Elmas Arus ist eine der lautesten Stimmen, die sich für die Gleichberechtigung von Rom*nja einsetzt – in der Türkei und darüber hinaus. Im Interview erklärt die Aktivistin, was die Corona-Krise für die Minderheit bedeutet.
Elmas Arus ist Rom*nja-Aktivistin, Regisseurin sowie Gründerin und Präsidentin des Vereins „Null Diskriminierung“ (Sıfır Ayrımcılık). 2014 wurde sie vom Europarat mit dem ersten Raoul-Wallenberg-Preis für humanitäres Engagement ausgezeichnet. Mit dem Film „Buçuk“ („Halb“) dokumentierte sie gemeinsam mit Haluk Arus 2015 die Lebenswirklichkeit der Rom*nja in 38 Städten der Türkei. Insgesamt leben laut Schätzungen zwischen zwei und fünf Millionen Rom*nja in der Türkei.
Elmas, am 8. April dieses Jahres wurde der Welt-Rom*nja-Tag zum 30. Mal gefeiert. Welche Bedeutung steckt dahinter?
Rom*nja sind seit über 700 Jahren Teil der Gesellschaften in Europa und Westasien. Obwohl sie eine reiche Kultur und Geschichte teilen, sind sie seit langem mit Armut und Ausgrenzung konfrontiert. Die Feier des 8. April als Welt-Rom*nja-Tag wurde mit dem Beginn des organisierten Kampfes für mehr Gleichberechtigung eingeführt. Das Datum geht auf den Ersten Welt-Rom*nja-Kongress am 8. April 1971 in London zurück. Gewidmet ist er den Hunderttausenden Rom*nja, die während des Zweiten Weltkrieges in den Lagern der Nazis ermordet wurden, und allen Rom*nja, die Diskriminierung erfahren.
Für Rom*nja, die mit Armut und Diskriminierung zu kämpfen haben, ist der 8. April das Symbol ihres Kampfes im Schatten des alten Schmerzes. Dieser Tag wird nicht nur gefeiert, um die Kultur der Rom*nja zu fördern, sondern auch um das Bewusstsein für Unterdrückung, Diskriminierung und Vorurteile zu schärfen. Es ist wichtig, gemeinsam gegen diese Dinge und für eine gleichberechtigte Staatsbürgerschaft einzutreten.
Mit konkretem Blick auf die Türkei: Ab 2010 betrieb die Regierung eine sogenannte Politik der „Roma-Öffnung” (Roman açılımı), die erstmals die Verbesserung der Lebenssituation der Rom*nja aufgreifen wollte und viel Unterstützung erfuhr. Was ist daraus geworden?
Das Engagement der Türkei ist auch mit Blick auf das Rom*nja-Rahmenabkommen der Europäischen Union, das im April 2011 angekündigt wurde, zu betrachten. In diesem Rahmen wurden die EU-Mitgliedstaaten sowie die Bewerberländer gebeten, Rom*nja-Strategiedokumente vorzubereiten. Die Türkei mit der höchsten Rom*nja-Bevölkerung in Europa ist hier besonders relevant. Es wurde ein Aktionsplan erstellt, dessen Maßnahmen für die zweite Phase sogar am 11. Dezember 2019 veröffentlicht wurden. Vorgegebenes Ziel ist, die Lebensbedingungen der Rom*nja-Bürger*innen aufzugreifen und den sozioökonomischen Status sowohl kurz- als auch langfristig zu verbessern, insbesondere im Rahmen der grundlegenden öffentlichen Dienstleistungen wie Bildung, Gesundheit, Wohnen und Beschäftigung.
Wie bewertest du diese Maßnahmen?
Die getroffenen Aussagen sind in vielerlei Hinsicht mangelhaft. Erstens erscheinen die geplanten Maßnahmen weit entfernt von der Lebenswirklichkeit der Rom*nja-Communities. Zum Beispiel werden Maßnahmen im Bereich Bildung beschrieben, die die Nutzung von außerschulischen Club-Aktivitäten steigern sollen. Die Sache ist jedoch, dass es das Kind ja grade nicht zum Besuch der Schule schafft, was den Club-Aktivitäten vorausgehen müsste. Oder es werden Maßnahmen erwähnt, die darauf abzielen, Familien den Wert von Bildung zu erklären. Rom*nja kennen den Wert von Bildung. Das Problem sind die wirtschaftlichen Schwierigkeiten beim Zugang zu Bildung, Diskriminierung und soziale Ausgrenzung im Bildungsumfeld sowie die Tatsache, dass die jungen gebildeten Rom*nja keine Arbeit finden können.
Ein weiteres Problem besteht darin, dass für all diese erklärten Ziele, Vorgaben und Maßnahmen kein Budget oder keine Personalressourcen festgelegt wurden. Wer wird diese Aktionen durchführen? Mit welchem Budget? An wen können wir uns wenden, wenn wir dieses Rechts beraubt werden? Das ist alles unbekannt.
Lassen sich trotzdem positive Veränderungen feststellen?
Wir erleben Veränderungen in der Gesellschaft, wenn sich die Rom*nja organisieren und ihre Sichtbarkeit zunimmt. Die derzeitige Situation ist jedoch so tiefgreifend, dass ohne eine ganzheitliche Politik nicht über eine dauerhafte Transformation gesprochen werden kann. Jetzt wird aber durch das Corona-Virus alles schwerer.
Inwiefern?
Die Mehrheit der Rom*nja hat all ihre Einkommensquellen verloren. Viele arbeiten im unsicheren, informellen Sektor beispielsweise bei Reinigungs- und Bauarbeiten, in der Gastronomie oder im Musikbereich. Für Rom*nja, die selbst unter normalen Bedingungen in Armut und mit Entbehrungen leben, sind Hygiene und Isolation – die beiden grundlegendsten Mittel zur Bekämpfung des Virus – unmöglich geworden.
