11.07.2021
Rezension: „Die Erfindung des muslimischen Anderen“
Cover von „Die Erfindung des muslimischen Anderen“. Illustration: Forschungsprojekt (Un)sichtbarkeiten in der Migrationsgesellschaft
Cover von „Die Erfindung des muslimischen Anderen“. Illustration: Forschungsprojekt (Un)sichtbarkeiten in der Migrationsgesellschaft

Das Buch „Die Erfindung des muslimischen Anderen“ tritt an, den öffentlichen Diskurs über Islam und die damit zusammenhängenden Zuschreibungen für migrantisierte Menschen in Deutschland auseinanderzunehmen.

Dies ist ein Beitrag unserer Reihe Re:zension. Hier stellen wir regelmäßig ein neu erschienenes Buch vor, das wir für besprechenswert halten. Wenn Ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

Um Missverstände zu vermeiden haben die Herausgeber:innen Anna Sabel und Özcan Karadeniz direkt auf dem Cover klargestellt, was nicht Inhalt ihres Buches ist: „20 Fragen und Antworten, die nichts über Muslimischsein verraten.“  Stattdessen soll es um einen Diskurs gehen, der das „Muslimischsein“ erst erfunden hat und es täglich fortschreibt – ohne Rücksicht auf muslimische und nicht-muslimische migrantische Lebensrealitäten.

Das 2021 im Unrast Verlag erschienene Buch besteht aus verschiedenen Fragmenten und kreativen Beiträgen. Die 136 Seiten sind in fünf thematische Abschnitte unterteilt, die jeweils von Sabel, Karardeniz und Mehmet Arbag geschriebene Essays zusammenfassen.  Unter der Überschrift „Die Anderen waren nicht immer muslimisch“ widmen sie sich dafür im ersten Teil zunächst Begriffen und Theorien.

Die Beiträge sind kurz und informativ, fassen die wichtigste Literatur zusammen und kommentieren sie, oft mit Humor. So resümiert Mehmet Arbag zur Verhinderung der doppelten Staatsbürger:innenschaft 1999: „Und so kam es, dass die neue Sprachregelung Deutsche in ‚echte Deutsche‘ und Passdeutsche zu unterteilen begann, in Unbefleckte und solche mit Hintergrund. Danke Deutschland!“.

Im zweiten Teil des Buches rechnen die Autor:innen mit orientalistischen Stereotypen ab. Die Aspekte reichen von Gastfreundschaft, über kriminelle Clans bis zu Männlichkeitsbildern. Sabel räumt mit sexualisierendem Orientalismus auf und fragt „Warum ist das Kopftuch eigentlich nicht so sexy wie der Haremsschleier?“ Die Antwort: Man(n) zeichnet sich die Muslima, wie sie gerade gefällt.

Die verschiedenen Abschnitte des Buches sind durch die eindrucksvollen Illustrationen von Morteza Rakhtala unterteilt. Im Stil einer Graphic Novel verarbeitet der Künstler darin Themen wie Kolonialgeschichte, Stereotype, Rassismus und migrantische Selbstorganisation. Rakhtala ist wie Sabel und Arbag Teil des Forschungsprojekts „(Un)sichtbarkeiten in der Migrationsgesellschaft“ in Leipzig, das vom Verband binationaler Familien und Partnerschaften ins Leben gerufen wurde. Der Bezug zu Sachsen macht es den Autor:innen möglich in ihren Texten die ostdeutsche (und migrantisch-ostdeutsche) Perspektive auf Geschichte ebenso zu verarbeiten wie die politische Dynamik vor Ort.

Wissenschaftlich fundiert, unterhaltsam erzählt

Die Texte im Buch macht vor allem eines aus: Die Mischung aus wissenschaftlich fundierten Inhalten und der persönlichen Betrachtung der Diskurse. Manche Beiträge bleiben eher nüchtern, andere sind durchweg sarkastisch und wieder andere enden mit einem Fragezeichen. Sie geben Einblicke in persönliche Reflektionen und bleiben eine klare „Antwort“ auf die gestellten Fragen schuldig. Diese Stärke teilt das Buch mit anderen Formaten, die der Verband binationaler Familien und Partnerschaften in den letzten zwei Jahren veröffentlicht hat, beispielsweise dem Film „Spendier mir einen Çay und ich erzähl dir alles“ oder auch dem Podcast „Widerstand und Widerrede“.

