Gefangen, entmündigt, ohne Perspektive. Aisha Abdulrahman sieht in Kairo keine Möglichkeit, sich zu entwickeln und ihr eigenes Leben zu leben. Nach einem kurzen Aufenthalt in Deutschland während des Studiums, fasst sie den Entschluss ihre Heimat zu verlassen.
Kurze lockige Haare, Jeans-Hose, eine klassische Bluse und Lederschuhe. So sehe ich aus. Ich heiße Aisha Abdulrahman; Germanistin, rede wie ein Wasserfall, esse und bewege mich viel. Vor zweieinhalb Jahren habe ich Ägypten verlassen und bin nach Deutschland gezogen. Hinter meiner Entscheidung stehen ganz persönlichen Gründe.
„Ich fühlte mich wie gefangen“
Ich bin in einer strengen, religiösen und traditionellen Familie in Kairo aufgewachsen. 2011 brach die Revolution in Ägypten aus und damit meine Hoffnung, dass aus dem unterentwickelten Land langsam ein Traumland wird. Damals war ich 19 Jahre alt. Kurz danach habe ich mein Studium an der islamischen Universität Al Azhar angefangen. Ich begann, das Leben in Kairo zu entdecken. Bis kurz zuvor durfte ich noch nichtmal allein mit dem Bus fahren. Überall hin wurde ich gebracht und wieder abgeholt: separierte Cafés, Schwimmhallen nur für Frauen oder eine Geburtstags-Party bei einer Freundin. Meistens waren wir – Mädchen aus religiösen Familien – in geschlossenen Räumen.
Als Frau sollte ich die Ideologie meiner Eltern übernehmen und nur das machen, womit sie einverstanden sind. Das heißt zum Beispiel: nicht zu oft unterwegs sein, nicht reisen, nicht bei Freundinnen übernachten, mit Männern distanziert umgehen, in der Öffentlichkeit nicht laut reden oder lachen, keine Fotos auf Facebook veröffentlichen und bloß nicht denken, ich dürfe irgendetwas selbst bestimmen.
Ich sollte bei meinen Eltern leben, bis ich heirate. Bis dahin würden sie mich weiter wie ein Kind behandeln. Doch wirklich selbstständig ist man auch nach der Heirat nicht. Ehemänner verhalten sich oft genauso autoritär wie die Eltern und bevormunden ihre Frauen. Für meinen Bruder, der ein paar Jahre älter ist, war es anders: Er musste nie fragen, wenn er das Haus verlässt. Er sei ein Mann und würde irgendwann für sich und seine Familie verantwortlich sein, sagte meine Mutter immer.
Ich war sehr wütend und fühlte mich wie gefangen, denn ich wollte gerne reisen, arbeiten und mich entwickeln. Nach jahrelangen Konflikten mit meinen Eltern wurde mir dann langsam klar: einen Ausweg gibt es nicht. Meine Familie – wie die meisten Familien in Ägypten – würde es mir nicht erlauben, alleine woanders zu leben. Kaum ein Vermieter gibt einer alleinstehenden jungen Frau einen Mietvertrag.
Außerdem hatte ich Angst, zuhause eingesperrt zu werden, wenn ich rebellieren oder versuchen würde abzuhauen. Damit hatten mir meine Eltern immer gedroht. Tatsächlich hatten sie mich einmal eine Woche lang eingesperrt, als ich noch in der sechsten Klasse war.
Aber ich wollte mein Leben in die eigenen Hände nehmen. Deshalb verließ ich Ägypten, auf der Suche nach einem Ort, wo ich ohne Angst leben könnte.
In Deutschland ist es anders
Während des Studiums hatte ich ein Stipendium erhalten, um für einen Monat nach Deutschland zu reisen. Meine Eltern wollten mich zunächst nicht gehen lassen. Wir stritten lange und heftig, bis ich endlich die Reise antreten durfte. Ich habe alles allein erledigt – zum Beispiel ein Bankkonto eröffnet, die Bürokratie mit der Botschaft erledigt, mich an der Uni angemeldet.
Deutschland war für mich ein Kulturschock. Nicht nur, weil der Lebensstandard in Deutschland so hoch ist, sondern weil ich das erste Mal als Erwachsene behandelt wurde. Man hat mich gefragt, was ich in Deutschland mache, nicht – wie fast alle Araber mich fragen – mit wem ich verreist wäre und warum es mir meine Eltern erlaubt hätten. Das erste Mal in meinem Leben bekam ich einen eigenen Hausschlüssel in die Hand und wurde mit „Sie“ angesprochen.
