15.10.2016
Kann die palästinensische Wirtschaft einen unabhängigen Staat versorgen?

Offiziellen Berichten von Weltbank und IWF zufolge ist die palästinensische Wirtschaft in ihrer heutigen Form in der Lage, einen unabhängigen Staat zu versorgen. Die Politikökonomin Leila Farsakh jedoch bezeichnet sie als fragmentiert, nicht nachhaltig und im hohen Grade abhängig von internationalen Hilfsgütern. Wie der unabhängige Staat, den sie eines Tages versorgen soll, könne sie erst voll funktionieren, wenn die israelische Besatzung beendet wird.

Zuerst auf Englisch erschienen auf dem Blog Palestine Square des Institute for Palestine Studies.

Unter der „palästinensischen Wirtschaft“ versteht man allgemein die Wirtschaft des Westjordanlandes und des Gazastreifens. Sie umschließt einen Bereich, in dem insgesamt 4,7 Millionen Palästinenser_innen leben (1,8 Millionen in Gaza und 2,9 Millionen im Westjordanland).

Das Oslo-Abkommen von 1993 zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) versprach, die Abhängigkeit der palästinensischen Wirtschaft von Israel zu verringern und sollte sie stattdessen in den dynamischen Motor eines palästinensischen Staates verwandeln.

2012 erklärten die Weltbank und der Internationale Währungsfond, dass die palästinensische Wirtschaft gewachsen und fähig sei, einen unabhängigen palästinensischen Staat zu versorgen. Dieser 1988 von der PLO ausgerufene Staat erhielt seine größte internationale Anerkennung 2012 durch die Zuerkennung des permanenten Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen (was bedeutet, dass er bis auf das Stimmrecht die gleichen Rechte wie ein Mitgliedsstaat hat, Anm. d. Übersetzters). Er wurde bisher von über 135 Staaten anerkannt.

Fragmentierung der palästinensischen Wirtschaft seit dem Oslo-Abkommen

Ein genauer Blick auf die palästinensische Wirtschaft zeigt jedoch, dass sie fragmentiert und nicht überlebensfähig ist.

Im Jahr 2014 betrug das reale Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt[1] im Westjordanland und Gazastreifen im Durchschnitt 1.737 US-Dollar. Damit lag es unter dem Wert des Jahres 1999 und nur um 15 Prozent höher als bei der Unterzeichnung des Oslo-Friedensabkommens 1993.

Ebenso alarmierend ist, dass das Einkommensniveau im Gazastreifen 2014 um 31% niedriger war als noch 20 Jahre zuvor und sich die Unterschiede im Pro-Kopf-Einkommen zwischen den beiden palästinensischen Gebieten in diesem Zeitraum von 14 Prozent auf 141 Prozent zugunsten des Westjordanlands erhöht haben.[2] Das reale Pro-Kopf-BIP im Gazastreifen stand im Jahr 2014 bei 976 US-Dollar im Vergleich zu 2.540 US-Dollar im Westjordanland.[3]

Das palästinensische Wirtschaftswachstum schwankt seit 1993 zwischen 3 und 5 Prozent im Jahr. Die Armutsquote liegt bei über 40 Prozent im Gazastreifen und auch im Westjordanland ist sie nicht unter 16 Prozent gefallen. Im Jahr 2014 waren 47 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung im Gaza-Streifen von Arbeitslosigkeit betroffen, in der Westbank immerhin 17 Prozent.[4]

Diese wirtschaftliche Situation geht auf die im Rahmen des Osloer Friedensprozesses neu definierte israelische Kolonialherrschaft über das Westjordanland und den Gazastreifen zurück. Seit 1993 hängt das palästinensische Wirtschaftswachstum von drei Schlüsselfaktoren ab Dem Spielraum der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) zur Verwaltung der palästinensischen Wirtschaft, die Höhe der internationalen Hilfsleistungen an die palästinensische Bevölkerung und die Art der israelischen Kriegs- und Abschottungspolitik. Diese drei Elemente haben Israels Siedlungs- und Kolonialherrschaft keineswegs beendet, sondern im Gegenteil sogar gefestigt.

Spielraum der Palästinensischen Autonomiebehörde

Die Gründung der PA war der erste Schritt hin zu einer Wirtschaft, die den Bedürfnissen der palästinensischen Bevölkerung gerecht werden sollte. Sie wurde schnell  zum größten Arbeitgeber sowohl im Gazastreifen – wo fast 30 Prozent der Arbeitnehmer_innen für sie arbeiteten – als auch im Westjordanland – wo es immerhin 12 bis 18 Prozent waren.[5] Die PA wurde zum Manager der palästinensischen Wirtschaft – doch ihr Handlungsspielraum war weiterhin begrenzt durch das Protokoll über Wirtschaftsbeziehungen des Oslo-Abkommens und durch Israels Einschränkungen der Bewegungsfreiheit palästinensischer Güter und Personen.

