05.11.2025
50 Jahre „Grüner Marsch“: Ein Gespräch über Widerstand und Hoffnung
Der sahrauische Aktivist Mohamed Dihani. Foto: privat.
Der sahrauische Aktivist Mohamed Dihani. Foto: privat.

Seit 50 Jahren besetzt Marokko die Westsahara. Im Interview spricht der Aktivist Mohamed Dihani über einen blinden Fleck in der Weltpolitik, sein Misstrauen gegenüber der UN und Melonis Besuch der sahrauischen Geflüchtetenlager. 

Mohamed Dihani ist sahrauischer Aktivist und politischer Geflüchteter, der seit seiner Kindheit gegen die marokkanische Besatzung der Westsahara kämpft. Heute lebt er im Exil in Italien und setzt sich weiterhin für die Rechte der Sahrauis ein.

Mohamed, wie ist die aktuelle Lage in der Westsahara?

Die Situation ist auf allen Ebenen tragisch. Die Westsahara ist ein besetztes Gebiet, das sowohl militärisch belagert als auch größtenteils von der Außenwelt abgeschirmt wird. Delegationen und NGOs wie Amnesty International dürfen nicht einreisen. Seit 2003 gab es viele Anfragen von UN-Sonderberichterstatter:innen und Arbeitsgruppen, die alle abgelehnt wurden. Demonstrationen oder Versammlungen sind verboten – besonders jene, die die Sahara-Frage in den Mittelpunkt stellen.

In den Geflüchtetenlagern herrschen prekäre Bedingungen. Die humanitäre Hilfe wurde stark reduziert – sowohl von den Vereinten Nationen als auch international, da viele Länder derzeit eigene Krisen durchleben. Seit dem Wiederaufflammen der Kämpfe im November 2020 hat es erneut zahlreiche Tote und Verletzte gegeben. Außerdem mussten über 6.000 Menschen aus den befreiten Gebieten fliehen.

Wie ist die Lage völkerrechtlich zu bewerten und was sind die internationalen Reaktionen?

In der Westsahara kommt es zu unzähligen Verstößen gegen das Völkerrecht – angefangen beim Waffenstillstandsabkommen zwischen Marokko und der Frente Polisario [Volksbefreiungsfront des sahrauischen Volkes, Anm. d. Red.], das unter der Aufsicht der MINURSO [1991 gegründete Mission der Vereinten Nationen für das Referendum in Westsahara, Anm. d. Red.] steht, aber auch von der Afrikanischen Union unterstützt wird. Letztere fordert weiterhin die Durchführung eines Referendums zur Unabhängigkeit der Westsahara – wie im Abkommen vorgesehen – damit die sahrauische Bevölkerung über ihr Schicksal entscheiden kann. Gleichzeitig haben mächtige Staaten wie Frankreich und die USA in den vergangenen Jahren die Souveränität Marokkos über die Westsahara wiederholt bekräftigt.

Ein weiteres großes Problem ist die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen. Mittlerweile investieren zahlreiche Unternehmen und Geschäftsleute in die Westsahara und unterstützen so die marokkanische Besatzung wirtschaftlich – etwa durch die Förderung von Phosphaten oder die Fischerei. Auch internationale Konzerne wie Siemens und besonders Unternehmen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, Israel und Saudi-Arabien sind beteiligt. Im Jahr 2022 schloss Marokko beispielsweise ein Abkommen mit einem israelischen Unternehmen über die Erdgasförderung in einem rund 33.000 Quadratkilometer großen Gebiet vor der Küste von Boujdour in der Westsahara.

Nach dem Normalisierungsabkommen zwischen Marokko und Israel im Jahr 2021 vertieften beide Länder ihre militärische, wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit. Marokko kaufte Drohnen und Satelliten im Wert von mehreren Milliarden Euro, um die besetzten Gebiete zu überwachen – bis an die Grenzen zu Mauretanien, Mali und Algerien. In den letzten Jahren wurden daher viele Algerier:innen und Sahrauis durch israelische Drohnen getötet.

Glaubst du, dass sich die Situation in naher Zukunft verbessern wird? 

Solange das sahrauische Volk existiert und man uns nicht endgültig von unserem Land vertreibt, gibt es Hoffnung – trotz allem, was geschieht. Doch ich vertraue der UN nicht mehr. Seit 1991 hören wir jedes Jahr: „In diesem Jahr gibt es eine neue Sitzung, vielleicht passiert etwas“ – und nichts geschieht. Stattdessen versuchen Frankreich und die USA gerade, die MINURSO abzuschaffen oder einzuschränken. Das wäre ein schwerer Schlag. Wenn das so weitergeht, denke ich, dass sich die Situation verschlechtern wird. Marokko wird nicht aufhören, sondern weiter angreifen und alle Mittel nutzen, die Westsahara als autonome Region einzugliedern.

Es gibt viele unterdrückte Gruppen auf der Welt. Was macht die Lage der Sahrauis besonders?

Wir werden oft das „vergessene Volk“ genannt – und das stimmt. Wir leben in einem afrikanischen Kontext, wo der Kolonialismus nie ganz verschwunden ist und der westliche Einfluss stark bleibt. Zudem erfährt Marokko im arabischsprachigen Raum große Unterstützung. Nur wenige Staaten – wie Mauretanien oder Algerien – erkennen die Sahrauische Republik an. Wir können uns mit den Kurd:innen oder Palästinenser:innen vergleichen, was die Besatzung und das Leid betrifft, aber im Gegensatz zu ihnen haben wir kaum internationale oder mediale Unterstützung. Ich hoffe, dass wir nicht erst Opfer eines Genozids werden müssen, damit die Welt uns endlich anerkennt.

