04.04.2020
Libanon: „Unsere Revolution ist feministisch!“
Feministische Demonstration in Beirut während der Massenproteste im Herbst 2019 Foto: Mohamad Cheblak
Feministische Demonstration in Beirut während der Massenproteste im Herbst 2019 Foto: Mohamad Cheblak

Frauen stehen an vorderster Front der Demonstrationen im Libanon und haben feministische Anliegen ins Zentrum der Proteste gerückt. Die Forderungen nach wirtschaftlichem und politischem Wandel gehen Hand in Hand mit denen nach Gleichberechtigung.

Dieser Text ist im Rahmen des Kooperationsseminars „Grenzen und Möglichkeiten journalistischer Berichterstattung aus postkolonialer Perspektive zu WANA (Westasien, Nordafrika)“ an der Universität Leipzig entstanden. Das Seminar fand im Wintersemester 2019/2020 unter Leitung von dis:orient-Mitglied Leonie Nückell statt. Alle dabei entstandenen Texte finden sich hier.

Am 17. Oktober 2019 strömten im Libanon tausende Menschen auf die Straße, um gemeinsam gegen die Einführung einer Steuer auf WhatsApp-Anrufe zu protestieren. Ausgewiesen als Maßnahme zur Bekämpfung der massiven Staatsverschuldung des Landes, versinnbildlichte diese für viele Libanes*innen einen weiteren Versuch der politischen Elite, sich an öffentlichen Geldern zu bereichern. Innerhalb weniger Tage wurde aus den Demonstrationen so eine landesweite Protestbewegung, bei der große Teile der libanesischen Bevölkerung ihren Zorn über die tiefgreifenden strukturellen Probleme im Land deutlich machten.

Hintergrund der Massendemonstrationen waren unter anderem eine marode Wirtschaft mit hoher Arbeitslosigkeit sowie durch Korruption und Vetternwirtschaft geschwächte staatliche Institutionen, von denen sich die Bevölkerung seit Ende des Bürgerkriegs 1990 weitestgehend allein gelassen fühlt. Die überwiegend friedlichen und zahlenmäßig größten Proteste in der jüngeren Geschichte des Libanons führten zunächst zum Rücktritt der Regierung und der Ernennung eines neuen Kabinetts. Aber die geforderten Reformen für einen tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialen Wandel, der auch die Rechte von Frauen im Land deutlich verbessert, lassen auf sich warten.

Allerdings haben Frauen innerhalb der Protestbewegung wichtige Arbeit bei der Mobilisierung für Aufstände geleistet, führten Märsche, organisierten Sitzstreiks, diskutierten in Gruppen über Politik und bauten Zelte auf – lautstark beanspruchen sie ihren Platz im öffentlichen Raum. „Frauen sind wirklich effizient in diesen Protesten und in diesem Land im Allgemeinen“, erzählt Doja Daoud, Journalistin bei der Zeitung Al-Araby Al-Jadeed und Teilnehmerin an den Protesten: „Aber sie haben selten führende Rollen und Machtpositionen inne: es gibt beispielsweise kaum führende Politikerinnen oder Chefredakteurinnen.“

Revolution gegen sektiererische Diskriminierung

Die Diskriminierung von Frauen ist im Libanon in ein politisches System  eingebettet, welches auf den unterschiedlichen religiösen Zugehörigkeiten in der  Bevölkerung basiert. Seit der libanesischen Unabhängigkeit 1943 werden jeder Religionsgemeinschaft bestimmte politische Ämter und Sitze vorbehalten, um eine ausgewogene Machtverteilung zu gewährleisten. Laut den Demonstrierenden fördert dieses System jedoch Vetternwirtschaft, Korruption und Ungleichheit zwischen den verschiedenen religiösen Gruppen und verhindert so das Zusammenwachsen einer geeinten libanesischen Bevölkerung.

Mit der Zuspitzung der wirtschaftlichen Krise im Land bilden sich jedoch immer mehr Bündnisse über die Grenzen der Religionsgemeinschaften hinweg – landesweit protestieren vor allem junge Menschen unabhängig von Religion, Konfession oder Klasse gemeinsam. Sie fordern die Abschaffung der konfessionell gebundenen Regelungen und die Einführung eines einheitlichen, für alle geltenden rechtlichen Rahmen und einen grundlegenden Wandel des politischen Systems.

 Johanna Luther

Der Fokus auf partikularen politischen Interessen entlang religiöser Linien in einem patriarchalischen System marginalisiert vor allem auch die Stimmen von Frauen.  Deren Diskriminierung zieht sich durch alle Religionsgemeinschaften und beschränkt sie in ihren politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rechten. Für die verschiedenen Religionsgemeinschaften des Landes gibt es 15 separate Gesetze zum Personenstandsrecht, alle diskriminieren in unterschiedlichem Ausmaß Frauen in ihren Rechten. Diese werden unter anderem im Scheidungs- und Erbrecht strukturell schlechter gestellt, können sich nicht ohne die Zustimmung der religiösen Autoritäten scheiden lassen und müssen oft jahrelang um das Sorgerecht für ihre Kinder kämpfen. Zudem dürfen libanesische Frauen im Gegensatz zu Männern ihre Staatsangehörigkeit nicht an ihre Kinder weitergeben.

