raum zusammenleben. Selbstisolation und „social distancing“ ist daher für die meisten der zwei Millionen Menschen in Gaza [einem Gebiet so groß wie Bremen, Anm. d. Red.] unmöglich.

Außerdem erschwert die Blockade auch den Import von medizinischen Gütern. In den Krankenhäusern gibt es nicht genügend Betten, wichtige medizinische Ausrüstung, wie Beatmungsgeräte, fehlt. Der Mangel an Baumaterial hat auch den Bau neuer Krankenhäuser sehr verlangsamt. Das Gesundheitssystem in Gaza befindet sich daher in einem katastrophalen Zustand und wäre nicht in der Lage, einen großflächigen Corona-Ausbruch zu bewältigen.

Eine Fabrik in Gaza exportiert derzeit Atemschutzmasken nach Israel und die israelischen Behörden haben die Einfuhr von 200 Corona-Tests in den Gazastreifen gestattet. Könnte diese Kooperation die Beziehungen zwischen Israel und der Hamas-Regierung in Gaza verbessern?

Zuerst einmal ist Israel in Gaza nach wie vor Besatzungsmacht und ist völkerrechtlich dazu verpflichtet, die medizinische Versorgung der Zivilbevölkerung sicherzustellen. Es ist also Israels Pflicht, die Einfuhr von Corona-Tests nach Gaza zu erlauben und kein besonderes Entgegenkommen. Natürlich nimmt Israel diese Verantwortung oft nicht wahr und versucht durch Verschärfungen oder Lockerungen der Blockade politischen Druck aufzubauen. Die Hamas wiederum ist durch ihre ideologische Struktur sehr eingeschränkt, was Verhandlungen mit Israel angeht. Deswegen glaube ich nicht, dass es zu Verhandlungen kommen wird.

Wichtiger ist jedoch, dass sich die meisten Palästinenser*innen nichts mehr von Verhandlungen mit Israel versprechen. 27 Jahre nach den Oslo-Abkommen gibt es immer noch keinen palästinensischen Staat. Stattdessen wollen israelische Politiker*innen, mit Rückendeckung der Trump-Regierung, große Teile der besetzten palästinensischen Gebiete annektieren. Was also sollte die politischen Fraktionen in Gaza zu Verhandlungen bewegen? In der gegenwärtigen politischen Lage glauben sie nicht, dass Israel auch nur die geringsten Zugeständnisse machen würde.

Was muss jetzt passieren, um eine weitere Ausbreitung des Coronavirus in Gaza zu verhindern?

Die israelische Blockade muss sofort vollständig aufgehoben werden, damit lebenswichtige medizinische Ausrüstung, Baumaterial und alles was zur Bekämpfung der Pandemie benötigt wird, nach Gaza gelangen kann. Das sollte unverzüglich geschehen und nicht an politische Bedingungen geknüpft sein. Wir müssen zwischen politischen Interessen und den humanitären Bedürfnissen der Menschen in Gaza unterscheiden. Israel muss aufhören, die Grundbedürfnisse der Menschen im Gazastreifen als politisches Druckmittel zu benutzen.

Du setzt dich selbst aktiv für ein Ende der Blockade ein. Als Ideengeber der wöchentlichen Great March of Return-Proteste hast du tausende Palästinenser*innen inspiriert, für knapp zwei Jahre an der Grenze mit Israel zu demonstrieren. Wie kam es dazu und was wolltest du erreichen?

Wie die meisten Menschen in Gaza komme ich aus einer Familie Geflüchteter, die 1948 aus ihrem Dorf bei Ramla, einer Stadt zwischen Tel Aviv und Jerusalem, vertrieben wurden. Als Geflüchtete haben wir ein  Recht auf Rückkehr, das die Vereinten Nationen wiederholt bestätigt haben. So veröffentlichte ich 2018 einen Facebook-Post, in dem ich alle geflüchteten Menschen in Gaza dazu aufrief, zur Grenze mit Israel zu marschieren, um unser Recht auf Rückkehr und ein Ende der Blockade einzufordern. Damals war ich vor allem von zwei Dingen geleitet.

Und zwar?