Der sogenannte „Grüne Marsch“ ist Teil der marokkanischen nationalen Erinnerung. Wie stehen Marokkaner:innen der neuen Generation zu den Sahrauis?

Wenn wir von der heutigen Generation, der sogenannten Gen Z, sprechen, glaube ich nicht, dass sie diese Frage anders sieht. In Marokko gibt es laut der Verfassung drei „heilige Themen“: die königliche Familie, die territoriale Einheit – also auch die Westsahara – und den Islam. Wer in Marokko „Westsahara“ sagt, wird des Verrats beschuldigt, beispielsweise der ehemalige Präsident der marokkanischen Menschenrechtsvereinigung, der das Selbstbestimmungsrecht ansprach. 

Die marokkanische Bevölkerung wurde über Jahrzehnte propagandistisch geprägt. Immer wurde der Glaube vermittelt, dass die Sahara marokkanisch sei. Und die sahrauische Jugend wagt selten, offen zu protestieren. Wer in den besetzten Gebieten demonstriert, riskiert Gefängnis und Folter. Natürlich gibt es Ausnahmen: 2010 gab es das Protestlager Gdeim Izik, welches laut Noam Chomsky der Auslöser des sogenannten Arabischen Frühlings war.

Gibt es innerhalb der marokkanischen Linken Unterstützung für euch?

Teilweise, ja. Einige linke oder demokratische Parteien bekennen sich weiterhin zum Selbstbestimmungsrecht der Sahrauis, auch wenn sie vorsichtig sind. Viele ihrer Mitglieder sind in den 1970er- und 1980er-Jahren verschwunden oder wurden in geheime Gefängnisse gesperrt, weil sie die sahrauische Sache unterstützt haben. Heute gibt es noch vereinzelt linke Intellektuelle wie Omar Radi, die offen die Rechte der Sahrauis verteidigen, aber sie sind in der Minderheit und leben gefährlich.

Auch du lebst im Exil. Wie siehst du deine Rolle und die Rolle der Sahrauis in der Diaspora?

Viele von uns sind vor Unterdrückung geflohen. Ich selbst wurde schon als Kind verhaftet – 1996, mit neun Jahren – einfach, weil ich bei einer Demonstration mitlief. Ich verbrachte sieben Monate in einem Geheimgefängnis, später weitere Jahre in Haft. Ich war eineinhalb Jahre praktisch eingesperrt in meinem Haus, ständig überwacht. Sie tun das, um dich sozial zu isolieren – Freund:innen meiden dich, Nachbar:innen haben Angst vor Kontakt zu dir.

Heute lebe ich in Italien, wo es kaum sahrauische Geflüchtete gibt – im Vergleich zu beispielsweise 60.000 bis 70.000 in Spanien. Auch hier bekomme ich Drohungen, besonders nach Interviews oder Fernsehauftritten. Meine Familie in der Westsahara steht unter ständiger Überwachung. Sie werden wirtschaftlich und sozial bestraft, nur weil sie mit mir verwandt sind. Trotzdem mache ich weiter, weil ich an die Freiheit meines Volkes glaube.

Befürchtest du, dass du in Rom vom marokkanischen Geheimdienst beobachtet wirst?

Ja, sicher. Es gab Angriffe auf sahrauische Aktivist:innen in Frankreich, Belgien und anderen Orten. Ich selbst wurde zwar nie physisch angegriffen, aber oft verleumdet oder bedroht. Nach meiner Teilnahme an einer Fernsehdokumentation erhielt ich Hassmails und Drohungen. Einmal mussten mich sogar Polizist:innen des auf Terror- und Extremismusbekämpfung spezialisierten Zweigs der italienischen Polizei bei einer Veranstaltung beschützen.

Hat sich unter der Regierung Meloni etwas für sahrauische Aktivist:innen in Italien verändert?

Überraschenderweise ist unsere Situation in Italien besser als in Frankreich oder Spanien. Giorgia Meloni selbst hat als junge Abgeordnete die sahrauischen Geflüchtetenlager besucht. In ihrem Buch widmet sie der Sahara-Frage einige Seiten. Italien hat in ihrer Amtszeit die humanitäre Unterstützung für sahrauische Geflüchtete weitergeführt. Trotzdem habe ich Angst, weil ich politisch unabhängig, links und nicht Teil des offiziellen sahrauischen Apparats bin. Ich kritisiere auch italienische Gesetze, die Migrant:innen und Bürgerrechte einschränken. Deshalb bleibe ich wachsam.

Welche Botschaft möchtest du der internationalen Gemeinschaft anlässlich des Jahrestags der marokkanischen Besatzung der Westsahara senden?

Jeder Mensch, der über den Genozid in Gaza empört ist, sollte wissen, dass es andere Völker gibt, die ebenfalls vergessen und unterdrückt werden – wie das sahrauische Volk. Wir leben seit 50 Jahren im Exil und Leid, auch aufgrund der Unterstützung westlicher Regierungen. Ich bitte die Welt nur darum, hinzusehen, zu recherchieren, zu verstehen, was in der Westsahara geschieht und uns Solidarität zu zeigen.

 

Dieses Interview wurde am 17. Oktober 2025 geführt. Seitdem hat der UN-Sicherheitsrat eine Resolution erlassen, mit der er zu neuen Verhandlungen auf Grundlage des marokkanischen Autonomieplans aufruft.

 

 

 

Filiz ist DAAD-Lektorin am Fachbereich Modern and Medieval Languages and Linguistics der University of Cambridge, UK. Sie hat im Master Konferenzdolmetschen studiert, besitzt einen deutsch-französischen Bachelorabschluss in den Fächern Geschichte und Französisch und absolviert gerade einen zweiten Master in Arts and Cultural Management.
Redigiert von Martje Abelmann, Lotta Stocke