Feminismus auf die Straße tragen

Mit der Präsenz von Frauen in den Protesten werden feministische Themen, die bis dahin weithin als „Frauensache“ galten, im öffentlichen Diskurs präsenter. „In den Straßen von Beirut gibt es jetzt Graffitis, die Vergewaltigung, sexuelle Belästigung, Lohnungleichheit und ungleiche Aufstiegschancen am Arbeitsplatz thematisieren“, erzählt Daoud: „Viel mehr Frauen treten mit ihren Erfahrungen und Anliegen an die Öffentlichkeit - wir müssen laut werden, um das wirkliche Bild davon zu zeigen, wie brutal und deutlich ein von Männern dominiertes Regime sein kann.“

Obwohl sich feministische Forderungen mit den Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit aus den Protesten überschneiden, stoßen sie in der Protestbewegung nicht nur auf Zuspruch. „Ich habe es so satt, mir Sätze wie ‚Was macht ein Mädchen wie du mitten in der Nacht bei einem Protest?‘, ‚Wovon redest du, du wirst doch nicht diskriminiert‘ oder ‚diese Themen sind nicht so wichtig, wir haben gerade größere Probleme‘ von anderen Demonstranten und auch Demonstrantinnen anzuhören“, erzählt Daoud: „Frauen werden auch manchmal von anderen Demonstranten, die sich vor Polizeigewalt schützen wollen, als Sicherheitspuffer instrumentalisiert.“

Vor allem bildeten Frauen aber auch bewusst Sicherheitsketten, um Spannungen zu entschärfen, Eskalationen zu verhindern und den gewaltfreien Charakter der Proteste aufrechtzuerhalten. So organisierten Frauen aus einem mehrheitlich christlichen Stadtviertel Beiruts mit Frauen aus einem angrenzenden muslimischen Viertel einen gemeinsamen Protestmarsch, dem sich dutzende Frauen und Männer anschlossen.

Solidarität, Inklusivität und Intersektionalität

Die Forderung nach Gleichberechtigung hat ihre Wurzeln in der langen Geschichte der feministischen Szene im Libanon. Auf die Unabhängigkeit vom französischen Mandat 1943 folgte der Kampf um das Wahlrecht für Frauen, das 1952 in Kraft trat. Spätestens mit dem Ende des libanesischen Bürgerkriegs und der zunehmenden Institutionalisierung des Feminismus durch Vereine und Nicht-Regierungs-Organisationen bildete sich besonders in Beirut eine Vielzahl feministischer Akteur*innen mit unterschiedlichen Realitäten, Prioritäten und Ansätzen. Mit der Vielfalt dieser Akteur*innen wächst auch die Intersektionalität innerhalb der Bewegung. Der feministische Diskurs findet zudem nun zunehmend Einzug in Themen wie Wohnen und Arbeit. „Ich habe ein Syndikat namens Nakaba Al Sahafa Al Badila (‚Die alternative Pressegewerkschaft‘) gegründet, das für journalistische Rechte und Pressefreiheit kämpft, was gerade jetzt während der Revolution besonders wichtig ist", sagt Daoud.

 Johanna Luther

In den letzten drei Jahren standen die Demonstrationen zum Internationalen Frauentag in Beirut unter dem Banner der Solidarität für die Kämpfe von Frauen. Auch die Prioritäten und Bedürfnisse von marginalisierten Gruppen wie Trans*-Personen, Hausangestellten mit Migrationshintergrund und Flüchtlingen, die wenig Aufmerksamkeit und Ressourcen erhalten, werden stärker ins Blickfeld gerückt.  Nun sollen vor allem auch Frauen außerhalb der Aktivistinnen-Kreise stärker in den Diskurs miteingebunden werden.

Viele Frauen im Libanon, insbesondere aus konservativen Milieus scheinen sich jedoch nach wie vor nicht mit den feministischen Bewegungen zu identifizieren. Auch die rassistische Diskriminierung von Hausangestellten mit Migrationshintergrund sei allgegenwärtig und verhindert ein solidarisches Zusammenstehen, so Daoud. Als besondere Herausforderdung beschreibt sie zudem die Ausweitung der Bewegung auf ländliche Gebiete: „Außerhalb der größeren Städte sind die Frauen mit ganz anderen Problemen konfrontiert. Aber viele der Aktivistinnen in Beirut sind, wie ich auch, zugezogen und versuchen, Frauen in ihren Heimatorten stärker einzubinden.“

Die Forderungen nach wirtschaftlichem und sozialem Wandel gehen damit Hand in Hand mit denen nach Gleichberechtigung im ganzen Land. „Wir verdienen ein gutes Leben, ohne jeden Tag mit all unserer Kraft dafür kämpfen zu müssen“, sagt Daoud: „Unsere Revolution ist feministisch, es geht um soziale Gerechtigkeit für alle. Alle Probleme sind meine Probleme, alle Kämpfe sind meine Kämpfe und diese sind noch lange nicht vorbei.“

Anna studiert Afrikastudien an der Universität Leipzig, wo sie sich vertieft mit Postkolonialer Theorie, Feminismus und der deutschen Afrikapolitik auseinandersetzt. Sie schreibt Reiseführer für Sub-Sahara Afrika beim Reise Know-How Verlag und war als Redakteurin beim online-Radio detektor.fm tätig.
Artikel von Anna-Lena Stumpf
Redigiert von Johanna Luther, Tobias Griessbach