28.09.2022
Rezension: „Umdeutungen des Islams“
Immer wieder dieselben Muster. Grafik: Pixabay
Immer wieder dieselben Muster. Grafik: Pixabay

Vom Spiegel bis zum Auswärtigen Amt - Alexander Konrad untersucht die orientalistischen Perspektiven auf Muslim:innen von 1970 bis 2000. Detailreich und ernüchternd ist das Buch ein weiterer Beleg für Diskriminierung im deutschen Diskurs.

Dies ist ein Beitrag unserer Reihe Re:zension. Hier stellen wir regelmäßig ein neu erschienenes Buch vor, das wir für besprechenswert halten. Wenn Ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

Jahrzehntelang hat Peter Scholl-Latour als bedeutendster deutscher „Nahosterklärer“ mit reißerischen Publikationen „den Islam erklärt“. Er begleitete Khomeini 1979 bei dessen Rückkehr nach Iran, bezog sich stets auf seine unzähligen Kontakte nach Westasien und Nordafrika und war nie um eine große Deutung seiner muslimischen Protagonist:innen verlegen. In den 80er- und 90er-Jahren hat er die öffentliche Wahrnehmung von Muslim:innen in Deutschland geprägt wie wohl kein Zweiter. Seine journalistisch zweifelhaften Methoden, Darstellungen voller mystifizierender, sexualisierender und schlicht ausgedachter Zuschreibungen wurden dabei nicht problematisiert. Auch die Tatsache, dass er als einer der ersten rassistische Klischees über „No Go Areas“ in deutschen Großstädten in die Welt setzte - geschenkt.

In seinem Buch „Umdeutungen des Islams“ befasst sich der Historiker Alexander Konrad entsprechend oft mit dem Einfluss Peter Scholl-Latours auf das deutsche Verständnis des Islam. Konrads Buch basiert auf seiner Doktorarbeit am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und bietet eine umfangreiche Darstellung der öffentlichen Islamwahrnehmung von 1970 bis 2000. Darin zeichnet Konrad insbesondere anhand außenpolitischer Geschehnisse die westdeutsche und anschließend gesamtdeutsche Darstellung und Rezeption von Muslim:innen im In- und Ausland nach.

Dekonstruktion der Verfremdung

Der Autor versteht seine postkolonial geprägte Forschung als Beitrag zur Offenlegung der Orientalisierung und Verfremdung von Muslim:innen in Deutschland. Gleichzeitig will er entsprechende Stereotype wissenschaftlich dekonstruieren. Dafür untersucht Konrad nicht nur die zeitliche Entwicklung von Positionen und Perspektiven auf den Islam durch Behörden wie das Auswärtige Amt, sondern nimmt auch die Positionierungen von großen Medien im historischen Längsschnitt unter die Lupe.

Konrads Buch ist in mancher Hinsicht eine umfangreichere und historisch-analytische Ergänzung zu Ozan Zakariya Keskinkılıçs „Muslimaniac“. Keskinkılıç hatte in seinem Werk mit dem Untertitel „die Geschichte eines Feindbilds“ bereits 2021 über die Orientalisierung, Sexualisierung und Rassifizierung von Muslim:innen in Deutschland und Europa geschrieben. Wo der Lyriker und Politikwissenschaftler Keskinkılıç eher literarisch-anekdotisch bleibt und eigene Erfahrungen und Wahrnehmung in den Vordergrund stellt, liefert Konrad das passende Archivmaterial, betreibt Quellenexegese und bietet die historisch angeleitete Interpretation.

Sein Fazit ist so wenig überraschend wie ernüchternd: Mal verniedlichend, mal rassistisch herabsetzend, immer verfremdend, entwickelt sich der Blick auf Muslim:innen seit den 1970er-Jahren. Neben dem bereits erwähnten „Nahostexperten“ Scholl-Latour haben für Konrad vor allem der Journalist Gerhard Konzelmann und das Nachrichtenmagazin Der Spiegel maßgeblich zu einem monolithischen Verständnis des Islam als rückständig und gewaltvoll beigetragen und dieses mit zahlreichen, aber argumentativ zweifelhaften Ausführungen verfestigt.

Konrad identifiziert eine Abwärtsspirale: Der Blick auf die Muslim:innen hierzulande sei in den 1970er-Jahren zunächst vor allem von Unkenntnis und dem mangelnden Willen einer ernsthaften Auseinandersetzung mit „der muslimischen Welt“ gekennzeichnet gewesen. Mit der zunehmenden Präsenz und Verbreitung bestimmter medialer Narrative durch Akteur:innen wie Scholl-Latour rückten dann vermehrt negative Deutungen in den gesamtgesellschaftlichen westdeutschen Vordergrund.

Auf Desinteresse folgt Abwertung

Als zentrales Momentum einer Umdeutung identifiziert Konrad die iranische Revolution von 1979 und ihre mediale Rezeption. Fortan sei „der Islam“ im (zunächst west-)deutschen Diskurs als politische Bewegung und als Ordnungsproblem gedeutet worden. Wieder sind für Konrad die populistischen „Islam-Erklärer“ Scholl-Latour und Konzelmann primäre Transporteure dieses Narrativs. Konrad beschreibt jedoch auch die Rolle von Alice Schwarzer, die im Rahmen der Revolution nach Iran reiste und sich seither mit ihrer Zeitschrift Emma nach eigenem Bekennen die Befreiung der muslimischen Frau auf die Fahnen geschrieben hat. Im Vergleich dazu untersucht Konrad die Perspektive der feministischen Zeitschrift Courage und kommt zum Schluss, dass diese wiederum „kultursensibel bis relativistisch“ über die iranische Revolution schrieb.

