22.07.2022
Mutige Köpfe
Immer mehr Frauen in Iran nutzen Social Media, um ihre Regimekritik öffentlich machen zu können. Grafik: Zaide Kutay
Immer mehr Frauen in Iran nutzen Social Media, um ihre Regimekritik öffentlich machen zu können. Grafik: Zaide Kutay

Am offiziellen „Tag des Hidschabs“ riefen Dutzende Frauen in Iran dazu auf, ihre Kopftücher in der Öffentlichkeit abzulegen. Das ist nicht nur beeindruckende Zivilcourage, es zeigt auch die Politisierung der jungen Generation, findet Omid Rezaee.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Der 12. Juli ist im offiziellen Kalender der Islamischen Republik der „Nationale Tag des Hidschabs“. Doch dieses Jahr waren die sozialen Medien rund um den „Ehrentag“ voll von Fotos und Videos, die Frauen mit heruntergerutschten oder gar abgelegten Kopftüchern in den Straßen Irans zeigten. Aktivistinnen und oppositionelle Politikerinnen hatten unter einem Hashtag, der sich grob mit #NeinZumHidschab übersetzen lässt, dazu aufgerufen, das Kopftuch an diesem Tag demonstrativ abzulegen. Angesichts des Kontextes ist es selbstverständlich, dass es dabei um den durch das Regime aufgezwungenen und nicht um den Hidschab an sich geht.

Während die einzigartige Aktion von den Regime-Gegner:innen und Kritiker:innen des Kopftuchgesetzes positiv aufgenommen wurde, sorgte sie auf Seiten des Staates erwartungsgemäß für harsche Reaktionen: Bereits am Tag nach der Aktion nahmen die Sicherheitskräfte unter anderem die studentische Aktivistin Melika Gharagozlou fest. Sie hatte sich für die Kampagne eingesetzt und war eine von Hunderten, die am 12. Juni ein Video von sich ohne Kopftuch auf ihrer Twitter-Seite gepostet hatten. Am selben Tag wurde außerdem  Soori Babaei Chegini, die sich ebenfalls mit einem Video an der Kampagne beteiligte und auch ihr Ehemann inhaftiert.

Peitschenhiebe oder Haftstrafe

Grundlage für diese repressiven Reaktionen ist eine Reform des Strafgesetzbuchs, welche das Parlament der Islamischen Republik im Sommer 1983 verabschiedet hatte. Danach sollten Frauen, die sich ohne Hidschab in der Öffentlichkeit bewegen, mit 74 Peitschenhieben bestraft werden. 1996 änderte das Parlament die Strafe dann auf 10 bis 60 Tage Haft. Die Definition des Hidschabs ist dabei im Gesetz nicht konkretisiert. In der Praxis bedeutet dieser offene Interpretationsspielraum viel Macht für die Verantwortlichen und die Kontrolle beschränkt sich, je nachdem wer für die Umsetzung gerade zuständig ist und wie der soziale und politische Wind steht, oft nicht allein auf das Tragen eines Kopftuchs.

Woran genau die Sittenwächter sich dabei störten, variierte über die Jahrzehnte erheblich. Während in den 80er-Jahren schon farbreiche Kleidungsstücke oder „kurze“ Kittel - ein Kleidungsstück, das den Körper immer noch von Hals bis Fuß bedeckte - für Auseinandersetzungen mit den Sittenwächtern sorgte, konnten Frauen sich über die Jahrzehnte einen gewissen Freiraum erkämpfen und geraten nun „erst“ bei abgenommenen Kopftüchern in Konflikt mit der Staatsmacht.

Zurück in die 80er

Seit der Machtübernahme des erzkonservativen Präsidenten Ebrahim Raisi im letzten August hat der Druck auf die Frauen in Iran jedoch wieder zugenommen. Anfang Juni erließ das Innenministerium eine Verordnung zur Umsetzung „des Gesetzes des Hidschabs und der Reinheit“, welches eine weitere Verbreitung der „Hidschab-Kultur“ sicherstellen soll. Daraufhin wies der Staatsanwalt der Stadt Maschhad die staatlichen Behörden und die Banken an, Frauen „mit schlechtem Hidschab“ vor ihren Diensten zu suspendieren. Auch privaten Banken wurde mitgeteilt, Frauen, die die Hidschab-Regeln nicht einhalten, sollten am Schalter nicht mehr bedient werden. Zudem gab es Berichte, dass die Führungspolizei in Einrichtungen wie Krankenhäusern oder privaten Sprachschulen die Einhaltung des islamischen Dresscodes überprüfe.

Eine weitere Maßnahme, von der noch mehr Frauen im Land betroffen sind, ist die stärkere Präsenz der Sittenpolizei in den Straßen der Großstädte. In den letzten Wochen sorgten Zusammenstöße zwischen Frauen, deren Hidschab angeblich „nicht akzeptabel“ sei und der Polizei immer wieder für Schlagzeilen. Die Eskalation ging so weit, dass die Teheraner Sittenpolizisten auf einen Mann schossen, der gegen die Festnahme seiner Frau aufgrund ihres vermeintlich „falschen“ Hidschabs protestiert hatte.

