02.11.2017
Gedanken vom Rand des Gaza-Streifens: „Das Leben ist hier und dort unmöglich“
Ein Bild von Roni Keidar, das während ihrer Zeit im Sinai Ende der 1960er entstanden ist.
Ein Bild von Roni Keidar, das während ihrer Zeit im Sinai Ende der 1960er entstanden ist.

Roni Keidar lebt seit mehr als sechzig Jahren in Israel, nach dem Krieg von 1967 auch eine Zeitlang im Sinai. Immer neue Perioden der Hoffnung auf Frieden wechselten sich mit immer wiederkehrenden Kriegen ab. Noch heute ist sie überzeugt, dass ein Zusammenleben von Israelis und Palästinensern möglich ist.

Dieser Text ist Teil einer Serie zum Krieg von 1967. Alle Beiträge der Serie findet Ihr hier

Ich, Roni Keidar, kam 1951 aus England nach Israel. Seit 52 Jahren bin ich mit Ovadia Keidar verheiratet, der 1957 aus Ägypten kam. War das nicht, wofür Israel stand – Juden, die aus aller Welt in ein Heimatland kommen? Heute bemerke und weiß ich, dass nicht nur ich und mein Volk ein Heimatland brauchen, wir, die an keinem anderen Ort gewollt sind, sondern auch die Palästinenser. Auch sie sind nirgendwo sonst als Gleiche akzeptiert. Auch wenn wir glauben mögen, dass sie überall in der arabischen Welt mit offenen Armen empfangen werden. Das Problem ist, dass Geschichte und Religion uns beide an dieses Land gebunden haben, für das wir Jahrhunderte – wenn nicht Jahrtausende – gekämpft haben. Ist es nicht höchste Zeit, dass wir zu der Einsicht kommen, dass dieses Stück Land Platz für uns alle bietet? Egal wie klein es auch sein mag.

Neue Aufgaben, neue Nachbarn

Im Mai 1967 wirkten sechs Tage wie eine Ewigkeit. Danach kam die Euphorie: Wir hatten den Krieg gewonnen. An allen Seiten waren die Grenzen ausgeweitet – die Bedrohung war vorüber. Aber war sie es?

Ein Jahr später wurde mein Mann gefragt, in den Gaza-Streifen und den nördlichen Sinai zu gehen, um dort moderne landwirtschaftliche Methoden einzuführen. Er sah das Potential des Gebietes und entschloss sich, anderen dort nicht nur zu sagen, was sie anbauen sollten. Er wollte es auch selbst tun. Für zehn wundervolle Jahre lebten wir dort. Erfolgreiche Landwirtschaft, eine gute Beziehung zu den benachbarten Dörfern und zu den Palästinensern in Rafah und Gaza. Sie, genauso wie wir, hatten es nie besser als dann.

1979 entschied sich Anwar el-Sadat, damaliger Präsident von Ägypten, einen Friedensprozess zu beginnen. Er kam nach Israel, sprach vor der Knesset und begann mit den Worten: „Nie mehr Krieg, nie mehr Blutvergießen.“ Eine Aussage, die man unmöglich ablehnen konnte. Auch wenn dies bedeutete, unsere Häuser zu verlassen, unsere Felder aufzugeben, all die Schönheit zu zerstören, die wir über die Jahre aufgebaut hatten. Präsident Sadat forderte all das Land zurück, das 1967 erobert worden war, mit Ausnahme des Gaza-Streifens. Der kleine Streifen Land an Israels Mittelmeerküste, circa 25 Meilen lang und sechs Meilen breit, wurde den Palästinensern überlassen, die bis 1967 unter ägyptischer Herrschaft gelebt hatten

Neubeginn für den Frieden

Als Gemeinschaft zogen wir an einen Ort dicht an der Grenze zum Gaza-Streifen. Um die landwirtschaftlichen Vorteile wissend, so nah wie möglich an unserem alten Dorf. Aber nicht mehr auf verhandelbaren Territorien – exakt innerhalb der international anerkannten Grenzen des Staates Israel. Ein Neubeginn für 66 Familien. Ein Preis, von dem wir glaubten, ihn für den Frieden bezahlt zu haben. Ein erster Schritt zu etwas viel Größerem. Nicht bloß Frieden mit Ägypten, sondern nach und nach mit anderen Staaten um uns herum. So dachten wir.