Und ich konnte zum ersten Mal selbstständig unterwegs sein und war für mich verantwortlich. In einem Monat habe ich fünf Städte besucht und bin zu allen Uni-Exkursionen gegangen. Ich habe einfach die Haustür aufgemacht und bin irgendwo hingegangen, ohne vorher nach Erlaubnis zu fragen. Aus Spaß bin ich manchmal kurz raus- und wieder reingegangen. Alle Frauen, die ich getroffen habe, waren selbstvertständlich selbständig.
Aus dem Käfig entkommen
Als ich nach Kairo zurückkehrte, fing ich an, in Teilzeit in einem deutschen Call Center zu arbeiten. Das war kein Problem für meine Eltern, auch wenn meine Mutter damit nicht zufrieden war.
Das Call Center war wie eine Haltestelle für junge Leute, die Geld sparen möchten, um nach Deutschland oder ins europäische Ausland zu gehen – je nachdem, wo sie ein Visum bekommen, was alles andere als einfach ist. Im Callcenter habe ich Samia Samouel, Sayed Mahmoud und andere getroffen, die später nach Deutschland gingen. Wir haben sehr gut verdient: 230 Euro monatlich für eine Teilzeit-Stelle. Es war zwar keine besonders interessante Arbeit, aber besser als die Perspektivlosigkeit unter der viele andere junge Menschen in Ägypten leiden. Mit der Arbeit bekam ich langsam mehr Selbstvertrauen und konnte etwas Geld sparen.
Nach den letzten Prüfungen an der Universität begann ich intensiv nach Wegen zu suchen, wie ich Ägypten verlassen könnte. Die Möglichkeiten waren allerdings sehr begrenzt und so entschied ich mich für ein Jahr als Au-pair nach Deutschland zu gehen. Nach mehreren Monaten Suche fand ich eine Familie in der Nähe von Frankfurt am Main. Im Frühling 2015 schmuggelte ich schließlich meine Kleidung und wichtige Dokumente aus meinem Elternhaus heraus und reiste tatsächlich von zuhause ab. Auf dem Weg zum Flughafen fühlte ich mich frei wie ein Vogel, der aus einem Käfig entkommen ist.
Immer mehr wandern aus
In Ägypten hat sich die wirtschaftliche Lage indes immer weiter verschlechtert, das ägyptische Pfund verliert weiter an Wert. Viele begabte junge Menschen, die ich aus dem Studium oder der Arbeit kenne, sind inzwischen aus Kairo ausgewandert oder bereiten sich darauf vor. Immer mehr fragen mich, wie ich ausgereist bin und ob ich ihnen auch bei ihrer Reise helfen kann. Das Thema wird auf Facebook heiß diskutiert.
Über die Frage, wie diese Auswanderung Ägypten beeinflusst, habe ich lange nachgedacht. Einerseits verliert das Land viele qualifizierte junge Leute. Andererseits haben diese jungen Menschen in Ägypten keinen Zugang zu Wissenschaft und Arbeit. Ich selbst hätte in Ägypten auch nicht lernen können, eine Journalistin zu werden.
Bei verschiedenen Besuchen in Kairo merkte ich, wie viele Menschen das Land inzwischen verlassen haben. Das letzte Mal war ich 2016 zum Zuckerfest dort. Ich war gespannt, meine Verwandten, alte Bekannte und die Nachbarsfamilien samt ihrer Kinder wiederzusehen. Viele kannte ich seit meiner eigenen Kindheit. Doch in der Moschee habe ich kaum jemanden erkannt, so viele sind inzwischen weg. Auch mein älterer Bruder. Da habe ich gemerkt, wie weitreichend die aktuellen Entwicklungen in Ägypten für das Leben der Menschen im Land sind. Um das zu dokumentieren, habe ich angefangen, diese Serie zu schreiben.
Viele geteilte Erfahrungen
Mit Sayed, Soheib, Samira, Ahmad und Muhammed – den in dieser Serie vorgestellten Personen – teile ich viele Erfahrungen: Die Konflikte mit den Eltern, die Schwierigkeiten mit dem politischen System und dessen Einfluss auf die Gesellschaft.
Ähnlich wie Soheib Abdelaziz, der wie ich die Al-Azhar-Schule besucht hat, wurde mir erst während des Studiums klar, dass es „alles Müll ist, was wir in Ägypten machen“. Die Universität bietet keine echte Wissenschaft an, ihre Zertifikate sind nirgendwo anerkannt und die Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt sind ziemlich begrenzt.
Wir beide erlebten 2013 den Militärputsch und die anschließende Verfolgung aller politisch Engagierten. Viele Menschen und vor allem Muslimbrüder wurden festgenommen, vertrieben oder ermordet. Die meisten Menschen wollten darüber nicht reden, ich hatte andauernd Angst. Auch Soheib wollte nicht mehr so weiter leben, als ob alles in Ordnung sei. Beide wollten wir bald nur noch weg.
