06.05.2023
grenz:gedanken – zwischen Identität, Solidarität und Bewegungsfreiheit
Stacheldraht an einer Grenze Foto: Caleb Sharpe/Unsplash
Stacheldraht an einer Grenze Foto: Caleb Sharpe/Unsplash

Grenzen sind vielfältig: Sie sind in unserem Kopf. Sie sind hochgerüstete Mauern. Sie sind unsichtbar. Sie sind Gegenstand und Gegner von Solidarität. In unserer fortlaufenden Artikelserie diskutieren wir ihre Bedeutungen und Auswirkungen.

Dieser Text ist Teil unserer Reihe „grenz:gedanken“. Unsere Autor:innen denken nach, über Grenzen, Machtverhältnisse und Möglichkeiten, Widerstand zu leisten.

Es war die Abgrenzung von den „Anderen“, die für Edward Said Ausgangspunkt seiner wegweisenden Kritik am Orientalismus wurde. Die Trennung zwischen dem „Wir“ und den „Anderen“, Außenstehenden, nicht zugehörigen, ist seitdem Gegenstand von Debatten, Aktivismus und kritischer Forschung, weit über den ursprünglichen Kontext der postkolonialen Theorie hinaus.

Doch vierzig Jahre nach der Veröffentlichung Saids „Orientalism“ ist die Abgrenzung von Westasien und Nordafrika (WANA) als das „Andere“ längst nicht aufgehoben oder dekonstruiert. Inmitten eines Aufstiegs der politisch extremen Rechten innerhalb vieler EU-Länder und der Aufrüstung des tödlichen Grenzregimes bleibt die Abschottung und Abgrenzung der EU Lebensrealität.

Neue Perspektiven in eine altbekannte Migrationsdebatte

In der Artikelserie „grenz:gedanken“ nähern wir uns den aktuellen Grenzen aus einer postkolonialen Perspektive, die für unseren Verein eine wichtige Rolle spielt. Diesen analytischen Rahmen auf Grenzen zu richten sehen wir dabei als einen relevanten Beitrag zur fortlaufenden Debatte um Grenzen und deren Überwindung. Von der Verhandlung der eigenen Identität und Solidarität entlang physischer und gedanklicher Grenzen bis zu Widerstand gegen die von Grenzen umgesetzte Ungleichheit richten wir die Aufmerksamkeit auf Grenzen an vielfältigen und nicht immer offensichtlichen Orten.

Nicht erst seit 2015 wurde viel zu Migration und Flucht geschrieben. Seitdem debattierten gefühlt schon alle (selbst-)erkorenen „Migrationsexpert:innen“ in unterschiedlichen Konstellationen in jeder deutschen Talkshow, vieles davon unnötig bis rassistisch und selten im Dialog mit Betroffenen. Warum also diese Artikelserie in einem Magazin, das zu Deutschland und WANA schreibt?

Von Tageszeitung bis Netflix sind beim Thema Migration häufig stereotype junge Männer aus WANA nicht weit entfernt. Werden Länder aus WANA genannt, dann haben viele schon Migrant:innen in deutschen „Problembezirken“ im Kopf. In der öffentlichen Debatte sind Migration und WANA scheinbar untrennbar verbunden. Ausgangspunkt für unsere Artikelserie war die Überzeugung, dass die Themen Migration und WANA komplexer und vielschichtiger sind. Wir glauben, dass eine postkoloniale Perspektive wichtige Anstöße und Kritiken zu den Debatten rund um Migration und dem aktuellen Grenzregime beiträgt.

Viele Perspektiven und eine gemeinsame Suche

Die einzelnen Texte sind dabei Protokolle von Grenzerfahrungen, Kritiken und Reflexionen über die eigene Verwicklungen in Grenzziehungen, aber auch Zeugnis von Widerstand gegen Grenzregime und die willkürliche Trennung entlang hochgerüsteter Grenzen. Zusammen ergibt grenz:gedanken ein fortlaufendes Format das kein abgeschlossener Blick ist, sondern vielmehr eine offene Suche nach politischen Praxen gegen die vielfältigen Grenzen sein möchte.

Als einen Markt der Solidarität kritisiert Dominik Winkler die Verhandlung von Solidarität und Bewegungsfreiheit zwischen mehrheitlich weißen Supporter:innen, illegalisierten Migrant:innen und der lokalen Bevölkerung Bosniens. Das Grenzgebiet wird damit zur Theaterbühne auf der die Gruppen ihre Rolle aus dem Drehbuch der Solidarität spielen.

