Die Impfkampagne in Iran hat endlich Fahrt aufgenommen. Dass es so lange gedauert hat, liegt an einem machtpolitischen Tauziehen, Prinzipienreiterei und Selbstüberschätzung – mit schweren Konsequenzen, meint Omid Rezaee.
Bis vor wenigen Wochen lief die Impfkampagne gegen das Corona-Virus im Iran mehr als schleppend, doch seit etwa einer Woche werden nun täglich über eine Millionen Menschen geimpft. Bisher ist zwar nur 15 Prozent der iranischen Bevölkerung durchgeimpft, jedoch wird damit gerechnet, dass die Impfung von über 30-Jährigen bis Mitte November zum Ende kommt.
Wenig überraschend gibt sich die neue Regierung alle Mühe die neue Entwicklung als eigenen Erfolg zu präsentieren. So betonte Bahram Eynollahi, der seit gerade mal drei Wochen neuer Gesundheitsminister Irans ist, dass „auf einmal eine Flut“ von Impfstoffen ins Land geflossen sei, obwohl man nur einen „leichten Regen“ erwartet habe. Tatsächlich hat die iranische Regierung in den sechs Monaten zwischen Februar und Juli nur 13 Millionen Dosen Corona-Impfstoff importiert, allein im August und September waren es hingegen insgesamt über 36 Millionen Dosen – also dreimal so viele Dosen in einem Drittel der Zeit.
Eynollahi berichtet, dass die Impfstoff-Lager leer gewesen seien, als das neue Kabinett nach den Wahlen im Juni seine Arbeit im August begann. Eynollahis Erklärung für die plötzliche Beschleunigung des Impfstoff-Imports: Alle Kabinettsmitglieder der neuen Regierung hätten sich geschworen, diesem Problem ein Ende zu setzen.
Was sich in der Tat nicht bestreiten lässt: In zahlreichen Impfzentren in Großstädten wird jetzt rund um die Uhr geimpft, in vielen Regionen des Landes wurden Priorisierungen aufgehoben und alle können sich ohne Termin impfen lassen. All das verbuchen die Anhänger:innen vom neuen konservativen Präsidenten als einen großen Erfolg.
Schuld sind die anderen
Teil der „Erfolgsstory“ der neuen Regierung ist aber auch eine massive Medienkampagne gegen die vorige Regierung unter Ex-Präsident Hassan Rohani, die aus moderaten Kräften bestand. So propagieren Hardliner, dass die letzte Regierung Impfungen „absichtlich“ verzögert habe beziehungsweise nicht kompetent genug gewesen sei, Impfstoffe zu importieren.
Zudem kritisieren Stimmen aus dem Hardliner-Lager, dass Rohani versucht habe sie mit der Impfthematik politisch zu erpressen. Indem Mitglieder der Rohani-Regierung mehrmals darauf hinwiesen, dass es wegen der wirtschaftlichen Sanktionen nicht möglich sei, Impfstoff zu importieren, hätten sie versucht die Hardliner gegen ihren Willen dazu bringen wollen, Gespräche mit den USA und der EU wieder aufzunehmen.
Doch die Behauptungen der Hardliner bleiben nicht unerwidert. Direkt am Tag nach den Wahlen sagte Rohani, dass seine Regierung alle nötigen Maßnahmen bezüglich der Impfung unternommen habe. Die Aufgabe der nächsten Regierung sei nur, die Impfstoffe zu verabreichen. An dem Tag waren laut offiziellen Angaben nur 1,2 Prozent der Iraner:innen vollständig geimpft. Einige Politiker:innen, die Rohani nahe stehen, behaupten, dass „die Flut von Impfstoffen“ eigentlich eine Leistung der vorherigen Regierung sei.
Derzeit lässt sich nicht überprüfen, welche politische Fraktion näher an der Wahrheit liegt. Es gibt keine zuverlässigen Informationen, ob Rohani in den letzten Wochen seiner Amtszeit einen konkreten Plan für Impfkampagne hatte, wie viel Impfungen zur Verfügung standen oder in welchem Ausmaß seine Regierung Impfstoffe vorbestellt hatte.
Nicht gerade konstruktiv
Klar ist aber zumindest, dass auch die Hardliner auf das Ziel der Durchimpfung keineswegs immer konstruktiv hingearbeitet haben. Noch in den letzten Wochen der vorherigen Regierung haben die staatlichen Medien, darunter der staatliche Rundfunk, der direkt dem Obersten Führer untersteht sowie Hardliner-nahe Zeitungen und Online-Plattformen, eine Propagandakampagne gegen Impfstoffe geführt, die in Ländern wie den USA und Großbritannien produziert werden. Mit der Verbreitung von Fehlinformationen über die schädlichen Nebenwirkungen von Impfungen haben sie offenbar bewusst Ängste geschürt. So zirkulierte auf staatlichen Kanälen etwa die Falschnachricht, dass Menschen in Israel und Europa direkt nach der Spritze an einem Herzinfarkt gestorben seien sowie Berichte, dass die Corona-Impfung in zahlreichen Fällen zu Gesichtslähmungen geführt habe.
