10.06.2022
Wir brauchen eure Liebe nicht!
Anti-Deutsche projizieren gerne ihre Ideologien auf Juden und Jüdinnen unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Antisemitismus. Illustration: Zaide Kutay
Anti-Deutsche projizieren gerne ihre Ideologien auf Juden und Jüdinnen unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Antisemitismus. Illustration: Zaide Kutay

Seit einem Jahrzehnt plant unsere Kolumnistin Marina Klimchuk, einen offenen Brief an die Anti-Deutschen zu schreiben. Der Eklat um die diesjährige documenta hat das Fass zum Überlaufen gebracht: Jetzt gibt es kein Zurück mehr.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Verehrtes „Bündnis gegen Antisemitismus Kassel“, liebe Anti-Deutsche aller Städte und Nationen!

Es reicht.

Ihr sagt, ihr seid links, ihr hasst Deutschland und liebt Israel. Eure Identität speist sich aus der historischen Schuld Deutschlands: Die bedingungslose Unterstützung des jüdischen Staates. Das ist seltsam, aber noch kann ich mitgehen.

Als die Mauer fiel, hattet ihr Panik davor, dass Geschichte sich wiederholen könnte. Ihr wolltet die Auferstehung eines neuen deutschen „Vierten Reiches“ verhindern. Deshalb zogt ihr euch schwarze Kleidung an und warft mit vermummten Gesichtern mit Steinen und Flaschen in Richtung Nazis und Polizei. Jugendsünden.

Heute hasst ihr Muslim:innen. Das wussten wir schon lange. Aber spätestens seit ihr im April die Fassade des Hauptsitzes von Ruangrupa, dem indonesischen Kurator:innenkollektiv der documenta fifteen, einer der bedeutendsten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst weltweit, mit rassistischen Aufklebern beklebt habt, können wir uns sicher sein. Ihr habt „Freiheit statt Islam!“ Und „Keine Kompromisse mit der Barbarei! Islam entschlossen bekämpfen!“ gefordert. Und natürlich zur „Solidarität mit Israel“ aufgerufen.

Seid ihr auch verantwortlich für die Graffiti-Beschmierungen im Ausstellungsraum des palästinensischen Kollektivs „The Question of Funding“ auf der documenta? Ihr streitet es ab. Doch zumindest das Klima, in dem ein solcher Anschlag möglich war, habt ihr geschaffen.

Was wisst ihr schon von jüdischen Fragen?

Denn Fakt ist, dass es in Sachen documenta euer „Bündnis gegen Antisemitismus Kassel“ war, das aus vollem Hals „BDS!!!!“ brüllte und behauptete, es gäbe eine Nähe zur transnationalen Kampagne, die zum Boykott Israels aufruft, woraufhin andere deutsche Medien im Echo nachkreischten. In einem „Meisterwerk der Investigativ-Recherche“ wart ihr es, die auf die angebliche Vernetzung der documenta 15 mit Propagandist:innen des völkisch-palästinensischen Extremismus hinwiest – Nachweise? Fehlanzeige.

Da Ruangrupa aus Indonesien, einem muslimisch geprägten Staat, stammt, warft ihr ihnen schamlos pauschalisierend vor, sie könnten gar keine Sensibilität für jüdische Fragen haben. Dafür solltet ihr mit dem „Faulen Apfel“, dem Negativpreis des deutschen Journalismus, ausgezeichnet werden. Denn mit Verlaub, was wisst ihr schon von jüdischen Fragen?

Mehrfach wurden diese Vorwürfe mittlerweile entkräftet, zum Beispiel im Monopol-Magazin, im Online-Blog Geschichte der Gegenwart, in der Berliner Zeitung und in der FAZ. Zu spät. Der Schaden ist angerichtet. Die geplante Diskussionsreihe „We need to talk! Art - Freedom - Solidarity“ über „das Grundrecht der Kunstfreiheit angesichts von steigendem Rassismus und Antisemitismus und zunehmender Islamophobie“ wurde abgesagt. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hatte den Organisator:innen vorgeworfen, sich bei der Gesprächsreihe nicht zur Genüge dem Thema Antisemitismus zu widmen und keine israelischen Künstler:innen eingeladen zu haben – leider hat auch der Zentralrat, gefangen in seiner Paranoia, schon lange den Blick fürs Wesentliche verloren.

Eine fehlgeleitete, hysterische Pein

Die documenta lud ein indonesisches Kollektiv ein, um den Blick des Globalen Südens auf die Welt und auf Kunst kennenzulernen. Das Problem: In Deutschland ist eine ehrliche Diskussion um das Verhältnis zwischen Postkolonialer Theorie, Israelkritik und Antisemitismus, wie sie international stattfindet, kaum möglich. Und solange zu dieser Diskussion der Mut fehlt, will man diesen Blick auch nicht haben.

Und ihr, liebe Anti-Deutsche, seid es, die die deutsche Antisemitismus-Debatte befeuert, obwohl diese alles andere als Feuer braucht. Denn sie ist auch ohne euch schon eine Szene „voller Aufgeregter, die einander in Symbolpolitik überbieten“, eine fehlgeleitete, hysterische Pein, wie Eva Menasse in ihrem pointierten und klugen Text vor wenigen Monaten in Der Zeit schrieb.