Pauline Jäckels reflektiert über die Grenzen im Kopf. Solidarität ist dabei von den eigenen Bezugsrahmen geprägt und damit Teil der eigenen Mobilität und Erfahrungen. Solidarität ist oft eindimensional – muss es aber nicht bleiben.

In einem Fotoessay setzt Milad Amin Ukraine und Syrien in Bildern und mit seinen Worten zueinander in Beziehung und fragt, ob es ein geteiltes Schicksal gibt. Mit Fotos und Texten erschafft er einen Einblick in geteilte Erinnerungen und seine Reflektion der eigenen Verwicklung entlang ganz unterschiedlicher Grenzen.

Pauline Fischer berichtet von den europäischen Grenzen der Gewalt entlang der marokkanisch-spanischen Grenze. Hinter dieser Gewalt steht ein neokoloniales und rassistisches System, in dem Gewalt delegiert wird.

Grenzen brauchen kein Grenzgebiet – das zeigt Henriette Raddatz anhand eines Praxisberichtes aus der Aufnahme von Geflüchteten in Brandenburg. Während die Politik Solidarität mit Flüchtenden propagierte, bleibt die Realität für viele Schutzsuchende dennoch prekär und alles andere als gleichberechtigt.

In Tunesien richten sich die Proteste gegen das Vergessen gegen die anonyme Bestattung von Leichen – ohne jeglichen Versuch einer Identifizierung. Vanessa Barisch sprach mit Angehörigen und solidarischen Gruppen, die in der Küstenstadt Zarzis organisiert sind.

Den exemplarischen Fall eines marokkanischen Studenten beschreibt Yousra Larbi-Alami: Zakaria kam 2020 nach Griechenland, er nahm eine Auszeit vom Studium in Deutschland. Sein Visum lief in dieser Zeit ab, bei einer Polizeikontrolle wurde er festgenommen. Statt ihn fristgerecht ausreisen zu lassen, schoben sie ihn in die Türkei ab. Seine Odyssee dauerte zwei Jahre.

Seit Beginn des Jahres 2023 werden wieder mehr Menschen aus Algerien in den Niger abgeschoben. Sie werden mitten in der Wüste ausgesetzt und müssen sich dann irgendwie zu Fuß ins nächste Dorf durchschlagen. Die, die ankommen sind meist dehydriert, müde und traumatisiert. Das Dorf Assamaka, aber auch die nächsten größeren Orte wie die Stadt Agadez, sind überfüllt. Die NGOs vor Ort sind überfordert, sagt Dr. Lancinet Toupou von Médecins du Monde Niger im Interview immer wieder. 

Rassismus, Diskriminierung und wirtschaftliche Prekarität prägen seit Jahren das Dasein von Syrer:innen im Libanon. Die jüngsten Fälle unrechtmäßiger Deportationen über die Grenze nach Syrien seit April 2023 verleihen ihren sowieso schwierigen Verhältnissen nunmehr einen tödlichen Charakter. Davon berichtet Elena Athina Mieslinger in ihrem Artikel zu Syrer:innen im Kreuzfeuer.

Nach den Beschlüssen der europäischen Innenminister:innen zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems steht das Recht auf Asyl auf dem Spiel: Wer in Europa Schutz sucht, muss in Zukunft als Fachkraft kommen. Oder massive Gewalt und Haft an den Außengrenzen in Kauf nehmen. Was als historischer Kompromiss gefeiert wird, hat weder politische Weitsicht, noch Empathie für Betroffene. Schreibt Clara Taxis in ihrem Artikel EU-Asylreform: Was nicht sicher ist wird sicher genannt.

Tunesien schiebt Menschen in die Wüste ab, es gibt monatelang rassistische Übergriffe auf Migrant:innen aus Zentral- und Westafrika. Auch in Sfax harren nun obdachlos gewordene Migrant:innen an einem Kreisverkehr aus und suchen nach Auswegen. Gleichzeitig besuchen europäische Politiker:innen das Land und erzielen neue Abkommen: Viel Geld für mehr Grenzschutz. Vanessa Barisch war vor Ort. 

 

 

 

Dominik ist politischer Geograph und setzt sich mit der Verhandlung von Identitäten in Räumen und an Grenzen auseinander. Aktuell arbeitet er in der politischen Kommunikation in Berlin.
Redigiert von Clara Taxis