24.05.2018
Eindrücke von den Wahlen im Libanon: Chance verpasst

Der Libanon hat gewählt, zum ersten Mal seit neun Jahren. Wer auf die Listen der Zivilgesellschaft gesetzt hatte, erlebte eine große Enttäuschung – die Zusammensetzung des Parlaments ist weitgehend ähnlich geblieben. Unklar ist aber noch, ob dabei auch alles mit rechten Dingen zuging. Aus Beirut berichtet Bodo Straub.

Abbas gähnt. Seit bald 20 Stunden ist er jetzt auf den Beinen. Um 6 Uhr ist er an diesem Sonntagmorgen aufgestanden. Seitdem hat er Flyer verteilt, mit Leuten geredet und versucht, sie davon zu überzeugen, heute für die Kandidatinnen und Kandidaten von Kulluna Watani (KW) zu stimmen – bei den ersten Parlamentswahlen im Libanon seit neun Jahren.

Jetzt sitzt der Student in einem kleinen Café im Osten Beiruts, bei der Wahlparty der Koalition Kulluna Watani (Wir alle sind meine Heimat), in der sich verschiedene Listen der libanesischen Zivilgesellschaft zusammengeschlossen haben. Er nimmt noch einen Schluck Bier und sagt: „Immerhin zwei.“ Zwei KW-Kandidatinnen haben nach ersten Informationen den Einzug ins Parlament geschafft haben, das hat gerade jemand im Fernsehen verkündet.

Eine der beiden, die Schriftstellerin und Aktivistin Joumana Haddad, tanzt ausgelassen durch das Café. Vorher sagte sie noch zu Alsharq: „Die Menschen in Beirut haben eine große Botschaft gesendet: Nein zu korrupten Politikern, Nein zur konfessionellen Spaltung, Nein zum Nicht-Respektieren ziviler Rechte und Bedürfnisse der Libanesen, Ja zu einem zivilen, anständigen und humanen Libanon, in dem Frieden und Demokratie wie vor dem Bürgerkrieg regieren.“

Es ist einer der wenigen wirklich euphorischen Momente an diesem Abend für die KW-Aktivistinnen und Aktivisten. Auf eine zweistellige Zahl der 128 Sitze im neuen libanesischen Parlament hatten sie spekuliert, mit dem neuen Verhältniswahlrecht, zumindest auf zehn gehofft, um künftig Gesetze initiieren zu können. Getragen von der Begeisterung der Kommunalwahlen vor zwei Jahren, als die zivilgesellschaftliche Gruppe Beirut Madinati (Beirut ist meine Stadt) aus dem Stand 40 Prozent der Stimmen erzielte. Daran wollten sie anknüpfen.

Einen halben Tag nach dem Bier im Café rennt Abbas in Richtung Innenministerium – er ist spät dran für die Demo, schafft es aber gerade noch rechtzeitig, um Haddad wiederzusehen. Dieses Mal steht sie inmitten von hunderten Demonstrantinnen und Demonstranten und ruft in ein Megafon. Die Demo ist spontan organisiert, das Megafon ist zu leise, Haddads Stimme kaum zu hören. Aber es ist ohnehin allen klar, was sie sagt: Am Montagmorgen wurde bekannt, dass Haddad nun doch nicht ins Parlament einziehen soll. Damit stellt KW nun nur noch eine Abgeordnete, die Journalistin Paula Yacoubian. Die Koalition vermutet Wahlbetrug.

Um sechs Uhr früh wurden alle rausgeschickt

Tatsächlich klingen die Berichte darüber, wie aus zwei KW-Kandidatinnen nur noch eine wurde, sehr dubios – wie so vieles bei diesen Wahlen: Von verschiedenen Menschen, aber jeweils aus zweiter Hand, hört man, dass bis 6 Uhr morgens der Stimmenanteil für Kulluna Watani im Wahlbezirk Beirut 1 noch hoch genug gewesen sein soll, um zwei Kandidatinnen zu stellen.

Dann wurden die Kandidatinnen von Kulluna Watani und ihre Vertreter gebeten, den Raum zu verlassen, in dem die Auszählungen stattfanden. Angeblich sollen kurz zuvor weitere Wahlumschläge aufgetaucht sein, allerdings ohne das vorgeschriebene Siegel. Als Grund für den Ausschluss sollen unter anderem IT-Probleme angegeben worden sein. Je nachdem, wen man fragt, wurden die KW-Vertreterinnen und -Vertreter nach 20 Minuten (andere sagen nach mehr als einer Stunde) wieder in den Raum gebeten, worauf ihnen mitgeteilt wurde, dass es nur für eine Kandidatin reiche. Einzelheiten hat der Blogger Gino Raidy hier aufgeschrieben. Die Enttäuschung und Wut über diesen vermuteten Wahlbetrug brachte dann immerhin mehrere hundert Menschen zum Protest vor das Innenministerium.

