15.06.2022
Durch die Linse der Kamera
Szene aus „Memory Box“. Foto: Haut et Court, Abbout Productions, micro_scope
Szene aus „Memory Box“. Foto: Haut et Court, Abbout Productions, micro_scope

Mit einer gelungenen Auswahl an künstlerisch anspruchsvollen Filmen beleuchtet das ALFILM-Festival verschiedene gesellschaftliche Herausforderungen und präsentiert die Vielfalt des arabischen Kinos. Empfehlungen vom diesjährigen Festival.

Gibt es einen besseren Weg, sich mit der Welt auseinanderzusetzen, als durch den Blick durch eine Kameralinse? Auch in seiner 13. Ausgabe zeigte das ALFILM-Festival die Stärke des Mediums Film: aktuelle gesellschaftliche Themen so darzustellen, dass es beim Publikum ankommt und Neugierde weckt. Das Festivalprogramm bot eine vielfältige Auswahl an Filmen „von Somalia bis Marokko, von Jemen bis Palästina“, die sich mit Themen wie Sexismus und Patriarchat, Identitätskrisen und Sexualität beschäftigen.

Die Rubrik ALFILM SPOTLIGHT trug dieses Jahr den Titel „Vom Bürgerkrieg zum Chaos: Eine Hommage an filmischen Widerstand“ und konzentrierte sich auf den Libanon. Die präsentierten Filme beschäftigen sich mit der aktuellen Krise und der Rolle von Filmemacher:innen, die zum Widerstand im Libanon beitragen und diesen dokumentieren.

Eine Premiere der diesjährigen Ausgabe war das ALFILM ATELIER, das arabischen Filmemacher:innen im Exil Raum gab. Die Verflechtung der Aushandlung von Identität mit dem Filmemachen stand dabei im Mittelpunkt, unter anderem in Form von Panels mit Raum für kritische Diskussionen und Dialog zwischen Filmschaffenden und Fachleuten der Filmindustrie.

Dis:orient hatte in diesem Jahr die Möglichkeit, Teil des Festivals zu sein. Anschließend an das Festival habe ich einige meiner Eindrücke und persönlichen Highlights für euch zusammengetragen. Zunächst ein logistischer Hinweis: Für die Besucher:innen ist es wichtig zu wissen, dass das ALFILM Festival nicht an einem zentralen Ort stattfindet, sondern dass die Filme in vier verschiedenen Berliner Kinos gezeigt werden. Es kann anstrengend sein, an einem Tag verschiedene Filme an verschiedenen Orten zu sehen – Berlin ist riesig!

Glücklicherweise werden die meisten Filme zweimal gezeigt, was die Chance erhöht, auch wirklich alle Filme anschauen zu können, die man sehen möchte. Die Gelegenheit, selbst bei ALFILM dabei zu sein, gibt’s erst wieder nächstes Jahr, aber es lohnt sich, ab jetzt Stift und Papier bereit zu halten!

Szene aus „Streams“. Foto: ALFILM

Tunesiens Tabus

Unterwegs von einem Kino zum nächsten, lernte ich die Berliner Kinoszene kennen und stöberte durch das abwechslungsreiche ALFILM-Programm. Am Ende hatte ich eine ganze Reihe unterschiedlicher Filme gesehen. Der erste Film, den ich empfehlen möchte, ist „Streams“ vom tunesischen Regisseur und Filmemacher Mehdi Hmili. Der Film basiert auf Mehdis eigener Biographie, erweitert durch fiktive Aspekte. „Streams“ erzählt die Geschichte eines fußballbegeisterten tunesischen Teenagers, dessen Leben auf den Kopf gestellt wird, nachdem seine Mutter zu Unrecht ins Gefängnis kommt.