An vorderster Front dieser Anti-Impfkampagne stand Ayatollah Ali Khamenei, der Oberste Führer des Landes, der am 8. Januar die Einfuhr von COVID-19-Impfstoffen aus den Vereinigten Staaten und Großbritannien verboten und sie als „nicht vertrauenswürdig“ bezeichnet hatte. Außerdem leugnete Khamenei, dass Impfungen in den USA irgendeinen Einfluss auf die erfolgreiche Eindämmung der Pandemie gehabt hätten. Direkt darauf stornierte der Rote Halbmond der Islamischen Republik den Kauf der bereits bestellten 150.000 Dosen Pfizer-Biontech-Covid19-Impfstoffe. Auch das Gesundheitsministerium hielt sich an die Anweisung von Khamenei.
Da verwundert es wenig, dass das islamische Regime bis vor wenigen Wochen alles darauf gesetzt hat, statt Import eigene Impfstoffe herzustellen. Halbstaatliche Organisationen, religiöse Stiftungen und ein Dutzend anderer Institutionen haben immense staatliche Förderungen erhalten, um einen Impfstoff zu entwickeln – bloß werden diese Projekte nun reihenweise eingestellt werden, ohne ihr Ziel erreicht zu haben. Auch wenn zu erwarten war, dass die Entwicklung und flächendeckende Herstellung eigener Impfstoffe kein leichtes Unterfangen werden würde, blieb Rohanis Regierung vermutlich keine andere Wahl: Seine ersten Versuche, Impfstoffe vom Ausland zu importieren, scheiterten an Ayatollah Khameneis Einwänden. Kaum war Rohanis Amtszeit zum Ende gekommen, legte Khamenei seine ablehnende Haltung ab.
Wo kein Wille, da kein Weg
Der nunmehr abrupte Kurswechsel des Kerns der Islamischen Republik legt nahe, dass die Impfkampagne unter Rohani tatsächlich nicht wirklich an den Wirtschaftssanktionen gescheitert ist. Denn wäre dies der Fall gewesen, hätte ja auch die neue Regierung aufgrund der weiterhin bestehenden Sanktionen handlungsunfähig sein müssen. Ebenso unwahrscheinlich erscheint der Vorwurf, dass die Regierung unter Rohani schlichtweg zu inkompetent gewesen sei. Es ist schwer vorstellbar, dass die alte Regierung so unfähig war, dass ein Regierungswechsel das Problem beinahe von einem Tag auf den anderen lösen kann.
Was Fortschritte beim Impfen lange Zeit blockierte, scheint vor allem eines zu sein: fehlender Wille. Die aus Hardlinern bestehende politische Führung der Islamischen Republik hat den Ernst der Corona-Krise immer wieder unterschätzt und viel zu spät erkannt, dass sich eine Pandemie diesen Ausmaßes mit machtpolitischem Tauziehen, Prinzipienreiterei und Selbstüberschätzung nicht überwinden lässt.
Die Konsequenzen all dessen sind verheerend. Lange Verzögerungen beim Impfen haben womöglich tausenden Iraner:innen das Leben gekostet. Laut offiziellen Angaben sind im Juli und August täglich über 600 Menschen an Coronavirus im Land gestorben. Die eigentlichen Zahlen seien zwei bis dreifach höher, sagen nicht nur unabhängige Expert:innen, sondern auch Mitarbeitende des Gesundheitsministeriums und Parlamentsabgeordnete.
Gleichzeitig hat eine sehr kleine Minderheit enorm von der Krise profitiert: Dazu zählen nicht nur jene Personen und Firmen, die durch ihre Lobbies enorme Förderungen erhalten haben, um Impfstoffe zu entwickeln, die am Ende des Tages nicht zustande kamen. Auch die Hardliner können die neuesten Erfolge beim Impfen für sich nutzen, um ihr Image aufzupolieren – und das, obwohl sie die Impfkampagne bis vor kurzem noch aktiv sabotiert haben. Ein Sieg auf ganzer Linie ist es für sie trotzdem nicht: Denn weite Teile der iranischen Gesellschaft kaufen den Hardlinern ihre „Erfolgsstory“ nicht ab.
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