05.07.2024
„Moin und Salam“ und das deutsche Islambild
Buchcover „Moin und Salam“
Buchcover „Moin und Salam“

Julius Matuschik und Raida Chbib haben mit „Moin und Salam“ einen neuen Fotoband zu muslimischem Leben in Deutschland herausgebracht. Dabei ging es ihnen vor allem um eines: das Aufbrechen und Hinterfragen medial etablierter Islambilder.

Dies ist ein Beitrag unserer Reihe Re:zension. Hier stellen wir regelmäßig Bücher, Filme und andere Medien vor. Wenn Ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

Vierzehn Jahre ist es her, dass Thilo Sarrazin sich zum ersten Mal mit antimuslimischem Rassismus in die deutschen Bestsellerlisten schrieb. Vierzehn Jahre ist es her, dass der damalige Bundespräsident Christian Wulff (CDU) eine landesweite Debatte auslöste, als er in Reaktion auf Sarrazin zum Tag der Deutschen Einheit erklärte: „Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“ Joachim Gauck, sein parteiloser Nachfolger, ruderte daraufhin sogleich wieder zurück und meinte, dass zwar Muslim:innen zu Deutschland gehören, aber das beim Islam doch etwas schwieriger sei.

Muslimisches Leben in Deutschland erhitzt die Gemüter. Die AfD – nach der Europawahl vom 9. Juni immerhin die Partei mit der zweithöchsten Zustimmungsrate in Deutschland – hat Wulffs Statement ins Negative verkehrt und in ihr aktuelles Grundsatzprogramm aufgenommen: „Der Islam gehört nicht zu Deutschland.“ Dabei handelt es sich bei der ganzen Debatte eigentlich um Formen bürgerlicher Identitätspolitik. In wissenschaftlicher Hinsicht ist es wenig ergiebig, darüber zu diskutieren, ob „der“ Islam nun zu Deutschland „gehöre“. Die Anführungszeichen weisen bereits auf den unvermeidbaren Essentialismus[1] der Begriffe hin.

Fotojournalist Julius Matuschik hat mit „Moin und Salam“ nun einen Bildband vorgelegt, der mit diesem Essentialismus, was Islam sei und was Zugehörigkeit bedeute, auf wohltuende Art und Weise bricht. Der Band ist eine Zusammenstellung von 234 Archivfotos und eigenen Aufnahmen, die ein neues Licht auf Geschichte und Gegenwart von muslimischem Leben in Deutschland werfen – vielschichtig, feinfühlig und unaufgeregt. Raida Chbib, Religionswissenschaftlerin und Geschäftsführerin der Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft (AIWG), hat die Begleittexte dazu verfasst.

Ziel des Projektes war es, muslimische Erfahrungswelten als integralen Bestandteil der deutschen Gesellschaft zu erzählen – „jenseits von Exotismus und Gastarbeiterdenken“, wie Mathias Rohe im Vorwort schreibt. Dafür hat Matuschik Bilder ausgewählt, die gerade nicht die vermeintliche Andersartigkeit von Muslim:innen betonen, sondern Alltag, Gemeinschaft und Zusammenleben in den Mittelpunkt rücken.

Kopftuch und Longboard: Ein neues Islambild

Bilder spielen eine wichtige Rolle im politischen Framing von muslimischem Leben in Deutschland. Dazu gehören sprachliche Bilder („Asyl-Flut“, „Flüchtlingswelle“), aber auch Symbole, Fotografien und Stock Images. Muslime erscheinen dann wahlweise als protzige Sportwagen-Besitzer, Messermänner oder in traditionellem Gewand mit Salafistenbart. Musliminnen dagegen tragen häufig Kopftuch, manchmal auch Burka, und sehen niemals glücklich aus. Diese Stereotypen finden sich in deutschen Medienbildern bis heute: Muslimische Frauen würden unterdrückt, die Männer seien religiös, unberechenbar und gefährlich. Alice Weidels Bundestagsrede („Burkas, Kopftuchmädchen, alimentierte Messermänner“) ist das beste Beispiel dafür.

Medizinstudentin Säli auf dem Longboard. Foto: Julius Matuschik 2021.

 

Säli ist anders. Sie studiert Medizin, fährt am liebsten mit dem Longboard durch Berlin und ist außerdem Muslima. Auf dem Foto (Abb. 1) lächelt sie – und trägt Kopftuch. Denn genau darum ging es Matuschik mit seinem Projekt: um die vielen normalen und unproblematischen Aspekte muslimischen Lebens in Deutschland, die häufig übersehen werden. Um Fotos, auf denen Muslim:innen nicht als Klischee oder Token funktionieren, sondern Subjekte sind. Um Bilder, die vermitteln, dass es zwischen Mehrheits- und Minderheitskultur häufig doch mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gibt – und dass die Unterschiede zu komplex sind, als dass sie sich auf einfache Narrative herunterbrechen ließen.

Auf anderen Fotos sind Ataman Yıldırım zu sehen, der Gründer des ersten muslimischen Karnevalsverein in Deutschland, und Hakan Tekin, der muslimische Cheftrainer des jüdischen Fußballvereins bei Makkabi Deutschland. Fotograf Matuschik war auch dabei, als 2021 unter dem Motto „Pfarrer gegen Imame“ ein christlich-muslimisches Fußballspiel auf dem Tempelhofer Feld in Berlin stattfand (Abb. 2). Kultur- und Sportvereine sind wichtige Träger des interreligiösen Dialogs in Deutschland, und so wird auch in „Moin und Salam“ immer wieder auf sie Bezug genommen.