Auch die Behörden in Westdeutschland reagierten auf die iranische Revolution. Während zuvor insbesondere wirtschaftspolitische Fragen die Perspektiven auf „den arabischen Raum“ geprägt hatten, rückten laut Konrad mit den Ereignissen von 1979 erstmals soziokulturelle Faktoren in den Mittelpunkt des Interesses des Auswärtigen Amtes. In den 1980er-Jahren verfestigte sich laut Konrad auch die medial vorangetriebene Verknüpfung des Islam als rückständig und spätestens seit den 1990er-Jahren als genuin gewalttätig beziehungsweise terroristisch.

Opportunistische Vereinnahmung

Konrad bezieht geopolitische Ereignisse und deren Rezeption in seine Analyse ein. Er beschreibt etwa die Entführung Betty Mahmoodys, die Fatwa gegen Salman Rushdie und verschiedene islamistische Terroranschläge. Darüber hinaus geht er auf widersprüchlich anmutende Allianzen ein, etwa diejenige der westdeutschen CDU mit Netzwerken der Grauen Wölfe in den 1980er-Jahren, die vornehmlich eine Schwächung türkischer kommunistischer Strukturen in der BRD zum Ziel hatte; oder das Engagement von Konservativen wie Jürgen Todenhöfer für die afghanischen Mudschaheddin im Zuge des Krieges gegen die Sowjetunion. Laut Konrad ebenfalls antikommunistische Agitation.

Besondere Bedeutung hat für Konrad die Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung beziehungsweise der Auflösung der Sowjetunion. In dieser Zeit geopolitischer Neuorientierung habe das Feindbild des kriegerischen Islam, etwa propagiert in Scholl-Latours Buch „Das Schwert des Islams“, einen ordnenden Blick auf die Welt versprochen.

Egal ob konservative Allianzen mit türkischen Faschist:innen oder die (vermeintlichen) feministischen Befreiungskämpfe der Emma für die muslimische Frau im Vordergrund stehen: In Konrads Schilderungen wird immer wieder deutlich, dass „der Islam“ und „die Muslim:innen“ als thematischer Bezugspunkt in den west- und später gesamtdeutschen Diskursen immer wieder opportunistisch vereinnahmt werden. Die dominanzgesellschaftlichen wirtschaftlichen, geopolitischen oder innenpolitischen Interessen Deutschlands werden durchgesetzt. Insofern überrascht es auch nicht, dass in der von Konrad analysierten Literatur kaum Muslim:innen selbst zu Wort kommen – als eigenständige Sprecher:innen stand ihnen im mehrheitsgesellschaftlichen Diskurs schlicht keine Rolle zu.

Selbstkritik und empirische Fülle

In kritischer Selbstreflektion merkt Konrad an, dass er mit seiner Untersuchung der dominanten Narrative des Islam diese auch bis zu einem gewissen Grad reproduziert. Auch der regionale Fokus seines Buches auf Ereignisse in „der arabischen Welt“ und die Nichtbeachtung von Ereignissen beispielsweise auf den Philippinen oder in Nigeria, welcher sich laut Konrad aus der empirischen Aufbereitung seines Quellenmaterials ergibt, reproduziert ein verengtes Islamverständnis.

Trotz dieser gerechtfertigten Selbstkritik sind Konrads Darstellungen anschaulich, detailreich und zeugen insgesamt von großer Sachkenntnis seines Forschungsfelds. Er argumentiert präzise und enthält sich allzu plakativer, moralisierender Deutungen. Was seiner Arbeit jedoch fehlt, ist eine umfangreichere theoretische Analyse. Konrads Theorieverständnis beschränkt sich im Wesentlichen auf eine oberflächliche Anwendung von Edwards Saids Orientalismus-Konzept. Verbreitete Kritiken an Saids Konzept, wie dessen undifferenziertes Verständnis von Macht als Analysekategorie und begriffliche Unschärfen, werden von Konrad nur in wenigen Sätzen am Rande erwähnt.

„Umdeutungen des Islams“ eignet sich also in erster Linie als empirische Quelle und ist für Einsteiger:innen in die Thematik interessant. Dass auch Personen mit stärkerem fachlichem Hintergrund es unterhaltsam finden dürften, ist insbesondere dem enormen Detailreichtum, der vielfältigen Betrachtungsstränge sowie der anschaulichen Aufbereitung durch Konrad zu verdanken. Das Argument vom rassistischen, kolonialisierenden Blick, dessen Kontinuitäten bis heute sichtbar werden, lässt sich mithilfe des Buches zweifelsohne weiter untermauern.

Alexander Konrad, Umdeutungen des Islams – Bundesdeutsche Wahrnehmung von Muslim*innen 1970-2000, Wallstein Verlag, Göttingen, 495 S., 42€

 

 

Charlie hat 2017 das erste Mal für das Magazin geschrieben und ist seit Anfang 2018 fest dabei. In ihrem Studium der Politik- und Nahoststudien hat sie sich schwerpunktmäßig mit der Innen- und Siedlungspolitik Israels befasst. Bei dis:orient schreibt und redigiert sie und ist Teil des Rezensionsteams.
Redigiert von Bruna Rohling, Clara Taxis