Immer und immer wieder werfen die Autor:innen die Frage nach der (durch Rassismus blockierten) Zugehörigkeit in Deutschland auf und analysieren einzelne Diskursfragmente, um der Antwort näher zu kommen. Einige Beiträge stechen dabei heraus: Mehmet Arbags „Und was ist noch über Antisemitismus unter Muslim:innen  zu sagen?“ überrascht durch Form und Inhalt: Der kurze szenische Text in Dialogform sagt ganz im Stil des Buches gar nichts über Antisemitismus unter Muslim:innen, sondern beleuchtet das daten als Muslim:in.

Anna Sabels Essay „Wann werden aus erzkonservativen Politiker:innen Feminist:innen?“ beeindruckt durch seine Prägnanz. Sie leitet mit einem Zitat der ägyptischen Feministin Malak Hifni Nasif ein: „Wir werden durch das Unrecht der Männer unterdrückt. Wenn sie sagen, verschleiere dich, dann legen wir den Schleier ab… Ihre Worte müssen sorgfältig abgewogen werden, denn sie sind genauso despotisch, wenn sie uns befreien, wie sie despotisch sind, wenn sie uns unterdrücken.“ Getreu dieser Aussage analysiert Sabel, wie Feminismus für die „Veranderung“ von Muslim:innen instrumentalisiert wird: So sei erst nach der sogenannten „Kölner Silvesternacht“ die lang geforderte Reform des deutschen Sexualstrafrechts 2016 auf einmal in Windeseile gelungen – viele Jahre Oktoberfesterfahrungen von Frauen hätten dafür hingegen nicht ausgereicht.

Wenn es in den vielen Beiträgen einen gemeinsamen Nenner gibt, dann ist es dieser: die Kritik an der selbstgerechten, wenn nicht scheinheiligen Haltung vieler im deutschen Diskurs, die sich auf der Seite der Emanzipation wähnen, während sie de facto engstirnige Ausschlussmechanismen reproduzieren und verstetigen.

Für den letzten Teil des Buches haben sich die Herausgeber:innen weitere Autorinnen ins Boot geholt, darunter einige Koryphäen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Konstruktion des „muslimischen Anderen“, wie Schirin Amir-Moazami, Iman Attia, Fatima El-Tayeb und Naika Foroutan. Sie alle beantworten auf ihre eigene Art die Frage „Worüber müssten wir eigentlich reden?“.

Das „Plädoyer für den wohltemperierten Streit“ von María do Mar Castro Varela bietet eine besondere Perspektive auf die aktuellem Diskursdynamiken: „Heute suchen wir immer wieder nach Versöhnung und Harmonie und verstehen nicht mehr, dass es ebenso wichtig ist, Praxen zu finden, die den Streit kanalisieren.“ Statt Inhalten macht sie einen strategischen Vorschlag: „Wir [sollten] überlegen, wie es gelingt, Menschen in die Lage zu versetzen, ihre Argumente darzulegen, ohne die ‚Anderen‘ verachten zu müssen.“

Gerade weil das Buch mit seinen Antworten durchweg vielfältig ist und sich der Eindeutigkeit verweigert, wird die Kernbotschaft umso deutlicher: Diskurse zu dekonstruieren oder gar zu ändern ist Stückwerk und ein langwieriges Unterfangen – das aber auch bereits jetzt von vielen Menschen mit verschiedenen Schwerpunkten betrieben wird. Das Buch ist ein solcher Beitrag zur Sichtbarkeit der „Veranderten“, wie sie im Buch genannt werden und stärkt ihre Kämpfe um Zugehörigkeit und Teilhabe.

 

 

Clara arbeitet in der Wissenschaftskommunikation. Zu dis:orient kam sie 2018 und seit Februar 2022 übernimmt sie die Koordination unseres Magazins. Clara hat Internationale Migration & Interkulturelle Beziehungen in Osnabrück und Politikwissenschaft in Hamburg & Istanbul studiert. Ihre Themen sind Solidarität in der postmigrantischen...
Redigiert von Anna-Theresa Bachmann, Maximilian Menges, Johanna Luther