Es ist eine von vielen merkwürdigen Geschichten bei diesen Wahlen. Mehreren Medien zufolge, die sich auf die Lebanese Association for Democratic Elections (LADE) beziehen, sollen mehr als 7.000 Verstöße gegen das Wahlgesetz gemeldet worden sein. Darunter fallen: Verspätetes Zustellen der Wahlurnen der Auslandslibanesinnen und -libanesen, Druck auf Wählerinnen und Wähler, Parteivertreter, die Wählerinnen und Wähler bis zur Stimmabgabe begleiteten, Chaos in den Wahllokalen. Ein Libanese berichtete Alsharq, dass der Sichtschutz in seinem Wahllokal so niedrig war, dass jeder sehen konnte, wer wie abstimmt. Dabei sind die etlichen Berichte über Politiker, die für Beträge von 500 bis zu 2.000 Dollar Stimmen kaufen, hochwertige Tankstellengutscheine verteilen oder Arztrechnungen begleichen, noch gar nicht alle mit dabei.

Nicht mal die Hälfte der Wahlberechtigten stimmte ab

Samstagabend, noch wenige Stunden bis zur Wahl. Ein Friseur in Ost-Beirut zappt in seinem Geschäft noch eben durchs Fernsehprogramm, bevor er die letzten Kunden bedient. „Wenigstens kommen heute endlich keine Wahlsendungen mehr“, sagt sein Kollege, „wurde so festgelegt“. „Hamdillah“, sagt der Friseur, „Gottseidank“. Seit fünf Jahren waren die Wahlen überfällig, das Parlament hatte sie immer wieder mit scheinheiligen Begründungen verschoben. Nun stellt sich heraus, dass sich die Begeisterung in der Bevölkerung dennoch in Grenzen hält. Am Ende werden gerade einmal 49,2 Prozent, nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigten, abstimmen. Bei den bis dato letzten Wahlen 2009 waren es noch 55 Prozent.

Davon profitieren vor allem die etablierten Parteien. Die schiitischen Parteien Amal und Hisbollah schaffen es, ihre Anhängerinnen und Anhänger weitgehend zu mobilisieren. Sie holen in ihren Hochburgen fast alle Sitze und können ihre Ergebnisse von den vorangegangenen Wahlen verbessern (Amal, von 13 auf 16) bzw. wiederholen (Hisbollah, 13). Da die Zahl der schiitischen Abgeordneten wie bei jeder anderen Konfession von vorneherein festgelegt ist, haben die beiden Parteien ihr Potenzial weitgehend ausgeschöpft. Die meisten Sitze (19) holt erneut die sunnitisch geprägte Partei Future Movement um den vermutlich auch künftigen Premierminister Saad al-Hariri, wenn auch mit zehn Sitzen weniger als bislang.

Erheblich verbessern konnten sich auch die christlich-nationalistisch geprägten Lebanese Forces (von sieben auf 13). Die größte christliche Partei Free Patriotic Movement (FPM) von Präsident Michel Aoun dagegen stellt künftig etwas weniger Abgeordnete (18 statt 20). Allerdings hat ihre Liste Lubnan al-Qawi (Der starke Libanon), auf der FPM-Kandidaten gemeinsam mit Vertretern anderer Parteien angetreten sind, ordentlich abgeräumt. Nachdem FPM wie auch Amal mit der Hisbollah verbündet sind, schreiben viele Medien gerne davon, die Hisbollah habe gemeinsam mit ihren Verbündeten die Mehrheit geholt. Tatsächlich ist es komplexer. Die vormaligen Blöcke 14. März (pro-westlich) und 8. März (pro-iranisch) gibt es in der Form nicht mehr.

Deutlich wird das etwa in der Nacht zu Montag. Auf dem Sassine-Platz im Osten Beiruts feiern die Lebanese Forces (ehem. Teil vom 14. März) lautstark. Inzwischen hat es zu regnen begonnen, aber egal, eine Gruppe steht mitten auf dem eigentlichen Verkehrsknotenpunkt und brüllt ihre Schlachtrufe, während die weiß beflaggten, hupenden Autos vorbeifahren. Ein paar Meter weiter, in einer Seitenstraße, wehen orangefarbene Flaggen. Hier feiert das FPM (ehem. Teil vom 8. März). Irgendwann ziehen die Lebanese Forces-Anhänger los, hin zu den FPM-Leuten. Einen kurzen Moment lang stehen beide voreinander, weiße Flaggen und orange Flaggen. Hier, in Ost-Beirut, haben sich ihre Anführer Samir Geagea (LF) und Michel Aoun (FPM) vor etwa 30 Jahren mit die brutalsten, innerchristlichen, Kämpfe des libanesischen Bürgerkriegs geliefert, mit tausenden Todesopfern. Erst seit drei Jahren reden Geagea und Aoun überhaupt miteinander. Nun dauert es nicht lang auf dem Sassine-Platz, und orange und weiße Flaggen feiern zusammen.

