Auch 20 Jahre nach Oslo ist im Jahre 2013 eine eigenständige, lebensfähige palästinensische Ökonomie mit voller Verfügungsgewalt über die eigenen Ressourcen und mit souveräner Entscheidungsgewalt nicht in Sicht. Die fortwährende israelische Besatzung stellt das zentrale Entwicklungshindernis dar. Für den Großteil der Bevölkerung, insbesondere in Gaza, haben sich die Lebensumstände nicht verbessert. Nur die jährlichen internationalen Hilfszahlungen, die rund die Hälfte der palästinensischen Wirtschaftsleistung ausmachen, sichern das wirtschaftliche Überleben der Palästinensischen Gebiete.
Im Zuge der Finanzkrise der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) im Herbst 2012 wurde von Teilen der Bevölkerung in der Westbank, die aufgrund ausbleibender Gehälter und Verschlechterung der wirtschaftlichen Gesamtsituation protestiert hatten, auch die Aussetzung des Pariser Protokolls gefordert. Das Protokoll, im Rahmen der Oslo-Abkommen 1994 abgeschlossen, sollte die zuvor einseitig durch Israel bestimmten Wirtschaftsbeziehungen in einem bilateralen Abkommen für die fünfjährige Interimsperiode festschreiben. Eine eigenständige palästinensische Volkswirtschaft sollte dadurch auf den Weg gebracht werden.
Die palästinische Wirtschaftsentwicklung vor Oslo
Nach über 25 Jahren unter israelischer Besatzung waren die wirtschaftlichen Strukturen der Westbank und Gazas vor Oslo durch zwei Determinanten geprägt.
Zum einem erfolgte seit der Besetzung 1967 eine zunehmende Integration der Gebiete in die stärkere und weiter entwickelte Wirtschaft Israels. Dieser ungleiche Konkurrenzkampf wurde durch eine Vielzahl protektionistischer Maßnahmen seitens Israels befördert. Während die Westbank und Gaza uneingeschränkt als Absatzmarkt für israelische Produkte dienten, wurden Importe aus Drittländern nach Israel eingeschränkt. Palästinensische Exporte wurden mit Verweis auf mangelhafte Infrastruktur und praktische Probleme im Zusammenhang mit dem Handel über die von Israel kontrollierte Außengrenze erschwert. Ferner hemmten Restriktionen wie die Notwendigkeit, israelische Erlaubnisse für Investitionsvorhaben zu beantragen, die Entwicklung des palästinensischen Privatsektors, denn Erlaubnisse wurden selten gewährt.
Zum anderem wurde die Wirtschaft aus Einkommen ausländischer Herkunft, vor allem aus Transferzahlungen von palästinensischen Gastarbeiten in den Golfländern und in Israel, Überweisungen aus der Diaspora sowie internationaler Hilfe gestützt. So resultierte das Einkommen im Jahre 1987 zum Ausbruch der ersten Intifada in der Westbank zu einem Viertel und in Gaza zu einem Drittel aus ausländischen Transferzahlungen. Eine Abhängigkeit, die im Laufe der Zeit noch größer geworden ist. Innerhalb des letzten Jahrzehnts haben internationale Hilfszahlungen um mehr als 500 Prozent zugenommen und betrugen 2012 etwa 3. Mrd. US–Dollar (USD). Mit einem BIP von nur 6.8 Mrd. USD (Westbank 5.0 Mrd. und Gaza 1.8 Mrd. USD), machen die Transferzahlungen derzeit fast die Hälfte der palästinensischen Wirtschaftsleistung aus.
Das Pariser Protokoll – Aufbau einer palästinensischen Volkswirtschaft
Im Rahmen der gewonnen Selbstverwaltung durch Oslo war die PA bestrebt, eine eigenständige Wirtschaftsstruktur aufzubauen. Politische Institutionen des öffentlichen wie des privaten Sektors sollten gegründet und die Infrastruktur ausgebaut werden. Das Pariser Protokoll führte jedoch nicht zur palästinensischen Selbstbestimmung in Wirtschaftsfragen, sondern beließ sie in einem gemeinsam zu regulierender Bereich – eine Tatsache, die sich Israel auf Grund seiner Überlegenheit zu Nutzen machte. Schon vier Jahre nach der Unterzeichnung des Protokolls resümierte der spätere israelische Außenminister Schlomo Ben Ami, dass die Pariser Erklärung „eine Zementierung der kolonialen Beziehungen“ zwischen beiden Parteien gewesen sei.
