22.11.2021
Heilen im Schatten der Krise
Beirut schreit - eindrücklich erzählt auch die Straßenkunst in den libanesischen Städten vom Leid der Menschen im Land. Bild: Jara Nassar
Beirut schreit - eindrücklich erzählt auch die Straßenkunst in den libanesischen Städten vom Leid der Menschen im Land. Bild: Jara Nassar

Schwarzmarkt, Pleiten, Stromausfälle: Die Wirtschaft im Libanon ist miserabel. Was das für die Gesundheitsversorgung des Landes bedeutet, hat unsere Autorin ihre Tante – eine Oberschwester – gefragt.

Auf einer Autofahrt nach Beirut sitzt meine Tante Nassima neben mir am Steuer, lässt das Lenkrad kurz los und wirft die Hände in die Luft: „Ich habe über dreißig Jahre Erfahrung, zwei Master, und mein Gehalt liegt bei mittlerweile weniger als 100 Dollar pro Monat!“ Nassima ist Oberschwester in einem privaten, nicht-profitorientierten Krankenhaus im Libanongebirge. Sie liebt ihren Job. Aber wie viele andere Menschen im Libanon ist sie frustriert über die Situation im Land.

Die libanesische Lira hat in den letzten zwei Jahren 90 Prozent ihres Wertes verloren. Der Kern der tiefgreifenden Probleme ist die Inflation:  Die libanesische Zentralbank gab US-Dollar zu einem festgelegten Kurs aus, unabhängig von der tatsächlichen Kaufkraft der Lira, und subventionierte somit Importe aus dem Ausland. Die Schwarzmarktrate, also der Kurs, zu dem man im Land Lira eintauschen kann, schwankte in den letzten zwei Monaten zwischen dem elf- bis fünfzehnfachen der offiziellen Rate. Die meisten Lebensmittel, Medikamente und Gerätschaften werden importiert. Als die Zentralbank verkündete, keine weiteren Dollar auszugeben, vervielfachten sich so die Preise auf einen Schlag.

Wenn Inflation das Gesundheitssystem trifft

Die Folgen dieser Verteuerung sind fatal:„Wenn du privat versichert bist und ein Medikament brauchst, das zehn Dollar kostet, zahlt die Versicherung 15.000 Lira¹. Das Krankenhaus hat es für 200.000 Lira gekauft. Der:die Patient:in oder das Krankenhaus muss die Differenz begleichen“, erzählt Nassima. Die drastische Entwertung des Geldes und die chronisch späten Zahlungen durch offizielle Stellen wie das Gesundheitsministerium führen dazu, dass Krankenhäuser überall, wo es möglich ist, Geld sparen. Sie fahren ihre Aktivitäten zurück, sogar die größten und besten Krankenhäuser wie die der American University of Beirut. Ganze Einheiten werden geschlossen, die Bettenzahl stark verringert. Nicht lebensnotwendige Operationen werden auf unbestimmte Zeit verschoben, was langfristig zu schlimmen gesundheitlichen Folgen für die Betroffenen führen kann.

Nassima blickt aus dem Fenster über die Berge. „Nächste Woche haben wir eine OP am offenen Herzen. Ich weiß nicht, wo ich die notwendige Schutzkleidung herbekommen soll. Wie kann man ohne Handschuhe operieren und gut um Patienten sorgen?“

Mangelnde Stromversorgung

Und es gibt ein weiteres Problem: Die ständigen Stromausfälle im Land. Sie sind im Libanon kein neues Phänomen: Früher hat man sich darauf einstellen können, dass es die Leitung nur zu bestimmten Zeiten still stehen. Heute jedoch dehnen sich die Ausfälle auf bis zu 22 Stunden am Tag aus. Krankenhäuser sind aber auf durchgehende Stromversorgung angewiesen – für Medikamentenkühlung, Dialysegeräte, Inkubatoren für Frühchen, Chemotherapie und vieles mehr. Nassimas Krankenhaus hat drei Generatoren, allerdings fällt es auch Krankenhäusern immer schwerer, Benzinnachschub zu bekommen. Gelegentlich sind sie sogar gezwungen, das nötige Benzin zu hohen Preisen vom Schwarzmarkt zu kaufen.