Dieser erhöhte Druck seitens des Staates erinnert die Älteren im Land an die 80er-Jahre, als auf Bildern der iranischen Bevölkerung nur schwarz und grau zu sehen war und alle Frauen fast gleich aussahen: mit großen Kopftüchern und breiten, langen, schwarzen Kitteln, wenn nicht sogar im Tschador. In den letzten Jahrzehnten hatte sich dieses Bild drastisch verändert und ist bunter und diverser geworden. Diese Änderungen waren nur durch den schrittweisen, unablässigen Widerstand von Frauen möglich. Die Ablehnung des „richtigen“, von Konservativen erwünschten, Hidschabs fing mit kleinen Schritten an und ging - trotz des ständigen Drucks seitens des Staates - im Laufe von vierzig Jahren weiter. Das Alltagsbild in den iranischen Straßen wurde so immer vielfältiger und passt nun offensichtlich nicht mehr ins offizielle Narrativ der Staatspropaganda.

Kopftuch nur als Ablenkung?

Einige Beobachter:innen hingegen interpretieren die repressive Kampagne des Staatsapparats als eine Ablenkung vom Versagen der neuen Regierung, insbesondere im wirtschaftlichen Bereich. Diese Analyse erfreut sich vor allem im Reformer:innen-Lager, aber auch unter „klassischen Linken“, seit jeher großer Beliebtheit. Dass das iranische Regime dem Tragen des Hidschabs weiterhin eine wichtige politische und symbolische Bedeutung beimisst, wird jedoch an der Aussage des Direktors der „Behörde zum Gebieten des Rechten und Verbieten des Verwerflichen“ deutlich: Falle demnach „die Mauer vor Haarsträhnen der Frauen“, so fallen alle anderen Mauern des Systems. Der Hidschab sei die vorderste Frontlinie der islamischen Regierung.

Zudem wurden bereits in den ersten Jahren nach der Islamischen Revolution 1979 iranische Linke gerade für ihre Passivität in Sachen Frauenrechte stark kritisiert. Ihnen wurde vorgeworfen, sich nur für den Klassenkampf zu interessieren und dass alle politischen Kämpfe für Frauenrechte in ihren Augen unwichtig seien, weshalb es den religiösen Revolutionären schneller und leichter möglich war, diese einzuschränken. Auch die „Strategie“ des Reformer:innen-Lagers, mit „Geduld“ die Hidschab-Pflicht abzuschaffen, überzeugt heute immer weniger Menschen. Denn die seit der Wahl Raisis komplett entmachteten Reformer:innen haben stets jede Form von zivilem Ungehorsam oder die tatsächliche Aufhebung des Hidschab-Gesetzes abgelehnt und de facto zu keiner Verbesserung beigetragen.

Neue Generationen, neuer Widerstand

Das für lange Zeit beliebte Argument, in Iran „sei Demokratie ein langer Prozess, wir kämpfen seit 100 Jahren darum, es könnte noch 100 Jahre dauern“, findet kein Gehör mehr unter iranischen Millennials und der Generation Z. Und das ist der wichtigste Grund für die schwindende Akzeptanz für das Hidschab-Gesetz und den wachsenden Widerstand. Die junge Generation hat andere Weltansichten und will anders leben. Es geht ihnen offensichtlich darum, heute und jetzt ihr einmaliges Leben so zu führen, wie sie es wollen. Weder die politisierte, verstaatlichte Religion noch diese oder jene Ideologie, die auf Kosten der Gegenwart eventuell eine bessere Zukunft verspricht, kann sie offenbar davon abhalten, sich zu kleiden, wie sie es für richtig halten.

Sie stehen zwar auf den Schultern ihrer Mütter und älteren Schwestern, die den Kampf um Selbstbestimmung seit vier Jahrzehnten unermüdlich führen. Doch dieser neuste Schritt, dass Frauen auf offener Straße ihr Kopftuch ablegen und sich sogar dabei filmen, erweckt Bewunderung selbst bei älteren Generationen. Ob diese bis vor Kurzem unvorstellbare Courage zur offiziellen Abschaffung des Hidschab-Gesetzes führt, lässt sich nicht leicht beantworten. Es beweist jedoch: etwas in der iranischen Gesellschaft hat sich grundlegend verändert, viele Frauen haben ihre Ängste beiseite geräumt. Und das ist die vermutlich unumkehrbare Entwicklung, das langfristig wertvollste Kapital der iranischen Demokratiebewegung.

Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.

 

 

 

Omid Rezaee ist ein iranischer Journalist. 2012 verließ er seine Heimat, nachdem er aufgrund seiner journalistischen und politischen Tätigkeiten einige Monate im Gefängnis verbracht hatte. Bis Ende 2014 berichtete er aus dem Irak vor allem über den Krieg gegen den sogenannten Islamischen Staat. 2015 kam er nach Deutschland und schreibt seitdem...
Redigiert von Johanna Luther, Sophie Romy