Nicht erst seit den Anschlägen von Paris und Istanbul dominiert der sogenannte „Islamische Staat“ die mediale Berichterstattung über den Nahen Osten. Doch was verbirgt sich hinter der Organisation? Wie war ihr Aufstieg möglich? Christoph Reuters Monographie „Die schwarze Macht – Der „Islamische Staat“ und die Strategen des Terrors“ tritt an, diese Fragen zu beantworten. Eine Rezension von Henning Schmidt.
Christoph Reuter verfolgt mit seinem Buch einen hohen inhaltlichen Anspruch. Es geht ihm um nicht weniger, als den sogenannten Islamischen Staat - kurz IS - in seiner Gesamtheit, in all seinen Facetten und Mutationsformen darzustellen. Seine Entstehung, inklusive die seiner Vorläuferorganisationen, will er nachzeichnen und dabei auch die Hintermänner aufzeigen, die den Aufstieg des IS planten. Sein Ziel ist ferner, die Taktik des IS, Allianzen schnell zum eigenen Vorteil zu wechseln, zu erhellen. Zunächst nimmt Reuter jedoch die gängigen Erklärungsmuster zum Phänomen Islamischer Staat unter die Lupe und zieht sie in Zweifel. Der Islamische Staat ist für ihn weder eine reine Abspaltung von al-Qaida, noch eine Art „Holding zur Profitmaximierung im Diesseits“ – eine Deutung, die laut Reuter vor allem unter Kriminalisten viele Anhänger hat. Doch auch der in den Geisteswissenschaften populäre Verweis auf die apokalyptischen Verlautbarungen und die ihnen eigene Todesverherrlichung – verbunden mit dem Glauben, in göttlicher Mission unterwegs zu sein – reichen für Reuter nicht aus, um das Wesen und den Erfolg des IS zu erklären. Bloße Ideen genügten nicht, um halbe Länder zu erobern. Komplett irrationale, nur auf Plünderungen ausgerichtete Terroristen kämen nicht auf die Idee, einen Staat zu gründen. Kriminelle Energie alleine sei keine Basis, auf der ein solcher Staat errichtet werden könnte und die noch dazu in der Lage sein sollte, tausende Kämpfer hinter sich zu versammeln.
Hauptwurzeln: al-Qaida und irakische Baath-Strukturen
Was also verbirgt sich hinter dem IS? Reuter benennt gleich zu Beginn die entscheidenden beiden Wurzeln des IS, um die genauen Umstände und Zusammenhänge dann im Verlauf des aus insgesamt 12 Kapiteln plus Ausblick bestehenden Bandes Schritt für Schritt ausführlicher zu beleuchten. Diese beiden Wurzeln des IS identifiziert Reuter zutreffend in einem ungewöhnlichen Bündnis, bestehend aus den Resten der al-Qaida im Irak, die zu diesem Zeitpunkt durch US-Angriffe stark geschwächt war, und aus hoch professionellen, in den Untergrund abgetauchten Geheimdienstkadern des eigentlich arabisch-nationalistischen und dezidiert säkularen Baath-Systems Saddam Hussains. Den Kitt dieses widersprüchlichen Bündnisses identifiziert Reuter in der gemeinsamen Überzeugung, dass das Volk durch eine kleine Gruppe geführt werden müsse. Ab 2010 seien es die alten Geheimdienstkader aus dem Baath-Apparat gewesen, die sehr planvoll daran gegangen seien, Schritt für Schritt die Voraussetzungen für den späteren Erfolg des IS zu schaffen. Maßnahme Nummer eins sei dabei der Rückgriff auf Mafiamethoden gewesen, vor allem die Erpressung von Schutzgeldern. Der IS hatte also zum Zeitpunkt seiner „Geburt“ mehr mit einem italienischen Mafiaclan als einer extrem effektiven Armee gemein. Indem Reuter den Lebensweg von Protagonisten ausführlich nachzeichnet und ihre Verbindung zueinander herausarbeitet, schafft er es, Zusammenhänge plastisch darzustellen und den Lesern spannend zu vermitteln. So zeigt er unter anderem am Beispiel von Abu Mussab al-Zarqavi, dem Gründer von al-Qaida im Irak, und Hadji Bakr, einem ehemaligen irakischen Luftwaffengeneral, das Zusammenwachsen von al-Qaida und alten Baath-Strukturen auf.
