Michel Aoun scheint sich jenseits der 80 seinen Traum vom libanesischen Präsidentenamt zu erfüllen. Im Gegenzug soll Saad Hariri durch einen Kuhhandel Ministerpräsident werden. Über ein „Erdbeben“, das die politische Lagerbildung ad absurdum führt, jedoch die eigentlichen Probleme des Libanon nicht tangieren wird. Aus Beirut von Bodo Straub und Christoph Dinkelaker
Einen Moment lang war es angenehm in Beirut. Ein frischer Regenschauer ging am Dienstagabend über der libanesischen Hauptstadt nieder und wusch den Dreck, die Abgase und vor allem den Müllgestank der letzten Wochen aus der Luft.
Zwei Tage später ist in Beirut alles wie zuvor. Die Sonne scheint, der Verkehr verstopft die Straßen, der Müll stinkt. Dafür scheint es bei einem anderen Dauerproblem des Landes Bewegung zu geben: Saad Hariri, sunnitischer Anführer der stärksten Parlamentspartei Future Movement, gab am Donnerstagabend seine letzten Prinzipien auf und bekannt, dass er die Kandidatur Michel Aouns fürs Präsidentenamt unterstützt. Im Gegenzug will Hariri wieder Premier werden, ein Amt, das er bereits von 2009 bis Anfang 2011 innehatte.
Dieser sogenannte „Package Deal“, der gerüchteweise seit Wochen durch den Libanon wabert, sieht auf den ersten Blick nach einem „politischen Erdbeben“ (Middle East Eye) aus. Die politische Spaltung des Landes in die Bewegungen des 14. März (Hariri) und des 8. März (Aoun und Hisbollah), die seit 2005 Bestand hatte, wäre damit endgültig erledigt; eine Entwicklung, die sich bereits im Juni mit der inner-christlichen Annäherung zwischen Aoun und Samir Geagea, seinem Erzfeind aus Bürgerkriegstagen, angedeutet hatte. Gleichzeitig hätte das Land endlich wieder einen Präsidenten, nach zweieinhalb Jahren Vakanz. 32 Mal haben die Abgeordneten seither erfolglos versucht, einen Nachfolger für den im Mai 2014 aus dem Amt geschiedenen Michel Sleiman zu finden. Ein erster Wahlgang geriet zur Farce, bei den weiteren erschienen zu wenige Abgeordnete, sodass gar nicht erst gewählt werden konnte.
Die Pfründe werden neu verteilt
Tatsächlich ist die aktuelle Entwicklung aber wohl auch nur ein kurzer Regenschauer, der an dem eigentlichen Problem nichts ändert. Eine Wahl Aouns wäre doch nur wieder das Ergebnis einer Vereinbarung der politischen Klasse, die das Land seit Jahrzehnten, spätestens aber seit Ende des Bürgerkriegs im Jahr 1990, beherrscht. Die Pfründe würden zwischen den sechs bis sieben Protagonisten der libanesischen Politik einfach nur einmal mehr neu verteilt.
Dabei haben es die politischen Schwergewichte um Hariri, Aoun, Hassan Nasrallah, Nabih Berri, Walid Jumblat oder Samir Geagea nicht geschafft, die Lebensbedingungen der Libanes_innen zu verbessern: Knapp 30 Prozent der Libanes_innen leben nach Angaben der World Bank unter der Armutsgrenze, wobei die rund 1,5 Millionen syrischen Flüchtlinge und die schätzungsweise 350.000 Palästinenser_innen im Land, die zum Teil unter katastrophalen Bedingungen leben, noch gar nicht erfasst sind. Weiterhin sind Stromausfälle an der Tagesordnung. Viele Haushalte beziehen für zusätzliche 100 Dollar im Monat oder mehr Strom von Generatoren. Die Wasserversorgung ist aufgrund von Missmanagement unzureichend – im arabischen Land mit den größten Wasservorkommen pro Kopf. Vor allem aber ist die Müllkrise weiterhin nicht bewältigt, der Abfall stinkt zum Himmel, trotz EU-Unterstützung hat die politische Führung keine nachhaltigen Müllaufbereitungsstrategien entwickelt. Politiker wie Hariri, der vom Monopol der Abfallfirma Sukleen profitiert, stellen ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen über das Gemeinwohl.
Saad Hariri mit dem Rücken zur Wand
Hariri steckt in Schwierigkeiten: Die saudische Baufirma Oger, die er mitsamt dem Parteivorsitz von seinem 2005 getöteten Vater übernommen hat, ist finanziell ins Schleudern geraten. Auch politisch erhält Hariri kaum noch Unterstützung vom saudischen Königshaus. So kann seine Partei, das Future Movement, die eigenen Angestellten nicht mehr bezahlen, geschweige denn Gefälligkeiten an die Bevölkerung zur Sicherung von Wahlstimmen verteilen, wie es im korrupten politischen System des Libanon üblich ist.
So scheint es logisch, dass Hariri nun mit seinen vermeintlichen Erzfeinden Aoun und selbst der Hisbollah, die zumindest offiziell Aoun unterstützt, paktiert. Zur Erinnerung: Das Sondertribunal für den Libanon in Den Haag verdächtigt vier Hisbollah-Mitglieder, Hariris Vater Rafiq im Jahr 2005 getötet zu haben. Auch in anderen Bereichen haben Hariri und Aoun komplett entgegengesetzte Interessen: Hariri will, dass die Hisbollah ihre Waffen abgibt und sich aus dem Syrien-Krieg heraushält. Dahinter steht auch der sich in der ganzen Region, gerade im Syrien-Krieg, immer weiter zuspitzende Konflikt zwischen Sunniten (Hariri) und Schiiten (Hisbollah). So gab es beispielsweise auch in den schiitischen Vororten Beiruts, einem Hisbollah-Gebiet, mehrere tödliche Bombenanschläge, für die vermutlich sunnitische Extremisten verantwortlich waren.
