Konservative Stimmen betonen derzeit, 2015 dürfe sich nicht wiederholen. Mit ihrer Kritik verfehlen sie jedoch das eigentliche Problem an der „Willkommenskultur“. Stattdessen ist eine nachhaltigere Solidarität mit Geflüchteten gefragt.
Die Ära Merkel ist zu Ende, diese Tatsache wird spätestens beim Kreuzchen setzen auf dem Wahlzettel am kommenden Wochenende in unser Bewusstsein sinken. Nicht nur die Kanzlerinnenschaft, sondern auch die von ihr 2015 mit den Worten „Wir schaffen das!“ eingeläutete sogenannte Willkommenskultur rückt immer weiter in die Vergangenheit. Wir erinnern uns leise an mit rührend hilfsbereiten Deutschen überquellende Bahnhöfe, Menschen, die geflüchtete Syrer:innen in ihr Zuhause aufnahmen und nicht endende Debatten darüber, wie man denn die neu Ankommenden am besten „integrieren“ solle. Die meisten Menschen positionierten sich zu dieser Frage, wenngleich wohl oft nur, weil sie sich aufgrund der medialen Omnipräsenz des Themas dazu verpflichtet fühlten.
Medial entstand so das Bild zweier Lager: Auf der einen Seite hieß es „refugees welcome“ – ein loses Bündnis links-liberaler, aber auch kirchlicher und konservativer Akteur:innen, die die Aufnahme von Geflüchteten befürworteten. Auf der anderen Seite stand PEGIDA (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) und damit die konservative bis national-rechte Gegenbewegung. Ihre Mitglieder gingen vehement gegen die Einwanderung Zuflucht suchender Menschen und Merkels Politik der vermeintlichen Offenheit auf die Straße.
Zumindest zu Beginn war es wohl die liberale Seite, die deutlich überwog. Als Konsequenz entstand tatsächlich eine Art (Willkommens-)Kultur, eine „Hypekultur“ oder „Boom“, wie Mari Odoy es betitelte. Eine Kultur, in der plötzlich alles relevant wurde, was mit Flucht, mit dem syrischen Krieg oder levantinisch-arabischer Kultur zu tun hatte. Vom Gorki Theater, über das Funkhaus Berlin oder dem hippen Techno-Club Kater Blau bis hin zu Bühnen auf lokalen Stadtfesten – sie alle öffneten ihre Türen für „syrische Kunst“ oder schlimmer „syrische Flüchtlingskunst“. Ein neuer deutscher Orientalismus machte sich breit, sein Zentrum: Berlins Polit- und Kulturlandschaft.
Sechs Jahre nach dem sogenannten Sommer der Migration ist es an der Zeit, kritisch zurückzublicken auf die deutsche Kultur des vermeintlichen Willkommenheißens und zu fragen: Wie viel Selbstlosigkeit steckt in der Willkommenskultur? Wer bestimmt die Räume, in der die vielen Kulturevents von Theatervorstellungen bis Technogigs unter dem Prätext Flucht, Integration oder kultureller Austausch stattfanden und finden? Wie muss Solidarität aussehen, um nachhaltig wirksam zu sein?
Irgendwas mit refugees bitte!
„Es ging nur noch um syrische Geflüchtete – obwohl es so viele Geflüchtete aus anderen Ländern gab. Es war sexy, syrische Geflüchtete in Medien einzuladen und sie zu unterstützen, um zu zeigen, dass du der:die Helfer:in, der:die Retter:in bist“ kommentiert die Aktivistin Mariana Karkoutly.
In den Jahren nach 2015 gab es einen Hype um alles, egal was, mit syrischen refugees: Kochen mit refugees, Arabische Tanzveranstaltungen, syrischer „Flüchtlingsrock“, syrischer Techno, syrische Literatur. Die Begriffe „syrisch“ und „Flucht“ allein schienen genug, um Projektgelder und ein überwiegend weißes, deutsches Publikum zu gewinnen.