Für euch bedeutet „Solidarität mit Israel“ die bedingungslose Unterstützung eines ethnonationalistischen Staates, der seit über fünf Jahrzehnten das Leben und jeden Atemzug von Millionen Palästinenser:innen in Gaza und im Westjordanland kontrolliert. Eines Staates, dessen Armee eine Al-Jazeera Journalistin erschießt und es dann leugnet. Ihr nennt ihn die einzige „Demokratie im Nahen Osten“. Ja, Israel ist eine Demokratie. Aber eben auch eine Ethnokratie.

Wir brauchen eure Liebe nicht!

Viele Israelis lieben ihr Land. Wie lieben die Wärme der Menschen dort, die Musik, die Traditionen, die Sprache, die Sonnenuntergänge am Meer. Und doch schmerzt uns die politische Realität dieses Landes.

Und wenn ich, genauso wie die Künstler:innen von Ruangrupa, meine Stimme gegen die Verbrechen erhebe, die der jüdische Staat in meinem Namen begeht und gleiche Rechte für meine palästinensischen Mitbürger:innen fordere, wollt ihr mich nicht mehr als Jüdin. Denn eine gute Jüdin ist für euch nur eine bequeme Jüdin. Eine, die mit israelischer Flagge in der Hand gegen Antisemitismus demonstriert. Euer erklärter „Kampf gegen ‚jeden’ Antisemitismus“ ist nichts anderes als der Versuch, uns für eure weltfremde Ideologie zu instrumentalisieren. Das ist zynisch.

Wir brauchen eure „Liebe“ zu uns Juden und Jüdinnen und zu Israel nicht, denn wir wissen, dass sie nicht mehr ist als ein hohler Deckmantel, mit dem ihr eurem Hass gegen Muslim:innen und Geflüchtete freien Lauf lassen könnt. Die AfD fährt übrigens eine ganz ähnliche Taktik – und ist scharf darauf, uns als Mitglieder zu rekrutieren.

Denn jüdische und israelische Menschen wie ich sind für euch unsichtbar. Ihr wollt uns nicht hören und unsere Existenz nicht wahrhaben. Ihr fetischisiert uns und benutzt uns als Projektionsfläche, um durch uns euer langweiliges und undifferenziertes Mantra von „Solidarität mit Israel“ und „Es gibt keinen Anti-Zionismus ohne Antisemitismus“ zu legitimieren.

Hört auf, euch in wohltuender Irrelevanz zu suhlen!

Für mich bedeutet „Solidarität mit Israel“, dass Deutschland Israel darin unterstützen müsste, ein Staat zu werden, der nicht nur von jüdischen Menschen bevölkert wird, sondern auch jüdische Werten wie Pluralismus und Gerechtigkeit verkörpert. Das ist keine einfache Aufgabe. Lieber suhlt man sich in Anschuldigungen und in der wohltuenden Irrelevanz der deutschen Symbolpolitik.

Um einen echten Kampf gegen Antisemitismus zu kämpfen, müsstet ihr erst einmal einsehen, dass es unterschiedliche Arten von uns Juden und Jüdinnen gibt: Zionist:innen und Anti-Zionist:innen, linke und rechte Orthodoxe, ultraorthodoxe Feminist:innen, Hippie-Siedler:innen und solche, die sich als arabische Juden und Jüdinnen verstehen, weil ihre Eltern und Großeltern aus Nordafrika oder Westasien stammen.

Die meisten von uns finden BDS problematisch, aber ein paar unterstützen die Bewegung. Und wir alle haben ein Recht auf eine politische Stimme, selbst in Deutschland, wo man uns gerne auf ein Narrativ reduziert und diffamiert. Und wenn Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, uns linken Israelis „eine gewissen Sensibilität für die historische, deutsche Verantwortung“ ans Herz legen will, will er damit eigentlich sagen: Seid bitte still, ihr verderbt uns alles!

Liebe Anti-Deutsche und alle anderen, die sich hysterisch in die Hosen machen, wenn sie das Wort „Apartheid“ hören und bei der Erwähnung von BDS vom Stuhl fallen, weil sie darin die größte Bedrohung von Juden und Jüdinnen sehen: Vergesst nicht, dass die allermeisten antisemitischen Straftaten von rechtsradikalen deutschen Nazis begangen werden.

Wenn ihr als Deutsche oder Anti-Deutsche aufgrund eurer Geschichte die besondere Verpflichtung in diesem Land ernst nehmt, hört auf, bei jeder Gelegenheit betroffen und pauschal Antisemitismus zu wittern! Hört auf, Muslim:innen zu hassen! Hört auf, die Meinungsfreiheit von arabischen und linken jüdischen Menschen in diesem Land einzuschränken – Stummschaltung hat noch nie geholfen. Aber die Gewohnheit hat euch so blind gemacht, dass ihr den Blick für den sehr realen und brutalen Antisemitismus in diesem Land verloren habt.

 

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

 

Marina ist in der Ukraine geboren und als Kind nach Deutschland eingewandert. Sie ist freie Journalistin, leitete bis zur Corona-Pandemie politische Studienreisen in Israel und Palästina und führte Gruppen durch die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Im Moment besucht sie die Reportageschule in Reutlingen.
Redigiert von Johanna Luther, Sophie Romy