18.12.2019
Kunst, keine Korrespondenz
Kollage aktueller ALQ-Titel von 2019, Illustrationen von Nabil Taj
Kollage aktueller ALQ-Titel von 2019, Illustrationen von Nabil Taj

Literaturmagazine können beeinflussen, wie wir auf arabische Literatur und Übersetzung blicken. Das ist auch das Ziel von ArabLit Quarterly (ALQ): Statt Identität und Orientalismus, stehen dabei Qualität und Kunst im Mittelpunkt.

Außereuropäische Literatur wird oft als Verständigungsmittel zwischen „uns“ und „den Anderen“ vorgestellt. Arabische Literatur kommt dabei eine Sonderrolle zu: In einem orientalistischen Framing soll sie weißen Europäer*innen dabei den (vermeintlichen) Orient näher bringen. Literaturübersetzungen werden hier zum Mittel eines „interkulturellen“ Austausches.

Dabei wird jedoch gerne unterschlagen, dass dieser Austausch bestimmten Rahmenbedingungen unterliegt: Verlage orientieren sich an der öffentlichen Nachfrage, diese wird wiederum von teilweise orientalistischen und stereotypen Vorstellungen geleitet, die in der Gesellschaft bestehen.

Dis:orient Kolumnistin Leonie Nückel stellte vor einigen Wochen bereits die wichtige Frage: „Was erwartet ein Publikum in Deutschland von arabischer Literatur?“ Eine ebenso wichtige Frage richtet sich an die Literaturwelt: Wie kann die Übersetzung arabischer Texte mit dem Dilemma stereotypischer Erwartungshaltung umgehen? Und wie können weit verbreitete orientalistische Einstellungen mithilfe von Übersetzungen arabischer Literatur verändert werden?

Vor diesem Hintergrund entstand 2018 das progressive Literaturmagazin ArabLit Quarterly (ALQ) . Es will alternative Wege aufzeigen, wie arabische Literatur in Übersetzung gelesen und diskutiert werden kann. ALQ entstand um den Blog ArabLit, der bereits 2009 von nun Chefredakteurin Marcia Lynx Qualey gegründet wurde. Das Team ist auf der Welt verteilt, Lynx lebt beispielsweise in Rabat, Artdirektor Hassân Al Mohtasib in Deutschland. Das Magazin druckt in Deutschland, den USA, Großbritannien, Italien und Frankreich, die Texte erscheinen auf Englisch und Arabisch. Die Redakteur*innen sind in der arabischen Literaturszene als Kritiker*innen und/oder Übersetzer*inne zuhause. Die Philosophie des Magazins ist es, besonders junge arabische Literatur zugänglich zu machen, arabische Kunst zu feiern und Literaturkritik zu überdenken. Denn diese Kritik bestimmt darüber, wie gegenwärtig über arabische Literatur, Kunst und Übersetzung gesprochen wird.

Qualität statt Identität, Kunst statt Berichterstattung

Yasmina Jraissati vermittelt als Agentin arabische Autor*innen an europäische Verlage. 2018 wurde sie in einem Interview mit der FAZ gefragt, ob westliche Verlage besonders an Themen wie Terrorismus und Unterdrückung der Frauen interessiert seien. Ihr erster Gedanke war: „Durchaus, das ist ja normal. Es gibt Erwartungen und Vorurteile.“

Das bedeutet, orientalistische Annahmen bestimmen, welche Texte Verlage veröffentlichen. Die literarische Qualität der Texte scheint dabei eine untergeordnete Rolle zu spielen. Lynx erklärt in unserem Gespräch, dass sie hier die große Stärke von Literaturmagazinen sieht. Diese können sich mehr Flexibilität erlauben, da sie weniger marktabhängig sind. Lynx: „Literaturmagazine können experimenteller sein, vielleicht sogar ironisch, während Verlagshäuser mehr über die Aufnahme und den Verkauf der Texte nachdenken müssen“. Damit haben Literaturmagazine wie ALQ mehr Spielraum, um gegen die Reproduktion von Vorurteilen zu steuern und können das auf unterschiedliche Weisen tun.

ALQ erarbeitet die Auswahl der Themen und Texte im Team. Dabei orientieren sich die Namen der Ausgaben an den drei Radikalen, die dem jeweiligen Titelthema im Arabischen zugrunde liegen. So wurde die aktuelle Ausgabe mit „The Sea“ betitelt, oder eben: Ba-Ḥa-Ra. Das Magazin akzeptiert externe Einsendungen von Texten und Übersetzungen. Diese werden dann von Beiträgen der Redakteur*innen ergänzt. Generell findet sich in ALQ eine gute Mischung aus etablierten Autor*innen, wie die berühmte irakische Poetin Nazik al-Malaika, und jungen, zuvor kaum oder gar nicht übersetzten Stimmen. In der Ausgabe „The Strange“ (Ġa-Ra-Ba) fanden sich besonders viele unkonventionelle Beiträge. Zum Beispiel der von Eman Abdelrahim. Die Ägypterin schreibt Kurzgeschichten, inspiriert von ihren (Alb)träumen; dementsprechend blutig und surreal ist ihre Bildersprache.