Mit Sayed Mahmoud habe ich im gleichen Ort gearbeitet. Er sagte einmal zu mir: „Egal wie viel ich hier verdiene – mein Leben wird sich nur um Arbeit, Essen und Schlafen drehen.“ Das beschreibt auch gut meine Gedanken. Unser Arbeitstag in Ägypten dauerte zwölf Stunden. Das tägliche wechselnde Schichtsystem hat ein „normales“ gesellschaftliches Leben und regelmäßige Kontakte unmöglich gemacht. Das empfand ich immer als sehr unsozial.
Hinzu kommen eklatante Klassentrennungen. Wenn ich zum Beispiel zum Essen zu Verwandten eingeladen wurde, hat die bezahlte Haushilfe immer allein in der Küche gegessen. Die Bäuerin, die uns frisches Fleisch vom Land verkauft hat, kam nie in unserem Wohnung hinein, sondern saß auf der Treppe vor der Tür. Es schien mir so, als ob ich die einzige war, die damit ein Problem hatte. Das habe ich gehasst und ich wollte in einer Gesellschaft leben, wo alle Menschen gleich viel wert sind.
Noch nicht verheiratet?
Das Gespräch mit Samira traf mich besonders. Wenn ich in Kairo erzählt habe, dass ich gerne das Leben woanders ausprobieren, andere Länder besuchen und Journalistin werden möchte, habe ich erstaunte Blicke geerntet. Immer wieder wurde ich gefragt: „Allein? Möchtest du nicht heiraten?“ Oder auch: „Aisha, du bist verrückt, kein Mann wird dir so etwas überhaupt erlauben. Das schafft keine Frau allein. Warte lieber, bis du heiratest und mit deinem Mann mitgehst.“
Wie Samira, die 35 Jahre alt ist, bin auch ich mit 25 nicht verheiratet. Ältere Verwandte und Bekannte sagen immer wieder: „Meine Liebe, bemühe dich einfach etwas mehr – dann wird es bald klappen.“ Damit möchten sie mich auffordern, etwas verlockender zu sein, mich zu öffnen und jedem möglichen Mann eine Chance zu geben, bevor es „zu spät“ ist. Ab 25 Jahren würden die Frauen schließlich weniger attraktiv für Männer und ab 32 könnten wir es gar gleich vergessen.
Alles funktioniert in Deutschland
Mit Muhammed teile ich die Faszination, dass in Deutschland alles zu funktionieren scheint: Der Zug kommt wirklich sehr pünktlich – na ja, meistens pünktlich, sage ich heute. Wenn irgendwo ein „Betreten verboten“ Schild steht, dann geht auch niemand weiter. Es funktioniert, dass der Müll in verschiedenen Tonnen getrennt wird. Gemüse wird auf die Waage gelegt und keiner prüft, ob du dabei ehrlich bist. Öfters fragt mich der Verkäufer, was ich ausgesucht habe und glaubt mir, ohne zu gucken. Das ist in Kairo unmöglich.
Leicht war es für uns beide dennoch nicht, das System und die Menschen zu verstehen und uns entsprechend zu verhalten. In Berlin dachte ich mir zunächst, dass die BVG-Karte nur für Mitarbeiter sei. Ich wusste nicht, wie man einen Brief verschickt, wo man im Backwerk bestellt, wie man Geld- oder Ticketautomaten bedient oder wie der Seifenspender funktioniert, der zum Glück auch noch in jedem Restaurant anders ist. Es war erschöpfend unterwegs zu sein, da alles neu und interessant ist.
Keine Stabilität, aber sich selbst neu entdecken
In Ägypten habe ich öfters gehört, dass Deutsche Rassisten seien und sehr streng. Doch erst ein Mal wurde mir „Scheiß Ausländer” hinterhergerufen – in einem Zug in Bayern. Ansonsten, so sieht es auch Ahmad, werden wir in Deutschland freundlicher und respektvoller als in Ägypten behandelt.
Ich war trotzdem unsicher, ob alles gut klappen würde. Und ich hatte gar nicht damit gerechnet, wie mühsam und unsicher es bis heute ist. Nach den ersten zwei Monaten als Au-pair habe ich meine Gastfamilie gewechselt und bin nach Berlin gezogen. Und nach dem Jahr fand ich Arbeit in der Hauptstadt, jedoch keine feste Wohnung. Innerhalb von nur 15 Monaten bin ich sieben Mal umgezogen. Erst hatte ich ein begrenztes Arbeitsvisum, jetzt studiere ich wieder: Islamwissenschaft. Damit ist mein Aufenthalt in Deutschland erst einmal wieder gesichert und ich habe sogar eine feste Wohnung gefunden.