So beinhaltet das Protokoll eine Klausel zur Koppelung der Mehrwertsteuer. In der Praxis bedeutet dies, dass von Israel beschlossene Erhöhungen von der PA nachvollzogen werden müssen, selbst wenn sie kontraproduktiv sind. Einnahmen der PA aus palästinensischen Quellen in Form von Einkommens- und Mehrwertsteuer sowie Zollgebühren werden zunächst von Israel erhoben und dann an die PA weitergeleitet, was den israelischen Behörden ein Druckmittel gegen die PA verschafft, das regelmäßig zum Einsatz kommt. Des Weiteren wurden eine Anzahl von Punkten, die für die Regelung des palästinisch-israelischen Verhältnisses wesentlich sind, nicht oder unzureichend und somit zum Nachteil der palästinensischen Gebiete festgelegt; dies betrifft unter anderem die für den Agrarsektor existenzielle Frage nach der Teilhabe an den limitierten Wasservorkommen.
Tiefe Wirtschaftskrisen als Folge fortwährender Besatzung
Im Anschluss an die Oslo-Verträge hat die israelische Regierung die palästinensischen Gebiete graduell abgeriegelt und so Ost-Jerusalem seit Mitte der 1990er Jahre aus der palästinensischen Wirtschaft herausgelöst. Seitdem benötigt die palästinische Bevölkerung zum Teil Genehmigungen, um sich in den besetzten Gebieten bewegen zu können. Güter lassen sich nicht mehr frei transportieren und Hauptstraßen dürfen nur sehr eingeschränkt sowie mit zeitaufwändigen Umwegen genutzt werden.
Die Folge dieser israelischen Politik nach Oslo waren tiefe Wirtschaftskrisen, verstärkt durch Korruption und Misswirtschaft sowohl innerhalb der PA als auch seitens der politischen Parteien. Seit Ende der 1960er Jahre war Israel zum Arbeitsmarkt für eine wachsende Anzahl von palästinensischen Gastarbeitern geworden. Mehr als 115.600 Beschäftigte aus der Westbank und Gaza waren 1992 in Israel tätig und erzielten dort rund 36,6 Prozent des palästinischen Lohneinkommens. Der massive Rückgang der Einkommen aus Beschäftigungsverhältnissen in Israel durch die Grenzschließungen in den ersten Jahren der Oslo-Abkommen führte zu einer Verringerung des Bruttonationaleinkommens (BNE). Von 1992 bis 1996 fiel das BNE um ganze 18,41 Prozent.
Verstärkt wurde die angespannte Situation durch ein überproportionales Wachstum der Bevölkerung, die mit der Rückkehr von Palästinensern aus der Diaspora bis 1996 um 27,8 Prozentpunkte anwuchs. Die Folge war ein Rückgang des BNE pro Kopf in dieser Zeit von etwa 2.684 auf 1.713 USD, also um mehr als ein Drittel. Das zwischenzeitliche Wachstum von 1994 und 1995 mit Raten von 11 Prozent des BIP basierte lediglich auf dem Boom im Bauwesen, welcher sich als nicht nachhaltig erwies. Die gewonnene (teilweise) Selbstverwaltung hatte somit die wirtschaftliche Lage nicht verbessert, sondern dramatisch verschlechtert.
Ausbruch der zweiten Intifada – die palästinensische Wirtschaft am Boden
Im Jahre 1998 erholte sich die Wirtschaft leicht. Waren es im Vorjahr mehr als 60 Tage, an denen der Personen- wie Warenverkehr zwischen Israel und den besetzten Gebieten für Palästinenser unterbunden war, so belief sich die Zahl 1998 auf 14,5 Tage. Ferner konnte die inländische Beschäftigung angeregt werden, so dass der IWF in seinem Jahresbericht von einer „significant recovery“ sprach. Doch wurde mit dem Ausbruch der zweiten Intifada im September 2000 die asymmetrische Interdependenz der palästinensischen und der israelischen Wirtschaft abermals sichtbar, denn infolge der verschärften Abriegelungspolitik Israels kam die palästinensische Wirtschaft fast vollständig zum Erliegen. Der Aufschwung war zunichte.
