Der tunesische Menschenrechtsaktivist Ramy Khouili ist Mitautor des neuen Buches „Paragraph 230“. Mit dis:orient spricht er über homofeindliche Strafverfolgung, Meilensteine der tunesischen LGBTIQ*-Bewegung und darüber, was orientalistische Vorstellungen von arabischer Sexualität mit der Kriminalisierung von Homosexualität in Tunesien zu tun haben. Von Maximilian Ellebrecht
Ramy Khouili ist Meschenrechtsaktivist, studierter Arzt und Direktor der tunesischen Frauenrechtsorganisation ATFD. Zusammen mit Harvard-Jurastudent Daniel Levine-Spound hat er das Buch „Paragraph 230: Eine Geschichte der Kriminalisierung von Homosexualität in Tunesien“ geschrieben. Bisher ist es auf Arabisch, Englisch und Französisch erschienen.
Euer Buch betrachtet die Geschichte der Kriminalisierung von Homosexualität in Tunesien. Wie kommt es, dass gleichgeschlechtliche Liebe in Tunesien strafbar ist?
Eine geschriebene Verfassung und ein Strafgesetzbuch gibt es in Tunesien schon seit 1861. In der Gesetzgebung von damals wird Homosexualität kein einziges Mal erwähnt. Tunesien folgte damit vermutlich dem Vorbild der Französischen Revolution, in deren Folge Homosexualität 1791 legalisiert wurde. Auch dass das Osmanische Reich Homosexualität 1858 entkriminalisierte, dürfte beeinflusst haben, dass Tunesien Homosexualität damals nicht unter Strafe stellte.
Eine relative Offenheit gegenüber Homosexualität reicht in Tunesien bis mindestens ins 16. Jahrhundert zurück. Deswegen kamen früher auch so viele Europäer nach Tunesien, um ihre Sexualität frei zu leben. Doch seitdem 1913 unter französischem Protektorat das zweite tunesische Strafgesetzbuch erlassen wurde, ist Homosexualität strafbar.
Manche meinen daher, Homofeindlichkeit wäre erst durch die Kolonialzeit nach Tunesien gekommen.
Es ist immer leicht, anderen die Schuld zu geben. Doch ich werde nicht allein Frankreich verantwortlich machen. Als Tunesien den Paragraphen 230 einführte, gab es im französischen Strafrecht selbst gar kein Gesetz, das Homosexualität explizit strafbar machte. Auch wenn das französische Justizsystem Homosexuelle damals über andere Wege verfolgte, stellt sich die Frage: Warum würden die Franzosen Homosexualität in ihren Protektoraten kriminalisieren, aber nicht in Frankreich selbst?
Das ist die Kernfrage eurer Untersuchung. Wie also lässt sich erklären, dass Homosexualität im tunesischen Strafgesetzbuch von 1913 kriminalisiert wurde?
Wir haben in unserem Buch verschiedenste Erklärungsmöglichkeiten betrachtet, zum Beispiel islamisches Recht. Das tunesische Strafgesetzbuch von 1913 wurde im Wesentlichen dem französischen Strafrecht von 1810 nachempfunden. Es ist aber auch an islamisches und tunesisches Recht angelehnt.
Die Kommission, die mit dem Verfassen des tunesischen Strafgesetzbuches beauftragt war, bestand mehrheitlich aus Franzosen. Ihr gehörten allerdings auch zwei tunesische islamische Richter (qadis) an – einer der hanafitischen und einer der malikitischen Rechtsschule. Die Forschung ist sich zwar einig, dass die beiden Tunesier kaum zum finalen Gesetzestext beitrugen. Dennoch wäre denkbar, dass die französischen Kolonialbehörden den Paragraphen 230 in das Strafrecht mitaufnahmen, weil sie glaubten, dass dies islamischen Traditionen entspreche – als Vorbeugungsmaßnahme gegen Rebellion sozusagen. Denn eins ist klar: Schlussendlich waren es ein paar französische Bürokraten, die beschlossen, Homosexualität in Tunesien zu kriminalisieren.
Was sagt denn islamisches Recht zu Homosexualität?
Damals war die malikitische Rechtsschule in Tunesien dominant. Theoretisch sieht diese für homosexuellen Geschlechtsverkehr die Todesstrafe vor. Sie fordert aber auch eine sehr hohe Beweislast von vier Augenzeugen. Das ist beinahe unmöglich zu erfüllen und legt nahe, dass dieses Strafrecht vermutlich eher darauf abzielte, homosexuelle Handlungen vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Bezüglich der Frage, ob homosexuelle Menschen in Tunesien strafrechtlich verfolgt wurden oder nicht, lautet die Antwort daher: Wahrscheinlich nicht. Trotzdem galt Homosexualität im Islam als Sünde und war keineswegs akzeptiert.
Hat diese Sichtweise die französischen Kolonialbehörden in ihrer Entscheidung beeinflusst, Homosexualität in Tunesien zu kriminalisieren?