Denn mittlerweile sind alle mit allen im Gespräch, das FPM, zwar immer noch klar im Pro-Hisbollah-Lager verortet, hat sich längst auf andere Parteien zubewegt. Und gerade bei diesen Wahlen mit dem neuen Verhältniswahlrecht, bei denen in jedem Wahlbezirk die Verhältnisse andere sind und an einem Ort eigentlich Verbündete gegeneinander antreten, während andernorts eigentlich verfeindete Kandidaten gemeinsame Sachen machen, ist es weniger denn je eine nationale Wahl. Gewählt wird zwar das landesweite Parlament, aber überall mit anderen Voraussetzungen. Man wählt keine Parteien, man wählt Listen, in jedem Bezirk heißen sie anders und setzen andere Schwerpunkte. Landesweite Parteiprogramme gibt es nicht. Inhaltlich unterscheiden sich libanesische Parteien seit Jahren ohnehin höchstens in der Außenpolitik, intern erklären alle das gleiche: Bessere Elektrizitätsversorgung, Bildung, gute Straßen, und mehr.

Für die Listen aus der Zivilgesellschaft ging einiges schief

Und genau das ist auch eines der Probleme der Listen aus der Zivilgesellschaft: Sie besetzen ähnliche Themen wie das Establishment. Vielleicht glauben sie, eine höhere Glaubwürdigkeit zu haben, weil es die etablierten Parteien seit Jahrzehnten nicht schaffen, diese Probleme zu lösen – tatsächlich werden sie so aber weniger unterscheidbar, und viele Libanesen sehen bei den neuen Gruppen eher einen Mangel an Erfahrung.

Hinzu kommt, dass die Listen ohnehin nur in neun der 15 Wahlbezirke antreten, dann aber häufig gleich mehrere parallel, und sich so gegenseitig die Stimmen wegnehmen. Sie bilden zwar miteinander eine gemeinsame Koalition, Kulluna Watani, aber ihnen fehlen die Mittel, um sie bekannt zu machen. Für eine Live-Übertragung von einem Partei-Event in einem der beliebten privaten TV-Sender werden locker 60.000 bis 90.000 US-Dollar fällig. Auch die exorbitante Plakatwerbung, die andere Parteien im ganzen Land betreiben, kostet Geld. Die unabhängigen Listen finanzieren sich dabei lediglich über Crowdfunding und Spenden. Viele der 66 Kandidatinnen und Kandidaten können selbst nicht einmal die rund 5.000 US-Dollar aufbringen, um sich registrieren zu lassen, sie brauchen die Unterstützung der Koalition. Woher sollen da die Gelder für große öffentliche Kampagnen kommen? Alle 66 Kandidatinnen und Kandidaten hatten vermutlich ähnlich viel Geld zur Verfügung wie zwei oder drei Kandidaten der etablierten Parteien, schätzt ein KW-Wahlkämpfer - eine durchaus realistische Einschätzung.

So bleiben am Ende der Wahlen viele Fragen: Wie wird sich die neue Regierung zusammensetzen? Wird es wieder eine sogenannte „Regierung der Nationalen Einheit“ mit Ministern und Ministerinnen[1] aus allen wichtigen Parteien geben, deren bestimmendes Merkmal meist ist, ständig im Streit zu liegen? Wie wird sich Paula Yacoubian, die nach bisherigem Stand einzige Abgeordnete der Zivilgesellschaft, im Parlament verhalten? Wird sie Fundamentalopposition betreiben oder sich Verbündete suchen? Und auch: Wird es die Zivilgesellschaft für die nächsten Wahlen in frühestens vier Jahren schaffen, eine schlagkräftige Alternative zum Establishment aufzubauen?

Ein beliebter Schlachtruf bei der Demo für Joumana Haddad am Montag vor dem Innneministerium lautet: „Jdid Taswit!“ – „Neuwahlen!“ Aber darauf zu hoffen dürfte vergeblich sein. Die Aktivistinnen und Aktivisten aus der Zivilgesellschaft hatten ihre Chance dieses Jahr, konnten sie aber nicht nutzen – was aber nur zum Teil an ihnen selbst lag. Ob das ganze Land seine Chance genutzt hat, indem es weitgehend die selben Leute wie in den vergangenen Jahren ins Parlament befördert hat, darf ebenfalls getrost bezweifelt werden. Somit bleibt dem Libanon vor allem eins zu wünschen: Dass es nicht wieder neun Jahre dauert, bis die nächste Chance kommt.

 

Fußnoten:

[1] Haha, kleiner Scherz. Tatsächlich sitzen im neuen Parlament nun sechs Frauen, bislang waren es vier. Ob die künftige Regierung auch wieder auf die originelle Idee verfallen wird, das Frauenministerium mit einem Mann zu besetzen, bleibt abzuwarten.

 

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Sein Journalistik-Studium führte Bodo vor einigen Jahren in den Libanon. Es folgten viele weitere Aufenthalte im Libanon und in anderen Ländern der Levante, auch als Reiseleiter für Alsharq REISE. Bodo hat einen Master in Politik und Wirtschaft des Nahen und Mittleren Ostens in Marburg und arbeitet heute als Journalist, meist für die Badischen...