Mit Stasimethoden zum Erfolg
Ein großer Verdienst des Buches ist, dass es anhand ausgewerteter Originalaktenfunde genau zeigen kann, wie al-Baghdadi extrem akribisch bis auf Lokalebene Befehlsstrukturen für den „Islamischen Staat" entwarf. Durch Kundschafter ließ er auf subtile Weise Dörfer unterwandern, damit deren wichtigste Familien ermittelt, die Stärke eventuell vorhandener gegnerischer Rebellen aufgeklärt und auch kleinste Risse und Konflikte unter den Dorfältesten ausgenutzt werden konnten. Auch Bündnisschlüsse durch die Hochzeit mit Töchtern von Stammesältesten gehörten zu diesen Methoden, aufgrund derer Reuter den IS auf den Namen „Stasi-Kalifat“ tauft. Auf diese Weise konnte sich die Organisation schleichend eine Machtbasis in Nordsyrien aufbauen, ohne sich gleichzeitig Feinde zu machen, die zu schlagen sie noch zu schwach war. Reuter belässt es nicht nur bei dieser Analyse und nennt auch die Namen einer ganzen Reihe von ehemaligen Baath-Funktionären, die in die Spitze des IS aufrückten.
Radikal anders als al-Qaida
Ein wichtiger, von Reuter gut herausgearbeiteter Unterschied zeigt sich, wenn man al-Qaida und den IS vergleichend untersucht. Der IS wird von Reuter dabei als etwas Neues, in dieser Form noch nicht Dagewesenes charakterisiert. Die Führung al-Qaidas habe noch an Gott geglaubt und auf die muslimischen Massen gesetzt, die sich aus eigenem Antrieb im Namen Gottes gegen ihre Unterdrücker erheben würden. Mit letzteren waren sowohl die säkularen Regimes im Nahen Osten als auch der ferne Feind, also der gottlose Westen, gemeint. Der IS ist für Reuter hingegen nicht in erster Linie gläubig und hofft auch nicht auf die Erweckung der Massen. Ihm genüge es vollauf, mit brutaler Unterwerfung und dem von den alten Saddam-Kadern erlernten hoch effizienten Kalkül einen halbwegs funktionierenden Staat zu erschaffen. Somit biete der IS Islamisten jenes Utopia, an dessen Errichtung al-Qaida gescheitert war. Dabei bediene sich der IS des Korans, kopiere die islamische Frühzeit und versuche letztlich, den Islam losgelöst von seiner jahrhundertealten Deutungsgeschichte in seinem Sinne ganz neu zu verkünden.
Terrorhelfer Assad-Regime
Schon früh in seiner Darstellung bleibt Reuter – im Unterschied zu populären „IS-Erklärern“ wie dem Publizisten Jürgen Todenhöfer – bei der Suche nach den Ursprüngen des IS nicht nur bei der unbestreitbar bedeutsamen Zerschlagung von irakischer Verwaltung und Armee infolge des US-Einmarschs, sondern weist darauf hin, dass der IS auch ein Produkt des syrischen Geheimdienstes ist. Alle Führungsfiguren des IS seien, mittelbar oder unmittelbar, durch den syrischen Geheimdienst protegiert worden – und zwar nicht erst seit 2011, als das Assad-Regime begann, auf Terroristen zurückzugreifen, um einen Feind zu kreieren, der als schlimmer angesehen wurde als die eigene Herrschaft. Bereits 2006 reisten spätere IS-Kämpfer über Syrien in den Heiligen Krieg im Irak, wie Aktenfunde der US-Armee aus dem Jahr 2007 belegen. Plastisch und anhand vieler schillernder Beispiele zeigt Reuter, wie tief das Assad-Regime in die Unterstützung, Ausbildung, Terrorfinanzierung und den Aufbau der IS-Camps verstrickt ist. Auch die Nusra-Front sei, so Reuter, ohne das syrische Regime nicht denkbar: Ihre Entstehung sei vor allem auf die gezielte Freilassung führender Dschihadisten aus syrischen Gefängnissen zurückzuführen, welche der Chef des syrischen Militärgeheimdienstes, Asif Schaukat, ab 2011 veranlasst hatte. Selbst der erste Anschlag der Nusra-Front am 23. Dezember 2011 in Damaskus sei durch das syrische Regime inszeniert worden, um die eigene These vom terroristischen Aufstand zu untermauern. Auch hier benennt Reuter Schaukat als Drahtzieher.
