In der Türkei entwickelte sich in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts eine „Tangomanie“. Eine Musikbewegung in der neu gegründeten Republik das Spiegel der politischen Verhältnisse.
Tango der Moderne
Wenn das Licht gedämmt
Und die Schatten sich aufzulösen beginnen,
Dunkelheit sich legt,
Tavernen aufschließen
Und die Großstädter ihrer Arbeit entrinnen,
Einsamkeit weht,
Genießen die Mörder Tango.
Wenn die Kemence-Klänge leise schluchzen
Und der Takt einsetzt,
Die Kanun unter der Wucht des Spielers ächzt,
Für einen kurzen Moment
Die Herzen den Verstand bezwingen,
nächtliche Glut zarter Duft,
Bis die Körper wieder getrennt.
- Mahir Türkmen
Kaum ein Tanz- und Musikstil steht symbolhafter für Leidenschaft als der Tango. Sogar Erotik ist dem sonst klassischen Stil nicht fremd. Vor fast 100 Jahren wurde der Tanz in der jungen Türkei zum Sinnbild der neuen Gleichberechtigung der Geschlechter. Der Tango und die Türkei verbindet eine kurze, aber intensive Geschichte, die von gesellschaftlichen Umbrüchen und radikalen Ereignissen geprägt ist. Dessen fast vergessene Geschichte reiht sich in den Gründungsmythos der Republik ein.
Geschichte eines Tanzes
Wie der Tango Ende des 19. Jahrhunderts in den Großräumen Buenos Aires‘ und Montevideos genau entstand, kann nicht mehr abschließend geklärt werden. Doch außer Frage steht der anschließende, weltweite Siegeszug eines Musik- und Ausdrucksstils, der seitdem das Verständnis vom „klassischen“ Tanz verändert hat. Zentren des „neumodischen“ Vergnügens wurden beispielsweise das japanische Kaiserreich, Finnland, das russische Zarenreich oder eben die neugegründete Republik Türkei.
Dass die „Tangomanie“ Länder wie das japanische Kaiserreich oder Finnland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfasste, scheint angesichts der erst deutlich später einsetzenden globalen Mode überraschend. Auch der 1923 gegründete Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs, die Türkei, blieb nicht von diesem neuen Trend verschont. Während nunmehr Ankara als die neue Hauptstadt der Republik ausgerufen wurde, avancierte zu eben jener Zeit Istanbul, die Metropole am Bosporus, zur Hauptstadt des Tangos.
Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Istanbul und Buenos Aires, dem Paris Südamerikas, ist dabei nicht zu übersehen. Beide Städte dienen wegen ihrer besonderen Lage am Meer als wichtige Knotenpunkte für Handel und Migration. Eine schnell wachsende und ethnisch vielfältige Einwohnerschaft prägt das segregierte Stadtbild.
Damals entwickelt Istanbul seinen noch bis heute typischen Charme aus verschiedenen (internationalen) Einflüssen und (Sub-)Kulturen. Und so fanden auch neue Musikgenres schnell ihren Eingang in das gesellschaftliche Vakuum Istanbuls: Gepresste Schallplatten wurden aus Europa eingeschifft und über den Istanbuler Grammophon Bazar verbreitet.
Die gewaltvolle Zäsur der Gründungsphase und die folgenden Jahrzehnte der gesellschaftlichen Veränderung finden ihr Model in der Vorstellung der Moderne. Als personifizierte Moderne gilt der Staatsgründer Atatürk selbst: männlich, weiß, glattrasiert, hat zurückgegelte Haare, trägt anstatt eines Fes einen Hut und einen Anzug in zivil. In den Großstädten wächst ein neues, kemalistisch orientiertes Bürgertum heran.
Politischer Tango oder Tango der Politik?
Die neue Tangokultur wurde in der jungen Republik schnell akzeptiert und sogar gefördert. In allen größeren Städten wie Istanbul, Izmir oder Ankara wurde der neue Stil populär. Der Tango etablierte sich in einer scheinbar günstigen Zeit, in denen die soziale Gleichberechtigung von Mann und Frau staatlich radikal vorangetrieben wurde. Obwohl der Tango aus Südamerika stammte, wurde er vielfach als eine „westliche“ Erfindung verstanden, was auch die schnelle Adaption des Tanzes in der Türkei erklärt. Die Orientierung am „Westen“ und dessen Gleichsetzung mit „Moderne“ war lange Zeit prägend für die Republik.
Doch nicht nur die Gleichberechtigung der Geschlechter wird zu einem Staatsziel erklärt. Auch die Bemühungen um eine türkisch-muslimisch-homogene Nation werden intensiviert. Nationalismus und Nation hängen unweigerlich zusammen und bilden schließlich in der jungen Republik das Fundament für einen Genozid, gewaltvolle Massaker und Pogrome, die auf die Republiksgründung folgten.
So erfahren in Zeiten der „Tangomanie“ nichtmuslimische Minderheiten, wie Armenier:innen und Aramäer:innen kontinuierliche Gewalt und Deportationen, von denen die meisten in Todeslagern im Osten des Landes enden. Pogrome gegen Jüdinnen und Juden, wie das Pogrom von Thrakien 1934 oder gegen orthodoxe Griech:innen sind leider Teil der Istanbuler Geschichte. Die Geschichte findet später im Pogrom von 1955 ihren tragischen Höhepunkt, in dem die Griechisch-sprachige und christliche Bevölkerung fast vollends aus Istanbul vertrieben wurden.