Israel setzte den im Pariser Protokoll vereinbarten Transfer von Steuer- und Zolleinnahmen an die PA aus, die bis zu zwei Drittel der Einkünfte im Staatshaushalt ausmachten. Die Arbeitslosigkeit stieg auf über 40 Prozent und Investitionen wurden zurückgezogen. Die Vereinten Nationen schätzten Ende November 2000, dass die Inlandsproduktion im Vergleich zu September um die Hälfte sank. Während der Intifada beliefen sich die palästinensischen Importe auf 64 Prozent des BIP, die Exporte lediglich auf 10,5 Prozent des BIP. Die Nicht-Teilhabe am israelischen Arbeitsmarkt reduzierte die Rücküberweisungen und das hohe Handelsdefizit konnte nicht mehr wie in den Jahren vor Oslo weitgehend ausgeglichen werden. An ihre Stelle rückten internationale Geberländer, die die PA finanziell unterstützen. Deren Zahlungen stiegen von 2000 bis 2008 von 18 auf 58 Prozent des BIP.
In der zweiten Jahreshälfte 2005 verlangsamte sich das Wirtschaftswachstum erneut, nachdem es sich zum Ende der zweiten Intifada stabilisiert hatte. Israel riegelte die Gebiete während der Räumung seiner Siedlungen in Gaza wiederholt ab. Auch im Anschluss an den Sieg der Hamas in den Parlamentswahlen 2006 wurde die PA wirtschaftlich boykottiert. Dieser Boykott stürzte die PA durch die Aussetzung der israelischen Transferzahlungen und internationaler Hilfen wie der EU in eine schwerwiegende Haushaltskrise.
Wirtschaftspolitische Folgen – eine gezwungene internationale Abhängigkeit bis heute
Seit 2008 ist mit dem Ende dieses Boykotts sowie der damit einhergehenden Spaltung zwischen der Westbank und Gaza auf territorialer wie auf politischer Ebene ein leichtes, stetiges Wirtschaftswachstum zu beobachten. Verantwortlich dafür sind umfangreiche internationalen Finanzhilfen sowie die Sicherheitskooperation zwischen der PA und Israel. Die auf den ersten Blick kräftigen Wachstumsraten in den Jahren 2009 und 2010 müssen allerdings zum extrem niedrigen Ausgangsniveau in Bezug gesetzt werden: zwischen 2000 und 2008 brach das BIP um 38 Prozent ein.
Entscheidende Schritte im Bemühen um eine lebensfähige palästinensische Wirtschaft stellten die mit der Weltbank organisierten Geberkonferenzen dar. So wurden 2008 und 2010 vier Mrd. bzw. 848 Mio. USD für Projekte in der Westbank und Gaza bereitgestellt, darunter Finanzmittel für den Wohnungsbau und für die palästinensische Industrie. Infolge dessen wuchs das BIP pro Kopf in der Westbank von 2008 bis 2011 um fast ein Fünftel, von 1.620 auf 2.037 USD an. Das deutsche Pro-Kopf-Einkommen betrug zum Vergleich im Jahre 2011 38.400 USD und war damit um den Faktor 23 bzw. 19 größer als das palästinensische.
Im Jahre 2011 erhielt die PA jedoch mehr als 500 Mio. USD weniger an Hilfszahlungen als erwartet – und notwendig. Ferner blockierten die USA 200 Mio. USD ihrer Haushaltshilfe an die PA auf Grund von Uneinigkeit im Kongress bezüglich Palästinas Aufwertung durch die Vereinten Nationen. Israel reagierte seinerseits auf die palästinensischen Bemühungen um Staatlichkeit, indem über 100 Mio. USD an Steuergeldern nicht überwiesen wurden. Die PA lieh sich das fehlende Geld in Teilen von lokalen Banken und der privaten Wirtschaft.