Im Jahr 1987 versuchten Israels Außenminister Shimon Peres und der jordanische König Hussein heimlich ein Friedensabkommen zu schließen, in welchem Israel das Westjordanland an Jordanien überzeichnen würde. Die beiden unterschrieben ein Abkommen, das die Rahmenbedingungen für eine Friedenskonferenz des Nahen Ostens darlegte.

Doch die ablehnende Haltung des israelischen Premierministers Yitzhak Shamir sorgte dafür, dass das Abkommen nie umgesetzt wurde. Im darauffolgenden Jahr verzichtete Jordanien auf seine Forderung nach dem Westjordanland und sprach sich für ein Friedensabkommen zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) aus.

1994 wurde der Frieden mit Jordanien in Washington unterzeichnet. Wieder wurde 1967 von Israel besetztes Land zurückgegeben – mit Ausnahme des Westjordanlandes, welches den Palästinensern überlassen wurde. Eine neue Nation wurde im Gaza-Streifen und dem Westjordanland geboren – ein „Staat“, der als solcher in den meisten Teilen der Welt nicht anerkannt wurde.

„Mitte der 1990er begannen die Veränderungen“

In den ersten Jahren nach unserem Umzug verwandten wir all unsere Energie darauf, die Zukunft zu gestalten. Viele unserer Nachbarn aus Gaza arbeiteten mit uns auf den Feldern und in den Gewächshäusern. Wieder eine normale nachbarschaftliche Beziehung. Doch Mitte der 1990er begannen die Veränderungen: Selbstmordattentäter und Transporter aus Gaza explodierten im ganzen Land. Nach jedem dieser Vorfälle wurde die Grenze geschlossen, niemand durfte rein oder raus.

Es war in diesen Zeiten, dass ich Angst bekam, so nah zu wohnen. Ich wusste, da waren Menschen ohne Arbeit, ohne Möglichkeit, ihre Familien zu ernähren – mit nichts Besserem zu tun, als den nächsten Sabotageakt zu planen. Und natürlich wurden die Dinge schlimmer. Raketen und Granaten flogen fast täglich – teils mehrfach am Tag – über die Grenze. Manchmal eine Pause. Aber nie wussten wir, wann der nächste Bombenalarm losgehen würde und wir 15 Sekunden Zeit hätten, um in einen sicheren Raum zu rennen.

2005 zog sich Israel aus dem Gaza-Streifen zurück. Premierminister Ariel Sharon sagte, der Rückzug solle die Sicherheit von israelischen Bürgern verbessern, die israelische Armee (IDF) entlasten und die Spannungen zwischen Israelis und Palästinensern reduzieren. Die Palästinenser im Gaza-Streifen bekamen, was sie wollten. Sie wurden sich selbst überlassen, um sich unabhängig eine Zukunft für sich selbst zu schaffen.

Aber die Gewalt hörte nicht auf. Sie wurde stärker. Später wurde die Hamas zur Regierung Gazas gewählt und übernahm 2007 die vollständige Kontrolle. Die Gewalt nahm weiter zu – explosivere Munition mit längeren Reichweiten, Tunnel... Seither zehn Jahre des Schreckens, der Furcht. Und nicht zu vergessen die drei Kriege, die wir erlebt haben. Gefallene Freunde, andere verletzt. Schäden an unseren Wohn- und Gewächshäusern. Die Menschen in Gaza zerrissen zwischen Hamas im Inneren und Israel auf der Außenseite. Das Leben, das jeden Tag unerträglicher wird.