In ALQ finden sich immer wieder auch Stimmen, die aus Krisengebieten kommen, die mit Flucht und Exil konfrontiert sind und aus dieser Position heraus oder über diese Position schreiben. Sie werden auf den Seiten des Magazins jedoch nicht auf diese Erfahrungen reduziert; vielmehr steht hier der literarische Wert im Vordergrund. Damit richtet sich ALQ bewusst gegen gängige Verlagspraxis. Für viele Buchhandlungen, Verlage und Zeitungen scheinen nämlich die Identität und Traumata der Autor*innen zur Marketingstrategie zu gehören. Wenn gleichzeitig Übersetzung lediglich als Verständigungsbrücke zu „den Anderen“ dient, werden Schriftsteller*innen plötzlich zu Kriegskorrespondent*innen. Zum Beispiel wurde Dima Wannous nach der Veröffentlichung ihres Romans Die Verängstigten (übersetzt von Larissa Bender) in vielen Interviews besonders über ihre Erfahrungen in Syrien befragt. Das Buch selbst und ihre Karriere als Schriftstellerin interessierten dagegen kaum. So wird Wannous wie zuletzt in der taz als politische Repräsentantin befragt, nicht als die Schriftstellerin, die eben ein preisgekröntes Werk veröffentlicht hat.

ALQ hingegen schafft, was vielen Veröffentlichungen arabischer Literatur misslingt: Das Magazin betrachtet und bewertet die Literatur um ihrer selbst willen. Wie Hartmut Fähndrich, einer der berühmtesten deutschen Übersetzer*innen, feststellt: „Literatur ist eben nicht Berichterstattung über das aktuelle Geschehen“. Sie sollte auch nicht so behandelt werden – sondern als Kunstform, die wie alle anderen Kunstformen auch, soziale und politische Realitäten verarbeite.

„Übersetzung ist ein kreativer Akt“

Die literarische Qualität des Textes steht in direkter Verbindung mit deren Übersetzung und dem Ziel dieser Übersetzung. Geht es darum, eine bestimmte Stimme zugänglich zu machen und somit den vermeintlichen interkulturellen Dialog zu unterstützen? Oder geht es darum, einen neuen Text zu erzeugen, den es zuvor noch nicht gab und der die Möglichkeit hat, mit Plot, Stimme und Narrativ bei den Leser*innen Gefühle hervorzurufen, die sie mit der*dem Autor*in verbinden?

Für die ALQ ist die Antwort klar. Chefredakteurin Lynx erklärt: „Ich bin fest davon überzeugt, dass Übersetzung ein kreativer Akt ist. Ja, es ist eine andere Kunstform als das Schreiben, aber die Komposition von Musik ist auch anders als Musik zu spielen, und niemand würde behaupten, dass Komposition keine Kunstform sei.“ Lynx plädiert für eine akademische Auseinandersetzung mit Übersetzung. Viel wichtiger aber ist ihr, dass Übersetzer*innen eine Leidenschaft für die richtigen Worte haben, welche die Gefühle und Intention eines Ausgangstextes übertragen können.

Deutlich wird diese Philosophie im Magazin, wenn Übersetzer*innen der Platz geboten wird, über ihren Prozess zu schreiben. So erkennt die Übersetzerin Huda Fakhreddine in „Syria“, einem Gedicht von Salim Barakat, ein linguistisches Spiel der Entfremdung vom Arabischen. Dabei hält Barakat die Leser*innen durch Wortwahl und Struktur auf der Schwelle zwischen Verständnis und Rätselhaftigkeit. Das Übersetzerteam transportiert indes das Gefühl der Entfremdung und imitiert Barakats Struktur so gut es geht im englischen Text. So sind die Übersetzer*innen der Gedichte, Kurzgeschichten und Romanauszüge neben ihrem Werk präsent – ihre Stimme wird ähnlich wertgeschätzt wie die der Autor*innen.

Ein weiterer Grund, weshalb das vorherrschende Verständnis von Übersetzung überdacht werden muss, ist daher die Tätigkeit der Übersetzung selbst. Übersetzung ist eine Form von Repräsentation und beinhaltet damit eine Machtposition gegenüber Text und Autor*in, die in eine Zielsprache transportiert werden sollen. Wie ein Narrativ vermittelt wird, ist mindestens so wichtig wie die Natur des Narrativs selbst. Worte haben schließlich keine festen Bedeutungen, sondern lassen sich interpretieren, dramatisieren und verwandeln; besonders wenn sie von einer Sprache in eine andere übertragen werden.