Infolge dessen schwächte das Wachstum ebenfalls erneut ab. Das BIP pro Kopf nahm im Vergleich zum Vorjahr nur noch um 2,7 Prozent zu, da auch die Rücküberweisungen aus dem Ausland um drastische 16,5 Prozent fielen. Die Arbeitslosenquote stieg von 20,9 Prozent im Jahr 2011 auf 23 Prozent 2012, bei besonders hoher Jugendarbeitslosigkeit – ein knappes Viertel der potentiellen Erwerbspersonen stand ohne Anstellung da. Ein wirtschaftlicher Kollaps konnte abermals nur mit Zahlungen aus dem Ausland, in diesem Falle aus Saudi-Arabien und seitens der EU, gestoppt werden. Die für die Wirtschaft wie die PA notwendigen Hilfszahlungen scheinen für das Jahr 2013 erst einmal gesichert. Die Rückkehr an den Verhandlungstisch mit Israel bescherte der PA – quasi als Belohnung – zusätzliche internationale Hilfsgelder, insbesondere durch die USA.
Mangel an allem: Die Wirtschaft in Gaza
Auch in Gaza zog die Wirtschaft zunächst an. Das BIP pro Kopf stieg von 2008 bis 2011 von 886 auf 1.042 US-Dollar, liegt jedoch noch immer unter den Werten Mitte der 1990er Jahre. Organisationen der Vereinten Nationen sprechen daher von einem „De-Development“: 60 Prozent der Bevölkerung haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und 80 Prozent müssen eine Form von Unterstützung in Anspruch nehmen. Seit der israelischen Abriegelung im Jahr 2007 ist die Wirtschaft Gazas von der Einfuhr humanitärer Hilfsgüter und der Tunnelwirtschaft abhängig. Änderungen der Politik Ägyptens gegenüber der Öffnung seines Grenzübergangs nach Gaza sind nach den jüngsten politischen Entwicklungen in naher Zukunft ebenfalls nicht zu erwarten. Im Gegenteil, die Militärführung in Kairo geht in ihrem Bestreben, die Lage auf dem Sinai wieder unter ihrer Kontrolle zu bringen, mit aller Härte gegen die Schmuggelgeschäfte vor und hat bereits eine überwiegende Mehrheit der ehemals rund 1.200 Tunnel zerstört. Bis zu 20.000 Menschen haben direkt von der Tunnelwirtschaft gelebt. Ihnen droht nun die Arbeitslosigkeit, dem Rest der Bevölkerung jedoch die Abtrennung der letzten stetigen Versorgungslinie.
Trübe Aussichten – Eine eigenständige palästinensische Volkswirtschaft ist nicht in Sicht
Auch 20 Jahre nach Oslo ist im Jahre 2013 eine eigenständige, lebensfähige palästinensische Ökonomie mit voller Verfügungsgewalt über die eigenen Ressourcen und mit souveräner Entscheidungsgewalt nicht in Sicht. Die noch immer andauernde Besatzung der Westbank und die Blockade des Gazastreifens behindern den Handel zwischen den verschiedenen Teilen der Westbank und Gaza, zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten sowie zwischen den palästinensischen Gebieten und dem Ausland. Somit sind die Gebiete in immer größerem Maße isoliert und von Hilfszahllungen der internationalen Gemeinschaft abhängig. Dabei reagieren sie höchst sensibel auf politischen Druck Israels, Steuergelder zurückzuhalten und die Westbank abzuriegeln. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis sich ein erneutes völliges Erliegen der palästinischen Wirtschaft wiederholt.
Ein Wachstum im Bereich der Privatwirtschaft wäre für eine nachhaltige Verbesserung der wirtschaftlichen Situation entscheidend. Solange der PA vor allem der Zugang zu 60 Prozent des Gebiets der Westbank versperrt und somit Barrieren für den Privatsektor bestehen bleiben, gibt es kaum Entwicklungsperspektiven. Die C-Gebiete mit ihren landwirtschaftlichen und industriellen Nutzflächen und natürlichen Ressourcen stellen dabei den Schlüssel für eine größere Unabhängigkeit der palästinensischen Wirtschaft und die Lebensfähigkeit eines palästinensischen Staates dar. Doch der Verlauf der vergangenen 20 Jahre seit dem Abschluss der Oslo-Abkommen, mit seiner intensiven Nutzung dieser Flächen und Ressourcen durch israelische Siedler, macht diese Perspektive zunehmend zunichte.
Stefan Pantekoek arbeitet für die Friedrich-Ebert-Stiftung in Ost-Jerusalem. Dieser Artikel stellt die persönliche Meinung des Autors dar und spiegelt nicht grundsätzlich die Meinung der FES wider.