Die Moderne und die Gründung der Republik verändern die Ausgangslage des einstigen Vielvölkerstaates radikal. Zu den Verlierern gehören jene nichtmuslimischen Minderheiten der Türkei, für die die Vorstellung von Tango zur damaligen Zeit wohl eher irrsinnig erscheinen musste.
Das neu aufstrebende Bürgertum findet im „neumodernen“ Tango hingegen eine willkommene Ausdrucksmöglichkeit. Die Ästhetik des Tangos dient dem sozialen Bedürfnis nach Status und Distinktion. Höhere Beamte und Militärs sind ebenfalls Teil der neuen gesellschaftlichen Ordnung, für die der Konsum des Tangos mehr ist als nur ein künstlerischer Genuss. Denn die Entstehung eines neuen „modernen“ Lebensstils geht mit der Differenzierung von Gesellschaft einher. Ökonomisierung und Bürokratisierung der jungen Nation definieren die soziale Frage neu.
Während der Tango in Argentinien als Folklore auch den unteren Klassen dient, entwickelt er sich in der Türkei zu einem „Elitenprojekt“. Der Konsum der neuen Ausdrucksform wird zu einer Privilegien- und Ressourcenfrage, die vergleichsweise wenigen vorbehalten bleibt. Man denke nur an Mittel- und Ostanatolien, das bis weit in die 1980er Jahre eine unbeachtete Leerstelle der türkischen Politik blieb.
Tango à la Turca
In der bereits etablierten Musikwelt löst der neu „entdeckte“ Tango eine regelrechte Welle der Euphorie aus, deren Auswirkungen bis heute spürbar bleiben. Die neue Musikrichtung dringt in einen tradierten Raum voller konventionell-standardisierter Melodien, Rhythmen und Instrumenten ein, die den Resonanzboden für weitere Entwicklungen bilden. Während der Tango anfangs aus dem Ausland übernommen wird, beginnt man ihn später ins Türkische zu übersetzen und schließlich sogar komplett neu zu komponieren, es entsteht der Tango a la Turca.
1928 komponiert Necip Celal Andel den ersten türkischen Tango Mazi – Die Vergangenheit, der erst 1932 aufgrund der bis dahin fehlenden Technik aufgezeichnet werden kann. Zehn weitere wegweisende Stücke sollten noch aus seiner Hand folgen. Die einfachere Vervielfältigung von Schallplatten verändert allmählich auch in der Türkei das Verständnis von Musik.
Es entsteht eine Kulturindustrie, die mehr und mehr auf die Unterhaltung breiterer gesellschaftlicher Schichten abzielt, und das Renommee von Künstler:innen in einer nie zuvor dagewesenen Form steigert. Das Stück Mazi verschafft der in Thessaloniki geborenen Sängerin Seyyan Oskay, bekannter unter ihrem Bühnennamen Seyyan Hanim, den landesweiten Durchbruch. Mit der Zeit reihen sich weitere namenhafte Personen wie Şecaattin Tanyerli, Fehmi Ege, Necdet Koyutürk und Ibrahim Özgür in die Liste der Ikonen der neuen Musikrichtung ein.
Die traditionelle türkische Musik mischt sich mit neumodernen Elementen zu neuen Interpretationen des Tangos. Das Experimentieren und Ausprobieren mit der Musik sind ein prägender Teil der Anfangsphase des Tangos à la Turca. Zum Kanon der klassischen Instrumente gehören zum Beispiel die Kanun, die trapezförmige Zither, die dem türkischen Tango seine einzigartige Leichtigkeit und Rhythmik verleiht. Oder die Kemençe, die als gestrichene Kastenhalslaute vormals für die klassische türkische Musik Verwendung fand und schließlich für den Tango à la Turca unentbehrlich wurde.
Die kaum überhörbaren kreativen Auswüchse des Tangos sind nicht zuletzt den genannten Künstler:innen zu verdanken, die bis in die 40er Jahre der jungen Republik neue Kombinationen erprobten. Die charakteristische Färbung des Tango à la Turca stößt nach wie vor auf breite Zustimmung und lässt rückblickend die beispiellose Wirkung dieser Musik in der Türkei erahnen.
Mythos Tango
Der Aufstieg des Tango à la Turca ist von gewalttätigen Auseinandersetzungen und gesellschaftlichen Erosionen geprägt. Der Tango begünstigt die historische Romantisierung der Gründungszeit, die zum Mythos zu erstarren droht. Die verklärende Perspektive auf den Gründungsmythos der Türkei bildet den Grundstein für eine Epoche, die unsere Vorstellungen von einem friedlichen Laizismus prägen.
So verzerren sich die 1920er, 30er und 40er Jahre der Türkei zu einer Goldenen Ära, die ihre heroische Darstellung in so manchem türkischen Schulbuch wiederfindet. Doch die gewaltvollen Ereignisse auf den Istanbuler Straßen jener Zeit stehen stellvertretend für eine Republik, die in allen Teilen des Landes einen dramatischen Rückgang ihrer Minderheiten erleben wird.
Was hingegen vom Tango à la Turca bleibt, ist das musikalische Erbe dreier Jahrzehnte der Neuinterpretationen und eine fast vergessene, aber intensive musikalische Ära des Tangos.