01.11.2018
„Fremde oder Freunde?“ – Eine Anleitung zum Begegnen
Jafaar Abdulkarim bei seiner Tätigkeit als Reporter für Shababtalk, hier in Erbil, Bildquelle https://flic.kr/p/QQMSiE, Creative Commons Lizenz https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/
Jafaar Abdulkarim bei seiner Tätigkeit als Reporter für Shababtalk, hier in Erbil, Bildquelle https://flic.kr/p/QQMSiE, Creative Commons Lizenz https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/

 Jaafar Abdulkarim schreibt in einfacher Sprache über seine Begegnungen als Reporter und Moderator von Shababtalk. Mit „‚Fremde oder Freunde?‘ Was die junge arabische Community denkt, fühlt und bewegt“ gelingt ein Buch, das Potenzial hat, Leser*innen aller politischer Spektren abzuholen und zu einem Teil des Diskurses um die Diversität unserer Gesellschaft zu machen. Eine Rezension von Brandie Podlech.

Dies ist ein Beitrag unserer Alsharq-Reihe Re:zension. Seit Mai stellen wir regelmäßig ein neu erschienenes Buch vor, das wir für besprechenswert halten. Wenn Ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

Jaafar Abdulkarim ist preisgekrönter Moderator, Reporter und Redakteur von Shababtalk, einer preisgekrönten arabischsprachigen Talkshow für junge Leute. Shababtalk versucht, die Perspektivenvielfalt arabischer Gesellschaften abzubilden – ein Bild, das den meisten Menschen in Deutschland vorenthalten bleibt. Dies will Abdulkarim mit „Fremde oder Freunde“ ändern. Anstatt auf allgemeine Aussagen setzt er in den thematisch gegliederten Kapiteln auf Begegnungen und Portraits seiner Gesprächspartner*innen. Nicht nur ihre Geschichten macht er so erfahrbar, sondern er schildert auch seine eigenen Gefühle und Gedanken. Jaafar Abdulkarim gelingt es dadurch, die Leser*innen eindrucksvoll an seinen Begegnungen teilnehmen zu lassen.

Frauenrechte

Das Kapitel beginnt mit einem Überblick der strukturellen Diskriminierung von Frauen in Recht und Religion. Kernthema ist jedoch „die Befreiung“. Es kommen eine Künstlerin zu Wort, eine Kampfsport-Trainerin und eine Fußballtrainerin – Frauen, die ihre „Sprache“ für Befreiung und Empowerment gefunden haben. Für viele Gesprächspartnerinnen Abdulkarims geht Befreiung jedoch mit großen Opfern einher. So fühlte sich die minderjährig verheiratete Munira aus Bagdad erstmals frei, nachdem ihr Ehemann starb. Suad aus Saudi-Arabien hingegen war gezwungen, mit ihrer Familie zu brechen und ihre Kinder zurückzulassen, als sie vor dem bevormundenden System nach Deutschland floh.

Zu Themen wie Kinderehe, Genitalverstümmelung, Polygynie (ein Mann hat mehrere Ehefrauen), Homo- und Transsexualität lässt der Autor besonders auch Männer sprechen: einen syrischen Familienvater, der seine 15-jährige Tochter verheiratet hat, aber auch einen sudanesischen Vater, der sich gegen den gesellschaftlichen Druck stellt, seine Töchter genitalverstümmeln zu lassen.

Flucht

Jaafar Abdulkarim öffnet das Kapitel mit Eindrücken der Perspektivlosigkeit junger Tunesier und Begegnungen mit einem Schlepper im Küstenort Bizerta. Er ergründet, wieso sich die Menschen nicht scheuen, ihr Leben oder das Leben anderer auf der Überfahrt nach Europa zu riskieren. Auch Kritik an der Naivität der jungen Männer schwingt mit, die sich beispielsweise nicht richtig über europäische Arbeitsmärkte informieren.

Abdulkarim beschreibt Begegnungen mit Geflüchteten, die mittels der Rückkehrhilfe in ihre Heimat zurückzogen: mit einem palästinensischen Familienvater, der nun wieder im Libanon in einem Flüchtlingslager wohnt und dem irakischen Kurden Yousif, der nach seiner Rückkehr ein Unternehmen eröffnete. Im Gespräch mit dem 13-jährigen Syrer Diaa, der im Libanon arbeiten muss, anstatt zur Schule zu gehen, wird allerdings deutlich, dass Rückkehr - selbst in eine weitgehend konfliktfreie Region - keinesfalls für alle die bessere Option ist.

Ankommen in Deutschland

Wie kommen Menschen in Deutschland an? Vier syrische Geflüchtete, die bereits ein Jahr in Deutschland leben, werden vorgestellt: eine Studentin, ein Filmemacher, eine Autorin und ein Fotograf. Mit Kreativen und Akademikern hat sich der Autor Menschen als Beispiele ausgesucht, die relativ gute Voraussetzungen mitbringen „anzukommen“. Die sozialen Unterschiede werden jedoch verdeutlicht, als er eine Arbeiterfamilie mit sieben Kindern und einen unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten von bürokratischen Prozessen der Familienzusammenführung bis zum Einleben in der neuen Heimat begleitet.

Die Menschen vereinen ähnliche Herausforderungen: die Sprache lernen, die Wohnsituation, die Suche nach einem Arbeits- oder Ausbildungsplatz und noch dazu das Gefühl, nicht dazu zu gehören: „Wir sind nun mal Flüchtlinge, und die Leute geben einem das Gefühl, dass man kein gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft ist.“

Angekommen - Tradition vs. Integration?