Im Rahmen ihrer Recherche zur Kolonialität der Willkommenskultur beobachten Micossé-Aikins und Sharifi: „Menschen mit Fluchterfahrung stehen plötzlich – zum Teil kulissenhaft – auf Bühnen, die ansonsten überwiegend weißen, deutschen Ensembles vorbehalten sind. Sie schmücken dramatische Fotografien in Ausstellungen, sie werden Teil von Projekten an der Schnittstelle von Kunst und Start-Up-Kultur, sie führen durch Museen.”
Anas Maghrebi, Gitarrist und Band Leader der Indie-Rock Gruppe Khebez Dawle berichtet: „Wir waren auf Tour durch ganz Deutschland und ich erinnere mich, dass ich bei der letzten Show vollkommen apathisch auf der Bühne stand. Alle Zuschauer:innen waren weiße alte Leute. Wir wussten, dass sie nicht für uns gekommen waren. Sie haben nicht für unsere Musik geklatscht. Sie klatschten, weil wir Geflüchtete waren. Sie nannten uns sogar ‚Flüchtlingsband.‘“
Was in den Augen von selbsterklärt weltoffenen Angehörigen der Dominanzgesellschaft als kulturelles Interesse und gar Aktivismus verstanden wird, bewerten Syrer:innen oft als unangenehm romantisierend. In einer internationalen Studienarbeit über syrische Künstler:innen äußern befragte Akteur:innen, das Zelebrieren ihrer Arbeit aufgrund ihrer Identitätszugehörigkeit sei eine große Belastung.
Neuer Deutscher Orientalismus
Dieses Phänomen folgt Dynamiken, die der Theoretiker Edward Said schon 1979 als Orientalismus identifizierte: Ein essentialisierender Blick, den der Westen auf alles, was als ein „Anderes“, als „nicht-westlich“, verstanden wird, wirft. Dieser Orientalismus äußert sich in zwei Extremen, die allerdings nicht voneinander zu lösen sind. Zum einen wird der sogenannte „Orient“ darin als Ort der Mystik, der Sinnlichkeit romantisiert. Gleichzeitig verstehen orientalistische Perspektiven den sogenannten Osten als eine Region, die intrinsisch durch Krieg und Chaos charakterisiert ist.
Der Sozialpsychologe Hans-Jürgen Wirth schreibt, Deutsche hätten „nach langjähriger Auseinandersetzung mit Fremdenhass, Rassenwahn, Gewalt und Kriegshetze in der eigenen Geschichte eine erhöhte Sensibilität für Unrecht und eine fürsorgliche Empathie für notleidende, verfolgte und gedemütigte Menschen entwickelt.“ Kritisch zu derartigen Annahmen äußert sich hingegen der Migrationsforscher Klaus Bade, der betont, viele der Hilfsaktionen seien vor allem durch einen Willen zur Selbstinszenierung als weltoffen und progressiv begründet, welche durch die mediale Omnipräsenz ermöglicht und bekräftigt wird.
Ein Großteil der aus der Willkommenskultur hervorgegangenen Veranstaltungen, Workshops oder Begegnungsstätten werden von Angehörigen der deutschen Dominanzgesellschaft geleitet und kuratiert. Diese bestimmen dadurch, welche Narrative präsentiert werden. Immer wieder werden dabei Syrer:innen als Hilfsbedürftige oder Opfer dargestellt, die ohne weiße Deutsche Retter:innen vermeintlich nicht aus der ihrer Herkunft geschuldeten Hilflosigkeit herauskämen.