Es ist also gefährlich, so zu tun, als wäre die Stimme der Übersetzer*innen auf den Seiten des Buches irrelevant. Eine schlechte Übersetzung ist dann mindestens genauso schädlich wie überhaupt keine Übersetzung – sei es, weil Stereotype reproduziert werden oder die Reproduktion selbst unsichtbar wird. Das geschieht, wenn die Entscheidungen und Interpretationen des Übersetzungsprozesses ausgeblendet und die Übersetzer*in als Mittelsperson überlesen werden. Deshalb ist es wichtig zu erkennen: Übersetzung ist kein Mittel zum Zweck.

Seit den frühen Stunden des ArabLit Blogs stellt ALQ-Chefredakteurin Lynx deutliche Veränderungen in der Übersetzung arabischer Literatur fest. Sie bemerkt das Aufkommen eines längst überfälligen Interesses an außereuropäischer Literatur. Auch innerhalb der Szene gibt es seither einen Trend hin zu künstlerischen und experimentellen Übersetzungsformen. Lynx sagt: „Langsam, aber sicher wird arabische Literatur nicht nur als Verständigung zwischen ‚Wir‘ und ‚den Anderen‘ gesehen, sondern als Literatur anerkannt.“

"Jokes for the Gunmen" - Cover der Verlage Flammarion, Riad El-Rayyes und Granta

Judge a Publisher by their Cover

Auch Literaturkritik ist ein fester Bestandteil von ALQ. „Gute Literaturkritik ist für mich ebenso spannend wie das Buch, über das sie schreibt,“ so Lynx. Ihrer Meinung nach sollte Literaturkritik am besten nicht nur vom Text selbst erzählen, sondern auch von den anderen Texten, Bildern und Ereignissen, die ihn beeinflussen.

Die Literaturkritik in ALQ soll das Leseverständnis verbessern, indem sie Kontexte bereitstellt, anhand derer die eigenen kritischen Fähigkeiten getestet werden können. Literaturkritik – wie gute Übersetzung auch – hat eine Verantwortung gegenüber dem Text, über den sie spricht: Sie legt die Perspektive fest, mit der wir auf diesen Text blicken. Wenn diese Perspektive engstirnig und von Vorurteilen gefärbt ist, dann kann es die Leser*innen dazu verleiten, den Text ähnlich anzugehen.

Gleichzeitig kann Literaturkritik natürlich auch das Gegenteil tun. Sie bietet zum Beispiel die Möglichkeit, diskriminierende Strukturen innerhalb der Verlagsszene zu hinterfragen. Dazu soll zum Beispiel die ALQ-Rubrik Judge a book by its cover dienen, die im Gespräch mit Art Director Hassân Al Mohtasib entstanden ist. Für die The Strange Ausgabe nimmt Lynx zum Beispiel die je nach Veröffentlichungsland verschiedenen Buchcover von Mazen Maaroufs Kurzgeschichtensammlung Jokes for the Gunmen unter die Lupe. Die kleinen Illustrationen der arabischen Version gefallen ihr. Gute Cover sind für sie Abbildungen, die sich in einer subtilen Art mit dem Text selbst beschäftigen, die aber nicht von dem eigentlichen Werk ablenken. Das britische Cover schmückt ein knallbunter Plastiksoldat mit seriöser Miene. Es ähnelt einer Werbetafel. Das Cover der französischen Version lässt Lynx dagegen einfach nur grübeln. Abgebildet ist der nackte Oberkörper eines Mannes, der eine Bullenmaske trägt.

Eine solche Literaturkritik spricht zwar nur indirekt über Maaroufs Geschichten, dafür steht die (Re-)Präsentation arabischer Literatur von ausländischen Verlagen im Vordergrund. Die Richtung der Kritik wird also gedreht und nicht der Text, sondern die Entscheidungen der Verlage werden beleuchtet. Hier kann Kritik geäußert werden, ohne dass diese sich schwer und moralisch überlegen anfühlt. Vielmehr werden damit auch abstrakte Strukturen auf humorvolle Weise hinterfragt, wie zum Beispiel der Marktorientiertheit des britischen Covers, das ein Eigenleben separat vom Text entwickelt.

Am Ende zeigen uns Literaturmagazine wie ALQ mit experimentell und literarisch herausfordernden Beispielen, wie abwechslungsreich Übersetzung sein kann. Sie zeigen, dass Literatur in Übersetzung eben keine politische Korrespondenz, sondern Kunst ist. Sie versuchen Vorurteilen und Stereotypen zu begegnen, die auch in den Strukturen der Verlagswelt selbst stecken. Damit sind sie größeren Verlagshäusern ein gutes Stück voraus.

Marie hat Arabische Literatur (SOAS), Islamwissenschaft und Politik (Uni Hamburg) in Hamburg, Amman und London studiert. Ihr Interessenschwerpunkt liegt auf Postkoloniale Theorie, Übersetzung und Fragen von Repräsentation in Literatur. Im Moment arbeitet sie am Poetry Translation Centre in London. Bei dis:orient ist sie seit Sommer 2019...
Redigiert von Charlotte Wiemann, Johannes Gunesch