Der Elektrizitätsmangel führt tragischerweise auch dazu, dass Patient:innen länger im Krankenhaus bleiben müssen. Nach einer Covid-Infektion können Patient:innen, die mit einem mobilen Sauerstoffgerät auskommen würden, nicht entlassen werden, da sie Zuhause keine zuverlässige Stromzufuhr haben, um das Gerät zu betreiben. Sie müssen somit weiterhin im Krankenhaus bleiben und die wenigen vorhandenen Betten belegen. Dieses Problem legt der Leiter des Rafik Hariri University Hospital Dr. Firas Abiad eindrucksvoll auf seiner Twitterseite dar, in der er regelmäßig von seiner Arbeit im Krankenhaus und mit verschiedenen ausländischen Behörden und Hilfsorganisationen und den Problemen berichtet.

Der lange Weg zur Arbeit und zum Lohn

Eine weitere Folge des Benzinmangels ist die erschwerte Anreise der Mitarbeiter:innen. „Gestern hat es die Mehrheit des Personals nicht ins Krankenhaus geschafft“, sagt Nassima. Ein öffentliches Nahverkehrssystem existiert im Libanon quasi nicht, die Bevölkerung ist auf eigene Autos oder Taxis angewiesen. Lange Schlangen bilden sich vor den Tankstellen, in der Hoffnung, etwas vom raren Benzin zu bekommen.

„Sobald die Tanknadel nicht mehr auf F [Full] steht, denk ich sofort, ich muss tanken! Es ist absurd, aber so denke ich inzwischen. Wer weiß, wann ich wieder Benzin kriege“, sagt Nassima: „Wir erhalten 8000 Lira pro Woche für die Transportkosten. Das reicht vielleicht für zwei Tage, die restlichen Fahrten müssen wir selber bezahlen.“ Und das, obwohl manche Krankenhäuser aufgehört haben, den vollen Lohn auszubezahlen. Mitarbeitende finden vielleicht 70 Prozent, 50 Prozent oder in manchen Fällen noch weniger Lohn auf ihrem Konto vor. Die Krankenhäuser versprechen stets, die ausgefallenen Zahlungen auszugleichen, wenn die finanzielle Situation besser ist. Aber ohne stabile Regierung und nachhaltige Finanzplanung ist es ungewiss, wann diese Zeiten eintreten sollen. Bis dahin müssen die Mitarbeitenden weiterhin Lebensmittel, Benzin, und andere laufenden Kosten des Alltags begleichen, von der Betreuung ihrer Kinder und der Unterstützung ihrer Familienmitgliedern ganz zu schweigen.

Brain Drain: Wieso viele Ärzt:innen und Pflegekräfte dem Libanon den Rücken kehren

Diese Bedingungen zehren extrem an den Kräften und finanziellen Reserven der Krankenhausmitarbeiter:innen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass viele Krankenpfleger:innen und Ärzt:innen dem Libanon den Rücken kehren, um im Ausland nach besseren Möglichkeiten zu suchen. Die Angaben schwanken, wie viel medizinisches Personal schon abgewandert ist, laut Nassima sind es knapp über 40 Prozent:„Es betrifft nicht nur die Zahlen, sondern auch die Qualität der Pflege. Den reinen Personalmangel können wir auffangen, wir arbeiten Doppelschichten, lernen schnell neues Personal an.“ Aber es gebe einen sehr hohen Verschleiß an Personal, da neue Mitarbeiter:innen nur notdürftig angelernt werden können.