Ein Blick auf den Umgang mit Geschlechterrollen und unterschiedlichen sexuellen Orientierungen lassen diese orientalistischen Denkweisen besonders zu Tage treten. So wird immer wieder suggeriert, Frauen und queere Personen aus Syrien seien hier – im als Spitze der Zivilisation verstandenen Europa – endlich befreit von den „tiefpatriarchalen Strukturen“ des sogenannten Nahen Ostens. [1]
Gleichzeitig werden die intendierten Rezipient:innen der Solidarität immer wieder auf ihre Herkunft reduziert, zum Beispiel als „syrische Flüchtlingskünstler:innen“. Räume werden ihnen dann geboten, wenn sie über erwartete Themen sprechen, schreiben, singen oder tanzen – also über Flucht, Krieg und üer Integration. Künstlerische Produktionen werden dabei häufig als kulturspezifische Artefakte verstanden, sodass individuelle Einflüsse der Kunstschaffenden in den Hintergrund treten.
Dichter und Redakteur Ramy Alasheq beschreibt diese Dynamik wie folgt: „Sie sagen: ‚Zeig uns wie sehr du auf deinem Weg nach Europa gelitten hast und wie gut Europa ist‘. Sie wollen etwas über den syrischen Konflikt wissen, weil dort gerade etwas passiert. Es geht also nicht um die Literatur, es geht um Ereignisse. Ich finde das nicht sehr progressiv. Das Problem ist, dass viele Autor:innen angefangen haben zu schreiben, was Europäer:innen erwarten und was sie lesen wollen." Was entsteht ist eine künstlerisch-inhaltliche Abhängigkeit zwischen neu angekommenen Syrer:innen und jenen, die relevante Räume und Plattformen dominieren.
Ein weiterer Effekt dieser Dynamik ist eine asymmetrische Verteilung von Deutungshoheiten. Weiße Deutsche befinden sich oft in übergeordneten Funktionen, während syrischen Akteur:innen eine beobachtende Rolle zugeschrieben wird. Der Autor Yassin al-Haj Saleh bekräftigt: „Die Europäer:innen denken, sie seien diejenigen, die Theorien vorgeben, die die epistemologische Handlungskompetenz haben. […] Wir dürfen Zeug:innen sein, unsere eigenen Geschichten erzählen aber die Zuhörerschaft dürstet nach unseren Geschichten als Zeugenaussage, eine niedere Form von Wissen, nicht auf theoretischer, konzeptioneller Ebene."
Wohlfühlen statt Solidarität
„Natürlich ist es sehr gut, dass Syrer:innen so viel Hilfe von deutschen Communities bekamen. Es ist gut, dass es die Willkommenskultur gab. Aber das Problem ist, dass es keine wahrhaftige Solidarität gab. Und ohne Solidarität wird die Unterstützung nicht fortfahren" so Marina Karkoutly.
Eine solch wahrhaftige Solidarität konnte unter anderem deshalb nicht entstehen, weil die deutsche Willkommenskultur sich nur sehr oberflächlich mit ihrem Gegenüber auseinandersetzte. Oft gingen Projekte inhaltlich nicht über die humanitäre Wohlfühlebene des einfachen „kulturellen Austauschs“ hinaus, sodass das Verständnis der Hintergründe der Flucht, also des Ausbruchs der Revolution gegen Diktator Baschar al-Assad, oder die Lage in syrischen Staatsgefängnissen, fehlte.
Während deutsche kulturelle und politische Institutionen meist progressive, deutsch- oder englischsprachige Künstler:innen und Aktivist:innen mit Fluchtbezug hervorheben, ignorieren sie vollkommen die Lebensrealitäten anderer Geflüchteter, die nicht in das positiv orientalistische Bild der deutschen Willkommenskultur hineinpassen. So entsteht ein verdrehtes Bild von Offenheit unter dem Motto: „Schaut, Migration ist toll, denn hier kommen interessante Kulturschaffende.“ Suggeriert wird, manche Menschen verdienten Solidarität und Menschenrechte mehr als andere.