Dennoch ist der Schritt aus Hariris Sicht sinnvoll: Als Premierminister hätte er wieder sehr viel einfacher Zugang zu den finanziellen Ressourcen des Landes und könnte sich vor der Parlamentswahl nächstes Jahr – so sie denn stattfindet – als starker Mann der libanesischen Sunniten präsentieren. Dieses Image hat er seit dem Platzen seiner letzten Regierung weitgehend eingebüßt, als er sich jahrelang hauptsächlich im Ausland aufhielt und ihm mit Justizminister Ashraf Rifi in den eigenen Reihen starke Konkurrenz erwuchs.
Sunniten vor Zerreißprobe
Rifi, der mit seiner Liste bei den Kommunalwahlen in Tripoli einen überraschenden Sieg gegen die Liste errang, die von Hariri, Ex-Premier Najib Miqati und weiteren sunnitischen Größen unterstützt wurde, bezeichnet Michel Aoun als Teil des „iranischen Projekts“ im Libanon. Seine Kritik an Hariris Zweckbündnis mit Aoun trifft einen empfindlichen Nerv bei vielen Sunniten, die den starken iranisch-schiitschen Einfluss im Libanon mit großer Sorge sehen. Die Sunniten zeigen sich vor den für Mai 2017 angesetzten Wahlen gespalten.
Verlierer des Package-Deals schäumen
Die nicht vom „Package Deal“ profitierenden politischen Schwergewichte fahren indes schwere rhetorische Geschütze auf. Drusenführer Walid Jumblat, ausnahmsweise dieses Mal nicht Zünglein an der Waage beim Schachern um die politischen Ämter, bezeichnet Hariris Zugehen auf Aoun als „politischen Selbstmord“.
Parlamentspräsident Nabih Berri und Vorsitzender der schiitischen Amal-Partei wirft Aoun und Hariri vor, die Schiiten blieben bei diesem neuen Bündnis außen vor. Dies könne zu einem „neuerlichen Bürgerkrieg“ im Land führen. Dabei unterschlägt er, dass der „Package Deal“ ohne die Zustimmung der politisch und militärisch stärksten Kraft im Libanon, der schiitischen Hisbollah, nicht durchführbar ist. Viel mehr schmeckt Berri offenbar nicht, dass er in naher Zukunft wieder mit einem starken Präsidenten und einem starken Premier umgehen werden muss.
Hisbollah hält sich bedeckt
Nun wartet der Libanon gespannt auf die Positionierung der Hisbollah. Noch hält sich die „Partei Gottes“ bedeckt, unterstützt den „Package Deal“ (noch) nicht öffentlich. Weil sie eine handlungsunfähige politische Führung angesichts des Krieges in Syrien, der die Kräfte der Hisbollah bündelt, bevorzugt? Die Tatsache, dass weder Sunniten noch Christen momentan starke Führer qua Amt haben, ermöglicht der schiitischen Bewegung Handlungsfreiheit. Es ist unklar, ob sie den langjährigen Verbündeten Aoun unterstützen oder den politischen Prozess blockieren wird.
Was denkt die Jugend?
In Gesprächen mit jungen Menschen in Beirut und auf dem Land kommt keine Euphorie ob des möglichen Durchbruchs auf. „Es ist egal, wer von den Dieben dieses Land regiert. Es braucht einen Sturz der politischen Klasse, die unser Land seit dem Bürgerkrieg ausbeutet“, findet eine Studentin aus der Bekaa-Ebene. Eine Einschätzung, die viele junge Menschen teilen. Ein Bankangestellter aus Beirut, einst glühender Anhänger Michel Aouns aufgrund seines überkonfessionellen Ansatzes, bezeichnet diesen als „Desaster, der selbst seine Familie für das Präsidentenamt opfern würde“. Ein in der Diaspora lebender Christ aus dem Libanon-Gebirge glaubt dagegen, dass es grundsätzlich positiv zu bewerten ist, dass die Vakanz des Präsidentenamtes überwunden wird.
Hoffnungsschimmer Parlamentswahlen
Junge Menschen, die sich noch nicht komplett von der libanesischen Politik abgewandt haben, sehen durchaus Hoffnungsschimmer. Die Müllproteste 2015 hätten eine beeindruckende Dynamik unter der Jugend in allen Landesteilen entwickelt, argumentieren Aktivist_innen. Dass Beirut Madinati bei den Beiruter Lokalwahlen aus dem Stand 40 Prozent gegen das geeinte politische Establishment errang, wird als gereifte Fortführung des Aufbegehrens gegen den von Korruption und Klientelismus geprägten status quo wahrgenommen. Ein Bündnis von integren Politiker_innen und zivilgesellschaftlichen Initiativen könnte bei den Parlamentswahlen den traditionellen Eliten weiter das Wasser abgraben, so die Hoffnung vieler.
Es wird bald Winter im Libanon. Da kommen auch in Beirut immer mal wieder Stürme auf, die die Luft für längere Zeit reinigen könnten.