Mehdi greift in seinem Film viele Themen auf, die in Tunesien als Tabus gelten. Mit viel Mut geht er zum Beispiel die Themen Sexualität und sexuelle Identität an. Er zeigt diese Seite der Realität durch erstaunlich grob gedrehte Szenen, in denen er aber die richtigen Kamerawinkel und die passende Beleuchtung wählt, um das Publikum den Moment so erleben zu lassen, als wäre er real. Neben der Grafik hat mir auch die Musik so gut gefallen, dass ich sogar versucht habe, sie zu shazamen! Leider vergeblich.

Mit einer Mischung aus Action, Nervenkitzel und intensiven Emotionen vermittelt „Streams“ eine Idee davon, wie unversöhnlich und hart Gesellschaften sein können. Der Film schafft es, dass sich das Publikum mit den Charakteren identifiziert und ihre Kämpfe nachvollziehen kann.

In einer Zigarettenpause nach der Vorführung erzählte Medhi Hmili von der Entstehungsgeschichte: Der Film ist seiner Mutter gewidmet und dem, was sie gemeinsam durchgemacht haben. Gleichzeitig sieht er es als persönliche Herausforderung, seine Lebensgeschichte auf die Leinwand zu bringen und sich mit den Folgen des Tabubruchs auseinanderzusetzen. Wie Mehdi waren viele Regisseur:innen auf dem Festival anwesend und waren am Austausch und Diskussionen interessiert. ALFILM ist damit eine gleichzeitig professionelle, wie auch angenehm zugängliche Plattform für alle, die sich für arabischsprachige Filme interessieren.

Szene aus „Memory Box“. Foto: Haut et Court, Abbout Productions, micro_scope

Erinnerungen an den Krieg

Ein weiterer herausragender Film in der diesjährigen Filmauswahl ist „Memory Box“ unter Regie von Joana Hadjithomas und Khalil Joreige. Der Film handelt von der libanesischen Mutter Maia, die mit ihrer Teenage-Tochter Alex im Ausland, in Montreal lebt. Vollkommen unerwartet bekommen sie ein Paket von Maias bester Freundin, die kurz zuvor verstorben ist. Es ist voller Kassetten, Bilder und Notizbücher aus den 1980er-Jahren in Beirut – eine Schachtel voller Erinnerungen. Da Maia nicht bereit ist, sich der Vergangenheit zu stellen und das Paket zu öffnen, taucht Alex heimlich in die Vergangenheit ihrer Mutter ein und entdeckt verborgene Geheimnisse.

Die Zuschauenden erleben Maias Jugenderinnerungen aus den Zeiten des Krieges durch die Augen ihrer Tochter. Der Trick der Regisseur:innen besteht darin, in die Bilder hineinzuzoomen, die Alex betrachtet. Dabei werden sie lebendig und das Publikum wird in die Vergangenheit hineingezogen. Die Szenen in „Memory Box“ wurden sehr ästhetisch gedreht, mit vielen grafischen Effekten, die dem Film einen unverwechselbaren Stil verleihen. Obwohl der Film an sich fiktiv ist, basiert er auf Joana Hadjithomas' Tagebüchern und Tonbändern aus den Jahren 1982 bis 1988 und Joreiges Fotos aus der Kriegszeit, was ihn noch authentischer macht.

„Memory Box“ ist ein beeindruckendes Werk. Der Film nimmt das Publikum mit auf eine Reise zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Fantasie und Realität. Zudem vermittelt er, wie wichtig die Erinnerung an die Kriegszeit und die Auseinandersetzung mit traumatischen Ereignissen sind, um im Leben weiterzukommen. Vergesst nicht, diesen Film auf eure Liste zu setzen! Er ist auf jeden Fall sehenswert.

Szene aus „Tuk-tuk“. Foto: ALFILM

Die alltägliche Revolution der Frauen

Teil des ALFILM Festivals war auch eine schöne Auswahl an Kurzfilmen, darunter „Khadiga“, „Trumpets in the Sky“, „Suspended Wives“ und „Tuk-tuk“, um nur einige zu nennen. Sie befassen sich hauptsächlich mit Kämpfen von Frauen in arabischsprachigen Gesellschaften. Beispielsweise als alleinerziehende Mütter oder junge Mädchen, die versuchen, gesellschaftliche Stereotype zu überwinden und sich in männerdominierten Gesellschaften Respekt zu verschaffen.