Das ist gut möglich. Wir gehen davon aus, dass der Kontakt von zwei Zivilisationen mit vollkommen unterschiedlichen Normen zu einer gewissen Ambivalenz im tunesischen Recht führte. Frankreich brachte die im 19. Jahrhundert einflussreiche Idee strenger sozialer Kontrolle durch den Staat und versuchte alles bis ins Private hinein zu regulieren. In der islamischen Tradition galt Homosexualität hingegen ohnehin schon als unerlaubt. Selbst wenn das tunesische Strafgesetzbuch von 1861 Homosexualität nicht erwähnte, war es trotzdem ein gesellschaftliches Tabu. Dass Homosexualität 1913 kriminalisiert wurde, lässt sich daher auch als eine Vermischung von Konservatismen beider Seiten verstehen.
Welche anderen Erklärungen gibt es?
Wir haben uns auch mit orientalistischen Vorstellungen beschäftigt, die Französ*innen von arabischer Sexualität hatten. Es gab damals rassistische Theorien, dass die drückende Hitze Nordafrikas die Libido von Männern und Frauen steigern würde. Das würde wiederum zu Homosexualität und Prostitution führen. Die französischen Kolonialbehörden fürchteten, dass die „indigene“ Sexualität sich auf französische Siedler und Soldaten auswirken könnte. Es ist wahrscheinlich, dass die Angst vor sexuellem Chaos sie dazu brachte, Homosexualität in ihren Kolonien und Protektoraten zu kriminalisieren, selbst wenn das in Frankreich selbst nicht der Fall war.
Homosexualität wird in Tunesien also seit 1913 kriminalisiert. Was heißt das denn genau?
Gemäß Paragraph 230 des tunesischen Strafgesetzbuches wird Homosexualität mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft. Während Paragraph 230 Homosexualität explizit kriminalisiert, werden aber auch Paragraphen zu Prostitution oder öffentlichen Sitten und Moral als Waffe eingesetzt, um gegen die LGBTIQ*-Community vorzugehen. Transmenschen zum Beispiel leiden weit mehr unter diesen Gesetzen als unter Paragraph 230.
Kritische Stimmen sagen, das Gesetz sei vage formuliert.
Auf Französisch verbietet der Paragraph 230 den Akt der „Sodomie“, also analen Geschlechtsverkehr. Die autoritative arabische Version bezieht sich hingegen auf liwat und el Mousahaka, das heißt männliche und weibliche Homosexualität. Auf Arabisch ist das Verbot also viel allgemeiner gefasst. Dieser Unterschied macht das Gesetz extrem vage und gibt Polizist*innen und Richter*innen großen Ermessensspielraum. Das ist ein riesiges Problem, denn sie sollten Recht anwenden und es nicht interpretieren.
Einige Polizist*innen und Richter*innen sind wohl durchaus aufgeschlossen und lassen Betroffene möglicherweise einfach gehen oder sagen, dass es keine Beweise gibt. Doch viele sind besonders konservativ oder homofeindlich. Manchmal spürst du richtig, wie diese Menschen hartnäckig alles daran setzen, die Betroffenen hinter Gitter zu bringen.
Welche Folgen hat all das für die Betroffenen?
Jährlich müssen zahlreiche Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität ins Gefängnis – 127 allein letztes Jahr. Die Kriminalisierung betrifft aber auch diejenigen, die nicht verurteilt werden. Als LGBTIQ*-Person in Tunesien lebst du mit einer fast permanenten Angst verhaftet zu werden. Jeder Kontakt mit der Polizei oder dem Justizsystem kann zu einer Verhaftung führen.
Wenn Menschen aus der LGBTIQ*-Community Opfer eines Verbrechens werden, trauen sie sich häufig nicht zur Polizei zu gehen, weil sie fürchten, selbst verhaftet zu werden. Die meisten Fälle, die wir uns für unser Buch angeschaut haben waren Menschen, die ursprünglich aus anderen Gründen mit der Polizei in Kontakt kamen.
Kannst du ein Beispiel geben?
Eines der Beispiele in unserem Buch ist ein Mann, dessen Motorrad wegen fehlender Versicherung beschlagnahmt wurde. Er ging zur Polizeiwache, um die notwendigen Papiere vorzuzeigen und sein Motorrad zurückzubekommen. Doch dort kritisierten ihn die Polizisten für sein langes Haar, seine Kleidung und sein „feminines Äußeres“. Als er versuchte sich zu verteidigen, nahm die Polizei ihm ohne rechtliche Grundlage sein Handy ab und fand darauf ein Foto, auf dem er seinen Partner küsste. Beide wurden zu drei Jahre Gefängnis verurteilt, nach Einspruch auf zwei Jahre verkürzt .
Obwohl jährlich zahlreiche Menschen wegen Homosexualität verhaftet werden, können wir in einer Bar mitten in Tunis sitzen und das Thema offen diskutieren.
