15.12.2021
Rezension: „Muslimaniac: Die Karriere eines Feindbildes“
maniac. Quelle: Pixabay
maniac. Quelle: Pixabay

Ozan Zakariya Keskinkılıç seziert den Blick der Dominanzgesellschaft auf „den Islam“ und zeigt, wie er sich mit Sarkasmus und Humor von ebendiesem Blick befreit. 

Dies ist ein Beitrag unserer Reihe Re:zension. Hier stellen wir regelmäßig ein neu erschienenes Buch vor, das wir für besprechenswert halten. Wenn Ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

Das Buch „Muslimaniac: Die Karriere eines Feindbildes“ beginnt mit einem selbstgemalten Bild von Angela Merkel, die einen Niqab trägt. Die Zeichnung hängt über dem Schreibtisch des Autors, die Bildunterschrift lautet: „Diese Dame hätte ich so nicht gewählt“. Keskinkılıç hat das Bild zusammen mit einem Brief über das Postfach seiner Hochschule erhalten. Der Zeichner und Verfasser beklagt, dass das Tragen eines Kopftuchs hierzulande längst unheilvolle Normalität sei und welche Gewalt von Muslim:innen in Europa ausginge.

Seit er öffentlich als Muslim auftritt, erhält Keskinkılıç viele solcher Briefe. Mal wird ihm die Schuld für den Anschlag am 11. September gegeben, mal wird er aufgefordert, das Land zu verlassen. Manche wünschen ihm auch den Tod. Das Bild hat er eingerahmt. Es erinnere ihn daran, so schreibt er, dass „die Islamisierung Deutschlands ganz nach Plan verlaufe“.

Diese Schilderung macht bereits deutlich, worum es in „Muslimaniac“ geht: um Vorurteile und Gewaltaufrufe gegenüber Muslim:innen und welche Wege es gibt, diesen Zuschreibungen entgegenzutreten. Für Keskinkılıç ist Sarkasmus ein zentrales Mittel, sich den Anfeindungen entgegenzustellen.

Unter Generalverdacht

Dem humorvollen Einstieg des Buchs folgt eine nüchterne Bestandsaufnahme. Der Islam stehe in Europa unter Generalverdacht und sei der „Sündenbock unserer Zeit“. Seit Jahrhunderten würden Muslim:innen in Europa als Problem konstruiert. Durch das verzerrte, orientalisierte Negativbild des Islams konstruierte man sich in Europa ein Idealbild seiner selbst als rational, modern, egalitär und entwickelt. Den Muslim:innen bleibe dabei nur die Negativfolie: Sie seien fremd, gefährlich, rückständig, wahlweise auch erotische Projektionsfläche oder unterdrücktes Opfer. Echte Muslimaniacs eben.

Diese Verfremdung beschäftigt den Politikwissenschaftler und Lyriker Keskinkılıç schon lange. Bereits 2018 gab er zusammen mit Armin Langer den Sammelband „fremdgemacht und reorientiert“ heraus, der mit der Erzählung des „jüdisch-europäischen“ Abendlandes bricht und die Potentiale jüdisch-muslimischer Allianzen im weißen Europa untersucht.

Nun hat Keskinkılıç nachgelegt und widmet sich auf über 200 Seiten der Geschichte des europäischen Feindbilds Islam. Dabei zeigt er auf, wie viele der heutigen Debatten den bereits in der Kolonialzeit geführten Diskursen ähneln und skizziert die lange Tradition der Abwertung und Verfremdung des Islams in Europa.

Abwertung als Kulturgeschichte

Keskinkılıç untermauert die Thesen seiner Einleitung mit sechs thematischen Kapiteln. Faktenreich, mit Tempo und Wortwitz macht er deutlich, was es bedeutet, in Deutschland muslimisch zu sein oder dafür gehalten zu werden. Er schreibt über rassistische Lehrer:innen, über ihn fetischisierende Mitschüler:innen und über den Hass, der ihm nach islamistischem Terror regelmäßig entgegenschlägt.

Gekonnt verknüpft er seine eigenen Erfahrungen mit historischen Quellen und verdeutlicht so die Ursprünge rassistischer Kontinuitäten. Er schildert beispielsweise, wie Rassismus und wissenschaftliche oder politische Karriere in der Gründungszeit der deutschen und französischen Islamwissenschaft Hand in Hand gingen.