Die gleiche Gewalt auf beiden Seiten der Grenze. Die Furcht und der Terror, erlebt von unschuldigen Männern, Frauen und Kindern. Ja, ich sage „die gleiche Gewalt“, weil ich Schmerz und Leiden nicht in Zahlen fasse. Das Leben ist hier und dort unmöglich. Ob man aufgrund der nächsten Rakete ständig wachsam sein muss, oder Angst hat auf der Straße zu sein, da jemand aus dem Untergrund auftauchen könnte. Ob es das Leben unter inhumanen Zuständen ist – das Fehlen von sauberem Wasser, nur zwei bis drei Stunden Elektrizität am Tag, fehlende medizinische Versorgung und Schulbildung. Mit all dem, der Furcht vor dem nächsten Krieg, „der nächsten Runde“ wie wir es nennen – können Menschen da ein normales Leben führen?

„Ich habe die Hoffnung nicht verloren“

Fünfzig Jahre nach dem Sechs-Tage-Krieg, nach fünfzig Jahren der Besatzung und zehn Jahre nach der Abriegelung Gazas beschuldigen wir uns immer noch gegenseitig. Wir haben immer noch Entschuldigungen – und ich meine Israelis und Palästinenser gleichermaßen – warum nicht wir die Bösen in dieser Geschichte des Nahen Ostens sind. Wann werden unsere Regierungen – ich beschuldige die beider Seiten – realisieren, dass das Leben auf der einen Seite dem auf der anderen Seite gleicht? Wann werden unsere Regierungen realisieren, dass sie nur theoretisch den anderen bestrafen, in Wirklichkeit aber alle Menschen? Gute Menschen, die nichts Schlimmes getan haben und einfach nur in Freiheit, Würde, Sicherheit und gegenseitigem Respekt leben wollen?

Ich habe die Hoffnung nicht verloren. Ich glaube, mit ein bisschen Bescheidenheit, ein wenig Verständnis dafür, wo ein jeder von uns herkommt, ein wenig Vergebung und Kompromissbereitschaft können wir einen „Neuen Nahen Osten“ haben. Reich an Geschichte, Archäologie, Kultur und Bildung. Den Wohlstand der Menschen vermehren und die Wirtschaft stärken – ein würdiges Leben haben. Ein Leben, das wir nicht verlieren wollen.

 

Ebenfalls in dieser Serie erschienen:

Alsharq-Serie „1967: 50 Jahre danach.“ Eine Art Vorwort.

Die Vorgeschichte: Wie es 1967 zum Krieg zwischen Israel und seinen Nachbarn kam

Die Kampfhandlungen: Wie Israel 1967 seine Nachbarn überrumpelte

Der Kriegsbeginn 1967 in der Nahost-Presse: Euphorie überall

Fortsetzung der Presseschau: Stell Dir vor, es ist Kriegsende und kaum einer schreibt es

Die Folgen des Juni-Kriegs 1967,in Israel

1967: Wendepunkt für die arabische Linke – am Beispiel von Georges Tarabischi

Die Folgen von 1967 in Ägypten: Nach dem Krieg ist vor dem Krieg

Nasser und der Krieg 1967: Zwischen politischem Kalkül und Improvisation

Wenn über Erinnerungen Gras wächst – palästinensische Ruinen im Ayalon Canada Park

Israel und die Golan-Drusen: 50 Jahre Provisorium

1967 – Als der Zionismus in die eigene Falle ging

Folgen von 1967 in Jordanien: Eine palästinensische Identität entsteht

Vom Messianismus zur Mittelklasse: Israelische Siedlungen im Westjordanland

Ein deutscher Sieg? Verdächtiger Enthusiasmus im Krieg von 1967

Die neuen Pioniere: Siedler im Westjordanland als Erben des Arbeiterzionismus 

Über 50 Jahre Mauern im Kopf: Der intra-konfessionelle Streit um die Klagemauer

Artikel von Roni Keidar
Übersetzt von Jan Holger Hennis