Zum einen hatte die Trump-Regierung gerade bekannt gegeben, die Zahlungen an das UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) auszusetzen, was unser Recht auf Rückkehr existenziell bedroht. Zum anderen hat die Blockade das Leben in Gaza unerträglich gemacht. Die Menschen sind eingesperrt, die Jugendarbeitslosigkeit steht bei 67 Prozent – es gibt wenig Hoffnung. Deswegen schrieb ich in meinem Aufruf: Warum sollen wir uns dem stillschweigend fügen? Lasst uns der Welt zeigen, dass wir hier sind. Lasst es uns versuchen.

Allein im ersten Jahr der Proteste wurden 195 Demonstrant*innen von israelischen Scharfschütz*innen erschossen. Unter ihnen waren Journalist*innen, Sanitäter*innen und Kinder. Das könnte vom Internationalen Strafgerichtshof (ICC) geprüft werden, falls er beschließt, eine Untersuchung in Palästina einzuleiten. Glaubst du, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden?

Ich hoffe wirklich, dass der ICC die Straflosigkeit, mit der Israel in den palästinensischen Gebieten agiert, beenden wird. Als Besatzungsmacht glaubt das israelische Militär, es stünde über dem Völkerrecht. Es ist höchste Zeit, dem zu widersprechen. Gaza hat es bitter nötig, dass Gerechtigkeit Einzug hält und die Menschenrechte geschützt und respektiert werden. Andernfalls werden wir noch mehr Verbrechen gegen Palästinenser*innen erleben und noch mehr Opfer zu beklagen haben.

Vergangenen Dezember beschlossen die Organisator*innen der Proteste, die Häufigkeit der Demonstrationen zu verringern, da Gespräche zwischen Israel und der Hamas Fortschritte machten. Bestätigt das nicht den Vorwurf, dass die Hamas die Proteste für ihre Zwecke instrumentalisiert?

Die Proteste werden von der Kommission des Great March of Return geleitet. Diese setzt sich aus Vertreter*innen der Zivilgesellschaft und aus Vertreter*innen aller politischer Fraktionen, einschließlich der Hamas, zusammen. Das bedeutet, dass weder die Zivilgesellschaft noch die Hamas allein über die Proteste bestimmen. Aber natürlich spielt die Hamas, als stärkste politische Kraft in Gaza, eine wichtige Rolle in der Kommission.

Die Entscheidung die Proteste zu reduzieren, hatte jedoch weniger mit den Beziehungen zwischen Israel und der Hamas zu tun, sondern beruhte auf einer internen Bewertung des Great March of Return. Es gab Unmut in der Bevölkerung, dass wir mit so vielen Leben für unseren Protest bezahlen. Auch wurde in den Medien immer weniger über die Demonstrationen berichtet. Daher wird der Great March of Return in Zukunft nur noch einmal pro Monat stattfinden.

Angesichts dieser Entwicklung, welche Zukunft siehst du für den Great March of Return und für gewaltfreie Proteste im Allgemeinen?

Der palästinensische Unabhängigkeitskampf hat nicht mit dem Great March of Return begonnen und er wird auch nicht mit ihm enden. Selbst wenn der Great March of Return aufhören sollte, werden wir uns auf andere Weise für unsere Freiheit einsetzen. Ich bin überzeugt, dass gewaltfreie Massenproteste dabei auch weiterhin eine zentrale Rolle spielen werden – trotzt der vielen Opfer. So lange die Blockade und die Besatzung andauern und unsere Rechte als palästinensische Geflüchtete nicht respektiert werden, haben wir keine andere Wahl. Wir müssen immer nach Wegen suchen, uns Gehör zu verschaffen und die Welt daran erinnern, dass die gegenwärtige Situation untragbar ist.

 

Matthias studierte Rechtswissenschaften und Menschenrecht in England und Schweden. Während des Studiums verbrachte er im Rahmen von Auslandssemestern und Praktika längere Zeit in Israel und Palästina. In den letzten Jahren arbeitete er in Beratungsprojekten für Geflüchtete und ist seit 2020 bei dis:orient dabei.  
Redigiert von Anna-Theresa Bachmann, Lissy Kleer