Innerhalb der ersten zwei Jahre in Deutschland habe ich viele neue Erfahrungen gemacht. Dabei habe ich mich von der arabischen Gesellschaft in Berlin eher distanziert und „meine Kultur“ aus der Ferne betrachtet. Gleichzeitig hatte ich zum ersten Mal Kontakt mit Atheist*innen, Homosexuellen, Veganer*innen, Leuten die Tattoos haben und vielen Menschen mit ganz unterschiedlichen Ansichten, die in meinem Land ein Tabu und nur geheim sind. Zum ersten Mal werde ich damit auch direkt mit Lebensweisen konfrontiert, die die traditionellen Ansichten meiner Kultur in Frage stellen – was ich sehr interessant und spannend finde.
Langsam habe ich mich selbst in Deutschland neu entdeckt. So geht es auch Ahmad, mit dem ich für diese Serie gesprochen habe. Wir fragen uns immer wieder: Wer bin ich? Was ziehe ich gerne an? Was sind meine Hobbys? Wo und wie möchte ich leben? Hier haben wir die Zeit und die Möglichkeit, uns diese Fragen zu stellen. Und wir haben die Freiheit, unsere Antworten zu auszuleben. Ich zum Beispiel trinke keinen Alkohol, esse kein Schweinefleisch und gehe nicht feiern, fühle mich aber trotzdem akzeptiert und respektiert. Dadurch habe ich Toleranz gelernt – ein Prinzip, das ich in Ägypten vermisse.
Ägypten, meine Heimat
In der ersten Zeit in Deutschland habe ich nur negativ über Ägypten gedacht. An meine Familie, an die Schule und an die schmutzigen, lauten Straßen. Nach eineinhalb Jahren dann habe ich angefangen, Ägypten zu vermissen. Gerne habe ich arabische Klamotten angezogen und bin immer öfter auf die Sonnenallee gegangen, die arabischste aller Straßen in Berlin.
Ich hatte Heimweh. Starkes Heimweh. So habe ich langsam realisiert, was „Heimat“ bedeutet und welche Verbindung man zum eigenen Land haben kann. Als ich im Sommer 2016 in Kairo war, habe ich mich plötzlich mit der Stadt verbunden gefühlt, viele Erinnerungen gingen mir durch den Kopf, das Essen schmeckte paradiesisch. Ich ertappte mich dabei, wie ein altmodischer Ägypter zu denken, kannte die alten Witze und Worte. In diesem Sommer besuchte ich auch meine Familie – das erste Mal seit meinem Wegzug. Und zum ersten Mal fragten sie mich, was ich eigentlich in Deutschland mache und diskutierten mit mir wie mit einer Erwachsenen. Inzwischen haben meine Eltern meine Entscheidung akzeptiert, haben immer mehr Vertrauen in mich und wir sehen oder hören uns regelmäßig. Mein Vater gab sogar zu, dass er stolz auf mich sei.
Trotzdem: Je länger ich von Ägypten fernbleibe, desto fremder fühle ich mich dort insgesamt. So merkte ich 2016 in Kairo eben auch sofort, wie stark ich mich verändert und wie viele deutsche Sitten ich angenommen hatte. Zum Beispiel fand ich es eklig, wenn wir alle mit der Hand von einem Teller aßen. Oder ich war pünktlich und musste immer lang warten. Ich verliere den Überblick über die Preise und das Leben, vergesse die Straßen, manchmal sogar Wörter und die Traditionen. Das tut mir weh und ich möchte dieses Loch füllen, indem ich mit Kairo verbunden bleibe – auch von Deutschland aus.
Gleichzeitig fühle ich sehr wohl in Deutschland, auch wenn es nicht meine Heimat ist – immer noch beherrsche ich die Sprache nicht wie ein Muttersprachler, verstehe Witze nur selten und kenne den Hintergrund vieler Ereignisse nicht. Dennoch atme ich jedes Mal, wenn ich aus Kairo zurückkomme, am Flughafen erstmal tief durch und denke mir: „Endlich wieder in Deutschland.“ Ich freue mich auf Berlin und fühle mich mit der Stadt, mit Weinachten, mit den alten Häusern, den Seen und der deutschen Sprache langsam sehr verbunden.
Deshalb baue ich mein Leben in Deutschland auf. Hier, wo ich selbständig und frei sein und ohne Angst schlafen kann. Gleichzeitig will ich immer wieder zurück nach Kairo und würde dort auch gerne eine längere Zeit verbringen können. Die Stadt, ägyptisch zu sprechen, meine Freunde – all das fehlt mir eben trotzdem sehr!