Eindrücklich und mit trockenem Humor erzählt Keskinkılıç von Rassismus im Gesundheitswesen. Er beschreibt, wie er kurz nach der Geburt seiner Tochter von der ungerührten Kinderärztin auf den sogenannten „Mongolenfleck“ des Kindes hingewiesen wurde – eine Pigmentstörung, die überwiegend bei nicht-weißen Neugeborenen auftritt. Er reagiert mit einer Skizze der rassistischen Begriffs- und Deutungsgeschichte der Medizin, laut der die Pigmentstörung bei weißen Neugeborenen deren „Mischlings“-Hintergrund deutlich mache.

Noch so ein Begriff: „Morbus Mediterraneus“, auch genannt „Morbus Bosporus“. Mit diesem Terminus, der, wie Keskinkılıç zeigt, schon seit Jahrhunderten durch europäische Krankenhäuser und Medizinlehrbücher geistert, unterstellen Mediziner:innen auch heute noch Menschen mit Herkunft im Mittelmeerraum eine geringe Schmerztoleranz und den Hang zu hypochondrischer Simulation.  

Keskinkılıçs Text berührt besonders eindringlich, wenn er über die Beziehung zu seiner Tochter schreibt, über seine Angst, dass diese sich später einmal für ihn schämen werde, weil er im Gegenteil zu ihr „keine goldenen Haare und keine goldene Haut hat“. Das Kind merke, dass sein Vater und sie selbst in den Augen der Welt nicht zusammenpassten. Er beschreibt sogar, dass seine Eltern ihn – nur halb im Scherz – darum bäten, viel Kontakt zu ihrem Enkelkind haben zu können – damit es sich an sie gewöhne und sie nicht irgendwann abschieben lassen wolle. Das ist so aufrichtig und gleichzeitig tragisch, dass der trockene Humor, mit dem der Autor auch diese Begebenheiten schildert, seine Bitterkeit nicht überdecken kann.

Poetischer Widerstand

Genau deshalb sind seine Schilderungen so kraftvoll: Keskinkılıç verknüpft gekonnt historische Fakten und eigene Erfahrungen. Gleichzeitig zeigt er Möglichkeiten auf, sich vom Blick der Mehrheitsgesellschaft zu emanzipieren. Im Kapitel „Kanak Attak Reloaded“ geht es darum, wie er als Jugendlicher im Schulbus erstmals begriff, dass man Abwertungen umdeuten kann und wie viel Kraft eine Selbstbezeichnung haben kann: „Dann sagte Serkan etwas, das mich lange beschäftigte: ‚Du bist ein Kanake so wie ich, sei stolz.‘ An der nächsten Haltestelle stieg er aus, ich habe ihn seitdem nicht mehr gesehen. Wie ein Geist trat er ein, wie ein Geist verschwand er aus meinem Leben. Ich lernte, Kanaken können widersprechen.“ 

Diese Widerstände haben Tradition und zwar eine, die lange über die Kampagne #MeTwo aus dem Jahre 2018 hinausgeht, bei der Menschen mit migrantischem Hintergrund auf Twitter Diskriminierungserfahrungen teilten. Beispielhaft nennt Keskinkılıç die Gruppe Kanak Attak, die Ende der 90er-Jahre mit Aktionen auf den Rassismus in der Mehrheitsgesellschaft aufmerksam machten, die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland sowie die Lyrikerinnen Semra Ertan und May Ayim.

Auch für Keskinkılıç selbst ist lyrischer Widerstand, ein „poetischer Islam“, ein besonderes Mittel der Ermächtigung. Islamische Lyrik früherer Jahrhunderte sei ein Zeugnis für eine Praxis kultureller Ambiguität, in der es nicht nur eine Wahrheit gibt. Als Lyriker will er poetische Interventionen stärken, die mithilfe von Multiperspektivität und Mehrdeutigkeit Widerstand leisteten gegenüber rassistischen, sexistischen und fundamentalistischen Deutungen der Welt. Poesie ist für Keskinkılıç ein Raum, in dem Widersprüche zugelassen, Vielfalt zelebriert und vergrabene Erinnerungen sichtbar gemacht werden können. Das sei ihre emanzipative Stärke: „Es braucht poetische Vorstellungskräfte, um sich aus Situationen der Ohnmacht herauszudenken.“

„Muslimisierung“ gesellschaftlicher Probleme?