Finanzierungsstopp und Außengrenzen
Sechs Jahre nach 2015 schwindet der Hype um „alles und irgendwas mit refugees“ allmählich und damit auch die Finanzierungen, die für Themen wie Integration, Flucht oder Islamismusprävention vermehrt von Bund und Ländern bereitgestellt wurden. Im Jahr 2020 wurden zum Bespiel über 20 Organisationen, die vorher vom Bund bereitgestellte Finanzierung von Empowerment-Projekten für geflüchtete Frauen gestrichen. Auch neu etablierte Kulturprojekte, wie das Arabisch-Deutsche Literaturmagazin Fann, mussten die Arbeit letztes Jahr aufgrund fehlender Fördermittel einstellen. Vielen Menschen, die sich innerhalb der Willkommenskultur eine Existenz aufgebaut haben, wird diese jetzt wieder genommen.
Ihre Existenz verliert nach Logik der Dominanzgesellschaft an Relevanz. Wem bisher als refugee Räume geöffnet und Bühnen geschaffen wurden, muss sich jetzt erneut etablieren. Diejenigen, die sich auf deutscher Seite engagierten, sind hingegen oft fester in professionellen Strukturen verankert und profitieren zusätzlich von ihrem oft als karitativ wahrgenommenen Engagement.
Auch auf politischer Ebene ist von Willkommensgesten oder gar Gastfreundschaft keine Spur mehr. Weiterhin versucht die EU unter Inkaufnahme menschlicher Opfer alles, um außereuropäische Grenzen dicht zu machen. Spätestens der im Januar diesen Jahres durch die Innenministerkonferenz aufgehobene Abschiebestopp nach Syrien und der dann nur sehr dumpfe Aufschrei der deutschen Dominanzgesellschaft zeigen: Die Willkommenskultur war und ist selektiv und zeitlich begrenzt.
Kein zweites 2015
Die Lehre aus der Willkommenskultur müsste sein: 2015 darf sich in der Tat nicht wiederholen. Um wirklich nachhaltige Solidaritäten zu schaffen, die die Neuankommenden in den Mittelpunkt stellt, müssen sich Denkmuster und Praktiken im Umgang mit Geflüchteten radikal verbessern.
Weiße Deutsche müssen aufhören, Kulturschaffende und andere Personen sowie ihre Arbeit allein über deren nationale Herkunft, ihren rechtlichen Status oder ihre Ethnizität zu definieren– außer, die Person wünscht dies explizit. Räume und finanzielle Mittel müssen auch dann an als „Andere“ Imaginierte verteilt werden, wenn sie und ihre Arbeit nicht den stereotypen Erwartungen entsprechen. Auch im medialen Bereich muss ein Wandel stattfinden, sodass essentialistische und orientalistische Narrative nicht weiter reproduziert werden. Insgesamt muss es in Diskursen zu den Themen Flucht und Integration eine höhere Sensibilisierung für den Schaden geben, den auch positiv orientalistische Romantisierungen anrichten können.
Echte Solidarität mit Geflüchteten besteht erst dann, wenn ihre Situation ganzheitlich verstanden wird. Dazu gehört es, Verbindungen zu den antikolonialen beziehungsweise antiautoritären Kämpfen in den Herkunftsländern der ankommenden Menschen und an anderen Orten herzustellen und Geflüchtete als politische Akteur:innen anzuerkennen. Orientalistische Denkstrukturen kritisch-analytisch zu dekonstruieren ist ein Prozess, der viel Zeit und aktiver Auseinandersetzung bedarf. Gleichzeitig ist dieser unabdingbar, um zukünftige Solidaritätsregime nachhaltiger und vor allem viel stärker im Austausch mit den Geflüchteten selbst zu entwickeln.
Die Chance und die Pflicht, es besser zu machen, bietet sich angesichts der Lage in Afghanistan wohl leider schneller als befürchtet.
Der Text basiert auf der Abschlussarbeit der Autorin im Rahmen ihres Bachelorstudiums am Bard College Berlin. Alle Zitate ohne direkten Nachweis entstammen Interviews, die im Rahmen der Arbeit zwischen Oktober 2020 und März 2021 geführt wurden.
[1] Fatima El-Tayeb geht auf diese Beobachtung in ihrem Buch „European Others – Queering Ethnicity“ genauer ein.