Chronik der Ereignisse und mehr
Neben der Benennung von Akteuren und der Analyse der inneren Funktionsweise des IS zeichnet der Band auch den gesamten Verlauf des Aufstiegs des IS bis zum Frühjahr 2015 nach. Er zeigt den Blitzkrieg der Dschihadisten im Irak, dessen Erfolg vor allem mit der Diskriminierung der Sunniten im irakischen Staatsapparat nach 2003 erklärt wird. Die irakischen Sunniten seien nicht bereit gewesen, für eine von ihnen verachtete Regierung ihre Knochen hinzuhalten, so Reuter. Nur so sei die schnelle Eroberung Mosuls möglich gewesen. Ebenso geht Reuter auf den Aufstieg des IS in Syrien und die recht verzweifelten Versuche lokal organisierter und anderer syrischer Rebellengruppen ein, sich gegen den straff organisierten IS zur Wehr zu setzen. Die leicht anarchistischen Gruppen seien regelrecht überrumpelt worden. In einem weiteren Kapitel kommt die Schlacht zwischen Kurden und IS im Sindjar Gebirge zur Sprache, wo kurdische Truppen einen Genozid an den Jesiden abwehren konnten - wobei Reuter dieses Ereignis als eine Wende für den IS bewertet. In diesen Kapiteln neigt Reuter dazu, die Ereignisse gelegentlich zu detailverliebt auszuwalzen. Dennoch wird es nie wirklich langweilig und als Leser_in erhält man auf diese Weise einen detaillierten und fundierten Überblick der Aktivitäten des IS in Syrien und dem Irak bis zum Frühjahr 2015. In weiteren Kapiteln untersucht Reuter die Medienabteilung des IS und ihren Einfluss auf die islamistische Szene in Deutschland, die Wirtschaft des selbsternannten Kalifats und die Rolle der Nachbarstaaten Syriens und Iraks für den Aufstieg des IS.
Das neue Standardwerk
Mit „Die Schwarze Macht – Der „Islamische Staat“ und die Strategien des Terrors“ gelingt Christoph Reuter unter dem Strich ein großer Wurf. Seinen Vorsatz, den inneren Aufbau des Islamischen Staates zu entschlüsseln und dabei auch die Namen der entscheidenden Akteure zu nennen, löst er ein. Auch die Strategie des IS wird ausführlich beleuchtet. Des Weiteren geht Reuter auf die Propaganda der Organisation im Ausland ein und zeichnet mit großer Akribie die Ereignisse in Syrien und dem Irak bis Anfang 2015 nach. Trotz gelegentlicher Längen ist das Buch insgesamt spannend zu lesen und exzellent recherchiert. Wer sich bislang wenig mit dem Phänomen beschäftigt hat, bekommt hier ein Werk in die Hand, welches das Zeug hat, zumindest im deutschsprachigen Raum noch auf Jahre hinaus das Standardwerk zum Thema Islamischer Staat darzustellen. Man kann die Lektüre jedem Interessierten nachdrücklich empfehlen.
Christoph Reuter: Die schwarze Macht. Der „Islamische Staat“ und die Strategen des Terrors, DVA, München, 352 Seiten, 19,99 Euro Das ausführliche Alsharq-Interview mit Christoph Reuter zur Berichterstattung über den Syrien-Krieg lesen Sie hier: "Eine Bankrotterklärung für den Journalismus" - Teil 1 und Teil 2.
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