Das ist sehr eigenartig hier in Tunesien. Wir leben in einem Zustand von halb Demokratie, halb Diktatur. Seit 2014 haben wir eine neue Verfassung und niemand kann leugnen, was für Fortschritte wir in Tunesien seit der Revolution von 2011 verwirklicht haben, insbesondere mit Blick auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Gleichzeitig wenden wir noch immer repressive alte Gesetze an, die gegen die Verfassung und Tunesiens internationale rechtliche Verpflichtungen verstoßen.
Warum gibt es Paragraph 230 dann überhaupt noch?
Weil Tunesien immer noch kein Verfassungsgericht hat. Laut tunesischer Verfassung sollte ein Verfassungsgericht eigentlich binnen eines Jahres nach den Parlamentswahlen etabliert werden. Doch leider konnten sich die Parteien bis heute nicht auf Kandidat*innen für das Gericht einigen. Fast fünf Jahre nach der Parlamentswahl von 2014 ist es in Tunesien immer noch nicht möglich, gegen die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes zu klagen.
Wie hat sich die Revolution auf die tunesische LGBTIQ*-Community ausgewirkt?
Viele würden sagen, dass sich die Situation verschlechtert hat und dass es heute mehr Verhaftungen gibt. Ich sehe das nicht so. Wir haben heute einfach bessere Zahlen als früher. Verhaftungen gab es auch damals schon, aber heute erfahren wir eben eher von ihnen. Vor der Revolution gab es keine einzige registrierte LGBTIQ*-Organisation. Heute gibt es mindestens vier mit offiziellem Status. Sie können Betroffenen nicht nur Schutz bieten, sondern organisieren auch zahlreiche Aktivitäten, die der LGBTIQ*-Community mehr Sichtbarkeit verschaffen.
Kann Sichtbarkeit auch kontraproduktiv sein?
Wir unterdrücken, was wir sehen. Das ist offensichtlich. Sichtbarkeit ist trotzdem sehr wichtig. Wir können die Dinge nicht verändern, wenn wir sie nicht sehen. Es mag vielleicht noch etwas dauern, aber der Wandel wird kommen.
Gibt es schon jetzt Anzeichen dafür, dass die LGBTIQ*-Bewegung Erfolg hat?
Ganz bestimmt. Wir haben viele kleine Siege verzeichnet, besonders seit 2015. Damals wurden sechs Studenten im zentraltunesischen Kairouan verhaftet, weil sie den Paragraph 230 verletzt hatten. Bei einer Durchuchung ihrer Studentenheimwohnung fand die Polizei Frauenkleider, High Heels, ein unbenutztes Kondom und einen Laptop mit homosexueller Pornographie.
Die Polizei verhaftete die sechs Männer und zwang sie zu einer Analuntersuchung, um ihre Homosexualität „festzustellen“. Vor Gericht wurden alle sechs Männer zu drei Jahren Gefängnis verurteilt sowie darüber hinaus fünf Jahre aus Kairouan verbannt. Marwan, einem jungen Mann aus der Küstenstadt Sousse, war drei Monate zuvor fast genau das selbe widerfahren.
Und was haben diese Fälle mit den Erfolgen der tunesischen LGBTIQ*-Bewegung zu tun?
Beide Fälle haben für einen riesiegen Aufschrei in der tunesischen Zivilgeselschafft gesorgt und viel internationale Aufmerksamkeit erhalten. Das hat zur einer Revision des Urteils geführt. Die Haftstrafe der sechs jungen Männer aus Kairouan wurde auf einen Monat reduziert – die von Marwan auf zwei. Das war ein klares Zeichen, dass Mobilisierung wirklich einen Unterschied machen kann.
Welche anderen Erfolge hat die tunesische LGBTIQ-Bewegung in den letzten Jahren verzeichnet?
Zum Beispiel hat die Hohe Unabhängige Behörde für Audiovisuelle Komunikation (HAICA) im Oktober 2015 einen TV-Sender wegen homophober Inhalte verwarnt. Dass ein Verfassungsorgan derartig Stellung beziehst, ist ein großer Schritt. Die Nationale Ärztekammer (CNOM) hat sich gleich zweimal dagegen ausgesprochen, Analuntersuchungen zur „Feststellung“ von Homosexualität durchzuführen. Das war ein weiterer riesiger Schritt. Schließlich hat die von Präsident Beji Caid Essebsi offiziell eingesetzte Kommission für individuelle Freiheiten und Gleichheit (COLIBE) dazu aufgerufen, Paragraph 230 abzuschaffen. Das hätten wir uns nie träumen lassen.
Ist zu erwarten, dass sich dieser Trend auch in Zukunft fortsetzen wird?
Ich gehe stark davon aus, dass wir in den nächsten Jahren weitere Fortschritte sehen werden. Allerdings wird das auch von den nächsten Parlamentswahlen abhängen – ob wir eine konservative oder eher liberale Regierung haben werden.