„Tuk-tuk“, zum Beispiel, ist ein ägyptischer Kurzfilm von Mohamed Kheidr, der auf einer wahren Geschichte beruht. Er handelt von einer armen Frau, die für sich und ihre Kinder sorgen muss, nachdem ihr Mann sie verlassen hat. Sie beginnt, Tuk-tuk zu fahren und als Chauffeurin zu arbeiten, was für eine Frau in Ägypten bis heute eine ungewöhnliche Entscheidung ist.

Das Beeindruckende an „Tuk-tuk“ ist, dass es dem Publikum den Eindruck vermittelt, einen Dokumentarfilm zu sehen. Ja, es gab ein Drehbuch, Dialoge und Schauspieler:innen, aber wenn man den Film sieht, vergisst man leicht, dass es sich um Fiktion handelt. Kheidr befasst sich mit dem Thema Sexismus in männerdominierten Berufen und zeigt, wie gefährdet Frauen sein können, wenn sie mit Männern in Konkurrenz treten.

Es wird auch deutlich, wie patriarchalisch und hart die ägyptische Gesellschaft gegenüber Frauen sein kann. Das ist nicht neu, vor allem nicht für Frauen, aber es ist wichtig, das Publikum mit dieser Tatsache zu konfrontieren, um es zu sensibilisieren.

Szene aus „Their Algeria“. Foto: Thomas Brémond

Verfilmte Familiengeschichte

Um die Liste meiner Empfehlungen mit etwas Fröhlicherem zu enden, möchte ich euch als letzten Film „Their Algeria“ ans Herz legen. Der Film ist eine Dokumentation über die Familiengeschichte der Regisseurin Lina Soualem, besser gesagt: über ihre Großeltern, die in den 1950er-Jahren von Algerien nach Frankreich kamen, um dort zu arbeiten. Nach mehr als sechzig Jahren Ehe beschließt das Paar, sich zu trennen.

„Their Algeria“ dokumentiert Lina Soualems Versuch, mehr über ihre algerischen Wurzeln und die Geschichte ihrer Familie zu erfahren. Im Mittelpunkt des Films steht ihre Großmutter Aïcha. Der Großvater ist schweigsam und wird augenscheinlich von seiner Entscheidung, in Frankreich zu bleiben, aufgezehrt. Das Amüsante an dem Dokumentarfilm ist Aïchas spontane Art. Sie verleiht dem Dokumentarfilm eine leichte und lustige Stimmung. „Their Algeria“ beschäftigt sich mit der (Wieder-)Entdeckung der eigenen Wurzeln und der Bedeutung von „Heimat“ oder „Heimatverlust“ für Ausgewanderte, während das Setting des Films eine warme und familiäre Atmosphäre schafft.

Wenn ihr euch für Kino interessiert und tiefer in die Welt des arabischen Kinos eintauchen wollt, dann empfehle ich euch ALFILM!

Mit seiner Auswahl an fesselnden Filmen, die kontroverse und wichtige gesellschaftliche Themen aufgreifen und seiner gemütlichen Atmosphäre bietet das ALFILM Festival einen Einblick in das Leben und die Kämpfe von Tausenden von Menschen in der arabischsprachigen Welt. Das Beste ist, neben den Filmen, dass Regisseur:innen, Schauspieler:innen, Kritiker:innen und alle, die sich für die Geschichten und das Filmschaffen in der Region interessieren, zusammenkommen.

 

 

Rahma ist eine Musik- und Filmliebhaberin aus Tunesien. Sie hat ihren Master in britischen und nordamerikanischen Kulturwissenschaften an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg gemacht, mit Schwerpunkt auf Subkulturen und Digitalisierung. 
Redigiert von Rebecca Spittel, Clara Taxis
Übersetzt von Clara Taxis