In der Folge war das Wirtschaftswachstum in den besetzten Gebieten weitgehend durch Finanzdienstleistungen und den Ausbau des Immobiliensektors bestimmt. Der Anteil der Landwirtschaft am palästinensischen BIP sank von 18 Prozent im Jahr 1993 auf weniger als 5 Prozent im Jahr 2014 und auch der Anteil der Industrie lag 2014 unter 14 Prozent.[6]

Abhängigkeit von internationalen Hilfsleistungen

2007 trug die Übergangsregierung des ehemaligen Premierministers der PA, Salam Fayyad, dazu bei, die steuerliche Transparenz und Effizienz zu verbessern. Doch hat die Einführung neoliberaler Politiken auch dazu geführt, dass sich die individuelle Verschuldung der Palästinenser_innen gegenüber Banken und internationaler Hilfe erhöht hat.

Im Jahr  2004 empfing jede_r Palästinenser_in - ob Mann, Frau oder Kind - 258 US-Dollar an Hilfsgeldern, 2012 hatte sich dieser Betrag auf 497 US-Dollar pro Kopf erhöht. Im Vergleich dazu erhielt Haiti im Jahr 2012 weniger als 150 US-Dollar pro Kopf, während die Hilfsgelder in Ost-Timor in den 1990er Jahren bei 235 US-Dollar pro Kopf lagen.[7]

Internationale Hilfsgelder sind bislang der Schlüssel zum Überleben des palästinensischen Volkes. Sie wurden sowohl dafür eingesetzt, die palästinensische Industrie und Infrastruktur zu entwickeln als auch dafür, Armut zu verringern, eine verantwortungsbewusste Regierungsführung zu fördern und zivilgesellschaftliche Organisationen zu unterstützen. Der Betrag der humanitären und Entwicklungshilfe seit 1993 wird auf insgesamt über 25 Milliarden US-Dollar geschätzt – was mehr als das Doppelte des palästinensischen BIP ist.

Doch trotz dieses beispiellos großen Betrags ist es bisher nicht gelungen, die palästinensische Abhängigkeit von Israel zu verringern. Nach wie vor gehen 80 Prozent der palästinensischen Exporte nach beziehungsweise über Israel und 70 Prozent der Importe stammen von dort. Besonders erschreckend ist, dass die internationale Hilfe indirekt die israelische Besatzung subventioniert, anstatt sie zu beenden.

Israels Kriegs- und Abschottungspolitik

Seit der israelischen Belagerung des Gazastreifens im Jahr 2006 und der Übernahme der Hamas 2007, hat sich die palästinensische Wirtschaft in mindestens zwei Volkswirtschaften aufgeteilt, wenn nicht sogar in mehr. Gazas Wirtschaft wurde zu einer Kriegs- und Belagerungswirtschaft, die auf unterirdischen Tunnelsystemen basiert  – vorausgesetzt, diese werden nicht von Israel zerstört – und auf humanitäre Hilfe angewiesen ist – vorausgesetzt, Israel lässt diese zu. Die drei Kriege Israels gegen Gaza in den Jahren 2008-2009, 2012 und 2014 haben schätzungsweise jeweils 5 Milliarden US-Dollar an Schaden verursacht – also doppelt so viel wie das BIP des Gazastreifens. Die landwirtschaftliche und industrielle Produktion wurde ebenso wie die Elektrizitätserzeugung um 50 Prozent verringert, der Bausektor nahm gar um 83 Prozent ab. Heute werden 90 Prozent des Wassers in Gaza als untrinkbar angesehen und fast 80 Prozent von Gazas Bevölkerung erhält eine Form von Sozialhilfe.

Aufgrund der Enteignung von palästinensischem Land und Ressourcen durch Israel ist es nicht gelungen, eine unabhängige und nachhaltige palästinensische Wirtschaft aufzubauen. Seit 1993 hat Israel mehr als 700 Kilomoter an Straßen durch das Westjordanland gebaut und übt nach wie vor die direkte Kontrolle über 56 Prozent von dessen Gebiet aus (Area C). Mehr als 545.000 israelische Siedler_innen leben inzwischen im Westjordanland und in Ost-Jerusalem. Israel hat außerdem den Bau von 62 Prozent seiner 708 Kilometer langen Sperranlage abgeschlossen. Nach ihrer Fertigstellung wird diese Apartheids-Mauer 498.000 Palästinenser_innen im Westjordanland einschließen und ihnen ökonomisch die Luft abdrücken.[8] Darüber hinaus hat Israel 27 permanente Checkpoints im Westjordanland errichtet, die die Palästinenser_innen in viele Bevölkerungsteile fragmentieren, deren wirtschaftliche Aussichten von der Gnade der israelischen Soldat_innen abhängen, die die Kontrollpunkte besetzen. Diese Bevölkerungsteile im Westjordanland sind nicht zuletzt wirtschaftlich von Ost-Jerusalem abgeschnitten, vor allem seit Beginn der zweiten Intifada im Jahr 2000.