In Deutschland lebende arabische Männer feuern auf Facebook einen Syrer an, der Anfang 2018 seine Exfrau ermordet und ein Video dazu online gestellt hat. Abdulkarims Gesprächspartner in der entsprechenden Shababtalk-Sendung schildern, wie Migration Hierarchien innerhalb von Familien verändert: Einerseits gewinnen Frauen an Freiheit, andererseits erhöht sich der psychologische Druck auf beide Ehepartner. Denn die neu angekommenen Familien müssen stets zwischen Tradition und Integration navigieren – ein Prozess, der leidvoll sein kann.

Bei einem Spaziergang auf der Sonnenallee, der „arabischen Straße“ Berlins, spricht der Autor mit „den Alten“ und den Neuankömmlingen der arabischen Community. Um die Sonnenallee hat sich eine klassische Parallelgesellschaft mit hoher Kriminalitätsstatistik gebildet und hier einen Job zu finden erfordert keine Deutschkenntnisse. Die Diagnose einer arabischstämmige Sozialarbeiterin aus Neukölln fasst die Eindrücke zusammen: „Von der Mehrheitsgesellschaft wird den Jungen [Menschen] suggeriert, dass sie nur zu Deutschland gehören, wenn sie nicht muslimisch seien […].“ Umso wichtiger ist es besonders den Neuankömmlingen, ihre Identität zu wahren und Religion, Tradition und Kultur beizubehalten.

„Gehört der Islam zu Deutschland?“

Das letzte Kapitel arbeitet eine Shababtalk-Sendung in Berlin zur Frage „Gehört der Islam zu Deutschland?“ auf. Der Moderator leitet Diskussionen zu den Themen Radikalisierung in Moscheen und der Problematik, einen einheitlichen Islamverband aufzubauen. Letztlich wird auch der Hidschab thematisiert. Abdulkarims Fazit zur Kopftuchdebatte: Die Entscheidung, Kopftuch zu tragen soll weder Familien noch Politikern, sondern der Frau allein obliegen. Er plädiert dafür, das Kopftuch nicht als Maßstab für Integration zu betrachten, sondern vor dem Hintergrund der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau sowie der Religionsfreiheit – beides ist nicht verhandelbar.

Beim Terrorismus handelt es sich jedoch eindeutig um eine Frage der Integration, wie das vorletzte Kapitel aufzeigen soll. Der Autor beschreibt seine Beobachtungen im belgischen Stadtteil Molenbeek, das mit dem Bataclan Attentat 2015 in Paris in Verbindung steht und veranschaulicht, dass Parallelgesellschaften ein Nährboden für Radikalisierung sind. Abdulkarim befragt auch die Mitbewohner im Asylbewerberheim des IS-Anhängers, der 2017 in Hamburg eine Messerattacke verübte. Die Warnungen der Mitbewohner wurden nicht ernstgenommen, Behörden und Geflüchtete verstanden einander nicht aufgrund der Sprachbarriere, es fehlte also eine Vertrauensgrundlage. Es wird betont, „falls wir integrierte Mitbürger haben wollen, müssen wir ihre Sorgen ernstnehmen“, sonst entstünden mehr Parallelwelten.

Fazit

„Es ist egal ob es Menschen gibt, die „Ausländer raus“ sagen; sobald man bewusst und aktiv an der Gesellschaft teilnimmt, wird man ein Teil von ihr.“ So rekapituliert Jaafar Abdulkarim optimistisch seinen persönlichen Prozess des Ankommens in Deutschland. Das Buch ist auch ein Appell an die arabische Community selbst, nicht nur an die deutsche Gesellschaft: „Es geht darum, sich selber zu integrieren und zum Teil Deutschlands zu machen und nicht darauf zu warten, dass andere das erledigen.“ Für den Autor liegt die Verantwortung, die gesellschaftliche Teilhabe migrantischer Communities zu fördern, offenbar eher beim Individuum als bei der Politik und der Gesellschaft. Auch wenn er und seine Gesprächspartner*innen stellenweise die lähmenden bürokratischen Prozesse der Migrationspolitik ansprechen, vermeidet es Abdulkarim, sich politisch zu positionieren und kritische Perspektiven auf deutsche und europäische Integrations- und Migrationspolitik zu zeigen. Stattdessen betont er durchgehend sein Bekenntnis zum Grundgesetz.

Die „Neutralität“ ist problematisch, aber gewollt: Jaafar Abdulkarim sieht sich wie in seiner Sendung Shababtalk auch als Autor in der Vermittlerrolle. Nur eben zwischen den unterschiedlichen Standpunkten, die Menschen in Deutschland gegenüber der arabischen Community einnehmen. Auch hier gilt für ihn: Es ist „[…] unwichtig, ob die Leute für oder gegen eine These, einen Streitpunkt oder eine Lebensform sind – Hauptsache, sie diskutieren!“ Jaafar Abdulkarim gelingt es, seine Begegnungen sachlich zu schildern und zugleich seine eigene Perspektive zu reflektieren. Damit schafft er eine Anleitung zum Begegnen.

 

Brandie hat Arabistik und Islamwissenschaft sowie Politikwissenschaft und Soziologie in München studiert und ihren Master in Migration & Development Studies an der SOAS (London) abgeschlossen. Nach mehreren Auslandsaufenthalten im Libanon arbeitet sie derzeit im Sudan in der Entwicklungszusammenarbeit. Brandie ist seit Sommer 2018 im Verein...
Redigiert von Adrian Paukstat, Clara Taxis