In der Türkei gibt es derzeit eine Ausgangssperre für unter 20- und über 65-Jährige. Die Bevölkerung ist dazu angehalten, zu Hause zu bleiben. Was bedeutet das für marginalisierte Gruppen wie die Rom*nja?
Rom*nja leben in der Regel in der Peripherie der Städte und in den ärmsten Teilen der Regionen. Sie beziehen Ein- oder Zweizimmer-Wohnungen, in denen es ihnen an erforderlichem Strom und Wasser fehlt, weil sie ihre Rechnungen nicht bezahlen können. Einige Haushalte teilen sich das Badezimmer mit anderen Familien. Auch können sie sich nicht ausreichend gut ernähren, weil sie nicht genug Einkommen haben. Obwohl einige von ihnen Sozialhilfe erhalten, erfüllen sie mit diesen Hilfsmitteln nur sehr begrenzte Bedürfnisse. Vielmehr wird innerhalb der Communities Zusammenhalt gezeigt.
Den Rom*nja-Kindern fehlt es grundsätzlich an Mitteln wie Schuluniformen und Schreibutensilien, Zugang zum Internet oder einem Computer. Wir wissen nicht, ob ein Unterstützungsmechanismus bereitgestellt wird, um diesen Unterschied zu decken. Oder wird die Zahl der arbeitenden Kinder zunehmen? Wir werden sehen.
Jenseits der Politik, gibt es vonseiten der Gesellschaft Möglichkeiten, Rom*nja in Zeiten von COVID-19 zu unterstützen?
Es gibt eine Reihe von Solidaritätsnetzwerken mit zivilgesellschaftlichen Organisationen. Die Situation der Rom*nja muss jedoch dringend, systematisch und ganzheitlich verbessert werden. Die von uns geforderten Maßnahmen betreffen nicht nur die Bedürfnisse der Rom*nja, sondern auch den Schutz der öffentlichen Gesundheit, indem die Benachteiligung dieser Menschen und die Ausbreitungsrate von COVID-19 verringert werden.
Neben der historischen Rom*nja-Community gibt es auch viele Geflüchtete aus Syrien in der Türkei. Sie scheinen im toten Winkel von Politik und Medien zu stehen. Wie steht es um ihre Situation?
Das, was wir festhalten können ist, dass die aus Syrien geflohenen Rom*nja-Gruppen Dom und Abdal aus Syrien nicht in Geflüchtetenlagern bleiben; sie wollen dort nicht bleiben. Das hat mehrere Gründe: Zum einen werden sie aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, ihres Glaubens und ihres Erscheinungsbildes (Tätowierungen) von den Bewohner*innen der Lager und den Behörden voreingenommen betrachtet und diskriminiert. Mit den ethnischen, religiösen und politischen Gruppenbildungen in den Lagern wird diese Situation umso heikler. Das insbesondere für Bektaşi-Gruppen als Alevit*innen und wenn Dom als „Zigeuner“ bezeichnet werden. Des Weiteren sind ihre Wohn- und Bewegungsräume eingeschränkt.
Statt in den Lagern zu bleiben, bevorzugen sie es in den Stadtteilen oder in die Nähe der Nachbarschaften der anderen Dom und Abdal zu leben, wo sie mehr Sicherheit haben. Nur ein kleiner Teil von ihnen kann in gemieteten Häusern leben. Es ist nur dann möglich, wenn sich einige Familien zusammentun.
Im Allgemeinen führen Schwierigkeiten, wie fehlende Zahlungsfähigkeit der Mieten, mangelnde Beschäftigungsmöglichkeiten und Sicherheitsgründe dazu, dass die Geflüchtetengruppen Abdal und Dom häufig umziehen. Daher wird es schwierig, diese Gruppen zu registrieren. Das geschieht erst durch Familienmitglieder, die in der Türkei leben, oder zivilgesellschaftliche Gruppierungen. Dadurch werden Hilfeleistungen, wenn auch kleine, möglich.
Erhalten die geflüchteten Rom*nja bei diesen Hilfen besondere Berücksichtigung bzw. Schutz?
Es kommt regelmäßig vor, dass insbesondere geflüchtete Romanja und Kinder mit negativen Erlebnissen konfrontiert werden. Es findet ein „Othering“ in Form von religiöser und kultureller Diskriminierung statt. Die Tatsache, dass NGOs und selbst das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen, die im Bereich der Geflüchteten tätig sind, keine Kenntnis über diese Communities besitzen, ist der Hauptgrund, warum die Dom, Abdal sowie all ihre Probleme heute unsichtbar sind.
Seit Jahren engagiert sich dein Verein „Null Diskriminierung“ gegen diese Unsichtbarkeit und Diskriminierung. Was ist wichtig, um die Rom*nja-Communities zu stärken?
Obwohl die Rom*nja in der Türkei einen integralen Bestandteil der Gesellschaft darstellen, werden sie immer noch nicht als solche akzeptiert. Sie können ihre grundlegendsten Rechte nicht im selben Maß wie andere Bürger*innen ausüben. Die Stärkung der Rom*nja-Communities wird nur durch eine Beschleunigung des Kampfes gegen Armut und Diskriminierung möglich sein.
Politische Entscheidungsträger*innen spielen in dieser Hinsicht eine wichtige Rolle. Als Verein arbeiten wir sowohl mit der Zivilgesellschaft als auch mit politischen Entscheidungsträgern*innen zusammen und führen verschiedene Projekte und Sensibilisierungsmaßnahmen durch, um die Rom*nja-Communities zu stärken.
Das Interview wurde auf Türkisch geführt.