Palästinensischer Wirtschaftswiderstand

Es ist unmöglich in der heutigen Situation über eine palästinensische Wirtschaft zu sprechen, denn sie ist fragmentiert, abhängig von Hilfsgütern und nicht nachhaltig. Eine solche Wirtschaft umfasst nicht die Gesamtheit des palästinensischen Volkes, da sie die palästinensischen Bürger_innen Israels sowie die außerhalb der Grünen Linie lebenden Flüchtlinge ausschließt. Sie umfasst weder die in Ost-Jerusalem arbeitenden Palästinenser_innen, noch integriert sie das Westjordanland und den Gazastreifen in einer eigenständigen Einheit. Die palästinensische Wirtschaft beschreibt vielmehr eine Reihe unzusammenhängender Bevölkerungsteile, vergleichbar mit Südafrikas Homelands in der Zeit der Apartheid. Diese Bevölkerungsteile sind von israelischen Checkpoints eingeschlossen, abhängig von israelischen Waren und der Willkür der wirtschaftlichen und politischen Entscheidungsträger Israels.

Anstatt von einer palästinensischen Wirtschaft, ist es vielmehr angebracht von einem palästinensischen Wirtschaftswiderstand zu sprechen, einem Widerstand der versucht, Israels koloniale Enteignung herauszufordern, indem er auf dem Land bleibt. Palästinenser_innen wehren sich ökonomisch gegen die israelische Herrschaft durch den Boykott israelischer Produkte und die Versuche, ihre eigenen Waren zu produzieren. Prognosen gehen davon aus, dass die „Boycott, Divestment and Sanctions“ Kampagne (BDS) Israel jährlich 1,4 Milliarden US$ kostet und dem palästinensischen Wirtschaftswachstum zuträglich ist. Die autarken Strategien der Menschen in Gaza beeindrucken in ihrer Kreativität, ihren Recyclingstrategien und ihrer Widerstandsfähigkeit. Ohne ein Ende der Besatzung und einen Zugang zur Außenwelt werden sie den Staat jedoch nicht versorgen können.

Die palästinensische Wirtschaft kann ebenso wie der palästinensische Staat nicht existieren, geschweige denn gedeihen, bevor die internationale Gemeinschaft Israel nach internationalem Recht verantwortlich hält, die Rechte der Palästinenser_innen schützt und Israel zwingt, seine Besatzung zu beenden.  

Leila Farsakh ist Professorin der Politikwissenschaft an der University of Massachusetts in Boston.

Aus dem Englischen von Jan Altaner und Laura Overmeyer.

Hinweis der Redaktion: Dieser Beitrag erscheint mit freundlicher Genehmigung des Palestine Square Blog; bestimmte Begriffe wie "Kolonialherrschaft" oder "Apartheid" wurden daher bewusst originalgetreu übersetzt, auch wenn sie international umstritten sind und nicht unbedingt die Haltung der Alsharq-Redaktion widerspiegeln.

Quellen:

[1] Unter Berücksichtigung der Inflation

[2] World Bank, Economic Monitoring Report to the Ad Hoc Liaison Committee, Washington D.C.: World Bank, 27. Mai 2015.

[3]  http://www.pcbs.gov.ps/Portals/_Rainbow/Documents/e-napcapitacon-1994-2014.htm

[4] PCBS, Labor Force Survey 2014, unter http://www.pcbs.gov.ps/Portals/_Rainbow/Documents/.

[5] MAS, Economic Monitor, Ramallah, West Bank.

[6] PCBS, Statistical Abstract of Palestine, 2014.

[7] Berechnet nach Global Humanitarian Assistance,  Assistance to the West Bank and Gaza Strip, unter http://www.globalhumanitarianassistance.org/countryprofile/palestineopt (Zugriff: Dezember 2015) und World Bank, Official Development Assistance Data, Daten für Westjordanland und Gaza für 2012, unter http://data.worldbank.org/indicator/DT.ODA.ODAT.PC.ZS/countries.

[8] Btselem, unter http://www.btselem.org/separation_barrier/statistics.

Artikel von Leila Farsakh
Übersetzt von Jan Altaner und Laura Overmeyer