Der poetische Widerstand gelingt in „Muslimaniac“. Keskinkılıç ist betroffen, in seinem Buch geht es ihm aber vor allem um Ermächtigung. Das tut sowohl dem Text als auch den Thesen Keskinkılıçs gut, die Lesenden werden nicht in Versuchung geführt, Aussagen des Autors aus einer Art paternalistischen Bestürzung heraus unhinterfragt zu übernehmen.

An einzelnen Passagen kann man sich dann durchaus reiben: Wenn Keskinkılıç die Erziehungswissenschaftlerin Iman Attia zitiert, die eine „Muslimisierung“ gesellschaftlicher Probleme und Debatten ausmacht, muss man dem nicht zustimmen. Wenn er den Islam ohne weitere Einordnung als „Sündenbock unserer Zeit“ beschreibt, bleibt mindestens implizit die Frage nach dem Verhältnis von Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus in einer diskriminierenden Mehrheitsgesellschaft offen.  Diese zu beantworten ist jedoch vielleicht gar nicht notwendig: Die Abwertung und Verfremdung von Muslim:innen kann Keskinkılıç überzeugend nachzeichnen, es braucht dafür keine Hierarchisierungen von Betroffenheit.

Befreiung vom dominanzgesellschaftlichen Blick

Doch an wen richtet sich „Muslimaniac“? Und kann ein Buch gleichzeitig anklagen, erklären und ermächtigen? Für Menschen, die sich bereits mit antimuslimischem Rassismus beschäftigen, bergen die Analyse und Anklage Keskinkılıç wenig Neues. Die umfangreiche Darstellung rassistischer und kolonialisierender Denkmuster als historische Kontinuität ist dennoch lesenswert, nicht zuletzt, weil diese anschaulich und nicht als wissenschaftliche Abhandlung beschrieben sind. Letztlich macht die Erzählform des Buches seinen Mehrwert aus. Keskinkılıç analysiert nicht nur, wie antimuslimischer Rassismus funktioniert. Er beschreibt persönlich und glaubhaft, was es mit einem Menschen macht, ewig „der Andere“ sein zu müssen, und zeigt Perspektiven auf, um sich zur Wehr zu setzen. Genau diese Mischung aus persönlichem Erfahrungsbericht, wissenschaftlicher Analyse und humorvoller Kommentierung machen das Buch besonders.

Der innere Zwiespalt, dem weiß-deutschen Publikum, von dessen Blick er sich doch eigentlich emanzipieren will, mit seinem Buch nun wieder als „Islamerklärer“ herzuhalten, kann Keskinkılıç dabei auch nicht auflösen. Langfristig ist für ihn klar: „Ich möchte nicht über jeden Stock springen, der mir hingehalten wird.“  Für ihn sei das Buch ein Versuch, mit dem Thema abzuschließen und sich aus diesem fortwährenden Dilemma zu befreien. Ein gelungener Abschluss wäre es allemal: Sein Buch legt den dominanzgesellschaftlichen Blick auf „den Islam“ offen, der orientalisiert, verfremdet, abwertet und ihm – dem Autor, der sich nicht zum Muslimaniac machen lassen will – eines dennoch so schwer macht: Ohne Scham und Angst muslimisch zu sein.  

Ozan Zakariya Keskinkılıç: Muslimaniac - Die Karriere eines Feindbildes, Edition Körber, Hamburg 2021, 266 S., 20 €.

 

 

Charlie hat 2017 das erste Mal für das Magazin geschrieben und ist seit Anfang 2018 fest dabei. In ihrem Studium der Politik- und Nahoststudien hat sie sich schwerpunktmäßig mit der Innen- und Siedlungspolitik Israels befasst. Bei dis:orient schreibt und redigiert sie und ist Teil des Rezensionsteams.
Redigiert von Pauline Jäckels, Rebecca Spittel