23.09.2015
Eskalation im Südosten der Türkei: Gefechte fordern Todesopfer
Cizre nahe der türkisch-syrischen Grenze. Photo: Rehman Abubakr (CC 4.0).
Cizre nahe der türkisch-syrischen Grenze. Photo: Rehman Abubakr (CC 4.0).

Nachdem in den vergangenen Tagen mindestens 30 Menschen bei gewalttätigen Auseinandersetzungen starben, darunter Zivilisten und Kinder, wurde rund um die Stadt Cizre im Südosten der Türkei eine Ausgangssperre verhängt. Die kurdische Partei HDP warnt vor einem Bürgerkrieg: die Situation an der syrisch-irakischen Grenze ist angespannt. Von Uta Freyer aus Mardin.

Die Kämpfe zwischen der türkischen Armee und der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) verschärfen sich. Die PKK und die türkische Regierung werfen sich gegenseitig vor, die bis Ende Juli geltende Waffenruhe gebrochen zu haben. Ahmet Davutoglu, türkischer Regierungschef, kündigte vor wenigen Tagen an, dass die PKK, die von der Regierung als „Terrororganisation“ bezeichnet werde, nun „ausgelöscht“ werde. Auch Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan betonte öffentlich, der Kampf werde nun mit noch größerer Entschlossenheit geführt.

Die türkische Armee startete Ende Juli einen groß angelegten Einsatz gegen die PKK in der Region. Dabei fliegt das Militär selbst Luftangriffe auf Stellungen der Arbeiterpartei im Nordirak und sendet seit kurzem auch Bodentruppen. So stürmte die Armee vergangene Woche Cizre, eine Stadt an der irakisch-syrischen Grenze mit 120.000 Einwohnern, die als Hochburg der PKK gilt. Die Ausgangssperre dauerte acht Tage an, Bewohner hatten weder Strom noch Wasser und kaum Telefonverbindungen. Über die Anzahl der Todesopfer gibt es unterschiedliche Aussagen. Die türkische Regierung erklärte, mehr als 30 PKK-Kämpfer und ein Zivilist seien getötet worden. Nach Angaben der kurdisch demokratischen Partei (HDP) wurden dahingegen mindestens 21 Zivilisten getötet, darunter auch Kinder.

Als Reaktion auf die Ausgangssperre hatten sich kurdische Parlamentarier und Kabinettsmitglieder auf den Weg nach Cizre gemacht, um auf die Situation aufmerksam zu machen. Unter ihnen befanden sich der HDP-Chef Selhattin Demirtas, EU-Minister Ali Haydar Konca und Entwicklungsminister Müslüm Dogan. Sie befürchteten den Tod weiterer Zivilisten, warnten vor einer beginnenden humanitären Krise und beklagten das Schweigen der Medien. Auf ihrem Weg wurden die Abgeordneten allerdings von türkischen Sicherheitskräften gestoppt. Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International zeigte sich äußerst besorgt über die fehlende Grundversorgung der Bevölkerung in Cizre.

Der Gouverneur von Sirnak dagegen erklärte nach acht Tagen öffentlich, dass der militärische Einsatz in Cizre erfolgreich beendet sei. Die Ausgangssperre wurde erst aufgehoben, wenige Tage später allerdings erneut ausgesprochen und anschließend wieder für beendet erklärt. Wie die Strategie des Militärs in Cizre weiter aussehen wird, bleibt daher derzeit offen.

Hintergrund: Politische Spannungen in der Türkei

Der Konflikt zwischen kurdischen Rebellen und türkischen Sicherheitskräften hat sich verschärft, seitdem Ende Juli eine Waffenruhe scheiterte. Entlang der syrischen und irakischen Grenze gab es seitdem immer mehr Gefechte, die PKK tötete dutzende türkische Soldaten und Polizisten. Auch in Istanbul und anderen türkischen Städten gab es gewaltsame Zwischenfälle und Anschläge. So stürmten 150 Anhänger der türkischen Regierungspartei AKP vergangene Woche die Zentrale der Zeitung Hürriyet in Istanbul, woraufhin die PKK ihrerseits wiederrum dutzende Anschläge auf türkische Sicherheitskräfte in verschiedenen türkischen Städten verübte.

Hintergrund der jüngsten Gewalteskalation sind politische Spannungen in der Türkei. Die regierende islamisch-konservative AKP verlor bei den vergangenen Parlamentswahlen im Juni die absolute Mehrheit, während die kurdische HDP erstmals die Zehn-Prozent-Hürde überwand. Der Verlust der absoluten Mehrheit war ein schwerer Rückschlag für Erdogan. Nachdem Gespräche zur Bildung einer Koalitionsregierung scheiterten, sollen nun am 1. November Neuwahlen stattfinden; die HDP gehört indes der Koalition an, die die Türkei bis zur Neuwahl im November führt.

Auch ein Selbstmordattentat im Juli in der türkischen Grenzstadt Suruc hat die Spannungen weiter angeheizt. Mindestens 31, zumeist junge Aktivisten einer sozialistischen pro-kurdischen Jugendorganisation kamen dabei ums Leben. Sie hatten sich versammelt, um Wiederaufbaupläne für die benachbarte syrische Grenzstadt Kobane zu diskutieren. Es deutet alles darauf hin, dass die Terrororganisation „Islamischer Staat“ für den Anschlag verantwortlich ist; dies wäre der erste Anschlag von IS in der Türkei.

Obwohl Erdogan den Anschlag öffentlich scharf verurteilte, gingen im Anschluss tausende Demonstranten in Istanbul auf die Straße und warfen dem Präsidenten vor, nicht entschlossen genug gegen den IS vorzugehen. Schon länger demonstrieren türkische Kurden massenhaft gegen einen aus ihrer Sicht mangelnden Schutz für Kurden in der Türkei. Rojin, eine Kurdin aus Istasyon, einem Dorf an der Grenze zu Syrien, fasst die Spannungen demnach so zusammen: „Ich glaube nicht an Erdogan. Er benutzt den Kampf gegen IS als Vorwand – er würde alles dafür tun, uns Kurden auszurotten.“

 

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