Die Ärzt:innen, die zuerst gehen, sind großteils spezialisiert, oft haben sie selbst im Ausland studiert und bringen wertvolles Wissen zurück in den Libanon. Dadurch leidet das Gesundheitssystem gleich mehrfach: durch einen absoluten Mangel an Ärzt:innen, der von Kolleg:innen aufgefangen werden muss, die sich nicht im gleichen Maße um die immer größer werdende Anzahl an Patient:innen kümmern kann, und durch den Verlust spezialisierter Fachkräfte. „Die Krankenschwestern im Ausland haben es sich nicht ausgesucht zu gehen, sie wurden gezwungen zu gehen“, sagt Nassima. Sie verweist darauf, dass es teuer ist, im Ausland zu leben – man muss Visakosten begleichen, die Reise buchen, eine Wohnung mieten – deswegen gehen Leute erst, wenn ihre Löhne auf ein unhaltbares Maß sinken.

Arbeitskampf und Not

Der Orden der Krankenpfleger:innen, in etwa das Äquivalent einer Gewerkschaft, versucht mit kleinen Erfolgen mehr politische Macht zu bekommen. Sie kämpfen unter anderem dafür, dass 40 Prozent des Gehalts in Dollars ausbezahlt wird, um sie wenigstens etwas näher an das Vorkrisenniveau, falls ein solches im Libanon je existierte, zu heben. Doch nur eine handvoll Krankenhäuser kommt der Forderung nach.

Ein weiteres drastisches Problem ist der Mangel an Medikamenten und Schutzausrüstung. Krankenhäuser und Apotheken können viele Medikamente nicht mehr anbieten, sogar wenn Menschen bereit sind, hohe Preise dafür zu zahlen. In einem besonders tragischen Fall verstarb im August ein neunjähriges Mädchen an den Folgen eines Skorpionbisses – das heilende Medikament war im ganzen Land nicht auffindbar. Momentan fehle ihnen vor allem Anästhetika, sagt Nassima. Andere Berichte klagen den Mangel an weiteren Medikamenten, wie Antidepressiva an. Viele Apotheken befinden sich im Streik, weil sie kaum Nachschub bekommen.

Kommt ein:e Patient:in im Krankenhaus an und braucht ein bestimmtes Medikament, das nicht verfügbar ist, telefonieren die Pflegekräfte andere Krankenhäuser durch, bis das notwendige Medikament gefunden ist. Der:die Patient:in muss dann entweder auf eigene Kosten in das andere Krankenhaus reisen, das Medikament von Familienmitgliedern abholen lassen oder ein Taxi beauftragen. Das schafft zusätzlichen Stress und Kosten für alle Beteiligten. Diese schlechte Versorgung und die extreme Geldentwertung führen dazu, dass die Bevölkerung nur noch ins Krankenhaus geht, wenn es sich gar nicht mehr vermeiden lässt: „Leute können es sich nicht leisten, die Wurzel der Probleme behandeln zu lassen. Sie kommen in die Notaufnahme, verlangen Schmerzmittel und wollen dann wieder nach Hause“, sagt Nassima.

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Einige Familienmitglieder haben meiner Tante schon vorgeschlagen, sie soll doch auch ins Ausland gehen. Nassima glaubt aber an eine Zukunft, auch wenn im Moment ein Onkel einen Koffer voller Medikamente nach dem anderen auf Heimatbesuch aus Europa anschleppt. „Wenn [der Weg aus der Krise] beschlossen wird, mit einem strategischen Plan für Finanzen, wird alles wieder zur Ordnung zurückgehen, mit etwas Zeit.“ Nassima bleibt somit etwas, was mit Glück und gemeinsamer Anstrengung auch die libanesischen Berge versetzen kann – Hoffnung.

 

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1-Die offizielle Rate ist 1507 Libanesische Lira zu einem US-Dollar: https://lirarate.org/.

 

 

Jara Nassar ist deutsch-libanesische Schriftstellerin, Fotografin und Performerin. Sie schreibt auf Deutsch und Englisch Theatermonologe, Gedichte, Prosa und Kurzgeschichten. Sie ist Redaktionsmitglied bei Glitter - die Gala der Literaturmagazine.
Redigiert von Sophie Romy, Sophie von Essen, Henriette Raddatz