„Pfarrer gegen Imame“ auf dem Tempelhofer Feld. Foto: Julius Matuschik 2021.

 

Halbmondlager und Gebetswaggon: Historische Schlaglichter

Besonders eindrucksvoll sind die historischen Fotoaufnahmen, die Matuschik aus zahlreichen Archiven zusammengetragen hat – vom Türkischen Friedhof am Columbiadamm, der ersten islamischen Begräbnisstätte in Deutschland, über die Wünstdorfer Moschee, die 1915 für muslimische Kriegsgefangene im „Halbmondlager“ bei Zossen gegründet wurde, bis zur Deutschen Islamkonferenz, die 2006 als Dialogforum auf Initiative des Bundesinnenministeriums entstand.

Auf einer Fotografie aus dem Jahr 1936 sieht man muslimische SS-Soldaten, wie sie die Propagandaschrift „Islam und Judentum“ studieren. Auf einem Bild von 1965 beten türkische Gastarbeiter im Nordschiff des Kölner Doms, das ihnen – nicht ohne öffentliche Kontroverse – dafür zur Verfügung gestellt wurde. Und aus dem gleichen Zeitraum stammt ein Foto, das muslimische Reisende beim Gebet in einem leeren Waggon der Deutschen Bahn zeigt – dem sogenannten „Gebetswaggon“ (Abb. 3), der extra zu diesem Zweck eingerichtet wurde.

Muslime im „Gebetswaggon“ der Deutschen Bahn. Foto: Wilhelm Hauschild 1964.

 

Insgesamt scheint Matuschik bei der Bildauswahl vor allem Fotos berücksichtigt zu haben, in denen Solidarität zwischen deutscher Mehrheitsgesellschaft und muslimischer Minderheit zum Ausdruck kommt. Das zeigen die türkischen Gastarbeiter im Kölner Dom ebenso wie der „Gebetswaggon“. Auf einem Bild aus den 1980er Jahren sind vier nichtmuslimische Schülerinnen abgebildet, die Kopftuch tragen, um im Selbstexperiment zu erfahren, welchem Alltagsrassismus ihre muslimischen Mitschülerinnen ausgesetzt sind. So wird antimuslimischer Rassismus zwar immer wieder thematisiert, bleibt aber gerade in seinen tödlichsten Ausprägungen (NSU-Morde, Brandanschläge, Hanau-Attentat) irritierend unerwähnt.

Ein Islambild ohne Reizthemen?

Ein Fotoband, der mit etablierten Islambildern brechen will, steht zwangsläufig vor der Frage, wie er mit diskursiven Reizthemen umgeht: mit religiösem Extremismus, Antisemitismus, Queer-Feindlichkeit oder dem Engagement des türkischen Staates in deutschen Gemeinden. Im Grunde gibt es zwei mögliche Stoßrichtungen: Entweder man greift diese Bilder auf, bespricht sie, kontextualisiert, korrigiert und komplementiert. Oder man ignoriert sie einfach. Matuschik und Chbib haben sich leider für letzteres entschieden.

Auch Dissens innerhalb der muslimischen Community wird in „Moin und Salam“ nicht weiter beleuchtet. Intergenerationelle Konflikte kommen nicht zur Sprache, und innerislamische Kontroversen wie beispielsweise um Seyran Ateş und ihre Ibn-Rushd-Goethe-Moschee werden konsequent ausgeklammert. Das ist insofern schade, als Matuschiks neues Islambild in der Vermeidung umstrittener Themen so letztlich etwas diskursscheu und unvollständig wirkt.

Trotzdem ist es Matuschik und Chbib gelungen, einen vielfältigen Einblick in die alltagsweltliche Komplexität von muslimischen Menschen in Deutschland zu geben. Als Online-Reportage gestartet und jetzt als ansehnlicher zweisprachiger Fotoband erschienen, liegt das Verdienst ihres Projekts vor allem darin, Muslim:innen konsequent als individuelle Akteure und nicht als Problemkollektiv zu porträtieren. Und so zeigt „Moin und Salam“ – ohne jeden Essentialismus – am Ende doch, dass der Islam zu Deutschland gehört: als Teil einer empirischen Lebenswirklichkeit, die Deutschland seit über einhundert Jahren prägt.

Julius Matuschik und Raida Chbib: Moin und Salam. Muslimisches Leben in Deutschland. Kerber Verlag, Bielefeld/Berlin 2024, 208 Seiten, 42 Euro.

 


[1] Mit Essentialismus meine ich die Vorstellung, dass es einen „richtigen“ Islam und eine „richtige“ deutsche Kultur gebe, das heißt, dass beide über einen unveränderlichen „Wesenskern“ verfügen, der es ermöglicht, Aussagen über sie zu treffen, die universell „wahr“ sind.

 

 

Jakob Eißner hat Religionswissenschaft, Geschichte und Israelstudien in Leipzig, Beer Sheva und Jerusalem studiert. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Religion und Politik in modernen Gesellschaften, Diskurstheorie und Säkularitätsforschung. Zurzeit lebt er in Jerusalem.
Redigiert von Jasmin Schol, Alicia Kleer