Die Bild-Zeitung will Migrant:innen vermeintlich deutsche Werte erklären. Doch die Autor:innen verstricken sich in Banalitäten und Widersprüchen – und offenbaren dabei ihren eigenen Werteverfall, findet Hannah El-Hitami.
Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.
Eigentlich wollte ich mir das sogenannte Manifest der Bild-Zeitung gar nicht durchlesen. Schon die Einleitung löste bei mir dieses Angstgefühl aus, das in letzter Zeit immer größer wird: bei dem Gedanken, dass vielleicht wirklich die Mehrheit der Gesellschaft so rassistisch ist wie die lautesten Medien und Politiker:innen; dass Zeitungen wie die Bild tausende Menschen mit ihrer Hetze berühren können, während ich es nicht einmal schaffe, meinem eigenen Umfeld diese Grundskepsis gegenüber „dem Islam“ zu nehmen; und dass diese Einstellungen gepaart mit der aktuellen Migrationslage in den nächsten Jahren zahlreiche Menschen das Leben kosten werden, ob an Europas Grenzen oder durch rassistische Gewalt im Inneren.
Letztendlich habe ich mir das Ding dann doch angeschaut: eine Auflistung von 50 vermeintlich deutschen Prinzipien, die Chefredakteur:innen Marion Horn und Robert Schneider einer ominösen Hosen-verbietenden, Grundgesetz-verachtenden, Kindern-Hass-lehrenden Bevölkerungsgruppe in Deutschland beibringen wollen. Seit dem Angriff der Hamas auf Israel steige der Hass auf „unsere Werte, die Demokratie, auf Deutschland“, behaupten sie. Darum wollen sie „Nein sagen“ zu den „vielen Menschen“ in Deutschland, „die unsere Art zu leben bekämpfen.“
Gemeint sind natürlich Araber:innen und Muslim:innen, auch wenn man das – vermutlich aus rechtlichen Gründen – nicht so genau benennen wollte. Es wird nicht nur aus dem Cover-Bild ersichtlich, das Krawalle auf der Sonnenallee zeigt, sondern auch aus dem, was die Autor:innen in den nachfolgenden 50 Punkten als deutsch definieren. Vieles davon ist völlig banal – wir geben uns die Hand, wir trinken Bier – und dient offensichtlich nur der Abgrenzung Deutschlands von einer als fremd wahrgenommenen muslimisch-arabischen Kultur.
Widersprüche und Doppelstandards
Die Widersprüche beginnen schon in der Einleitung, die feststellt, dass „in unserem so wunderbaren und umarmenden Land die Würde JEDES Menschen unantastbar“ ist, „Egal, welche Haarfarbe er hat, welche Sprache sie spricht, woran man glaubt.“ So weit, so gut. Dafür würde ich mich auch einsetzen. Dass diese Sätze aber als Einleitung für ein explizit anti-migrantisches Manifest genutzt werden, stimmt schonmal auf die Heuchelei ein, die folgen wird. Denn inhaltlich sind tatsächlich ein paar gute Punkte dabei: Gleichberechtigung für Frauen und queere Menschen, Versammlungsfreiheit, Respekt und Toleranz. Das Problem ist der Rahmen, der so tut als sei das für uns Deutsche selbstverständlich und als würden diese Werte ausschließlich von Migrant:innen missachtet und bedroht werden.
Da ist zum Beispiel Punkt 28: „Frauen, die fremdgehen, werden nicht verstoßen und schon gar nicht verprügelt oder gar gesteinigt.“ Ja, klar, aber in Deutschland wird jeden dritten Tag eine Frau ermordet – und das von Männern jedes gesellschaftlichen und kulturellen Hintergrundes. Oder wie ist das mit den Messern, die laut Punkt 34 „bei uns in die Küche und nicht in die Hosentasche“ gehören. Mal abgesehen davon, dass die häufigsten Vornamen unter Messerstechern in Deutschland Christian, Alexander oder David sind, tut die Bild-Zeitung hier so, als seien kriminelle Taten Einzelner bezeichnend für einen Kulturkreis. Auf diesem Niveau könnte ich dann entsprechend erwidern: „Die Deutschen nutzen nämlich lieber Schusswaffen für ihre rassistischen Terroranschläge oder zünden auch mal eine Asylunterkunft an.“
Manifest der weißen Bubble
Witzig ist auch, dass Punkt 32 ganz großzügig verkündet: „Frauen entscheiden – wie Männer – selbst darüber, wie sie sich anziehen (...)“. Punkt 19 hingegen verordnet selbigen Frauen im Schwimmbad einen Bikini oder Badeanzug zu tragen, Punkt 6 legt fest, dass sie sich nicht verhüllen dürfen. Dazu, wie Männer sich kleiden dürfen, habe ich übrigens nichts gefunden. Dafür scheint die Bild-Redaktion nicht die zuständige Autorität zu sein.
Ähnlich absurd ist der Hinweis darauf, dass viele Deutsche Schweinefleisch essen. Außer natürlich „fast 10 Millionen Vegetarier oder Veganer“, für die die Bild vollstes Verständnis zeigt. Dieser Punkt richtet sich offensichtlich gegen das Verbot von Schweinefleisch im muslimischen Glauben. Leider haben die Redakteur:innen vergessen, dass auch im Judentum kein Schweinefleisch erlaubt ist. Oder vielleicht wussten sie es auch gar nicht, weil sie keine Jüdinnen und Juden kennen und sie auch nicht – wie das Manifest behauptet – schützen wollen. Vielmehr interessieren Jüdinnen und Juden die Bild-Redaktion nur, wenn sie sie als Vorwand für antimuslimische Hetze missbrauchen können.
Dass das Manifest aus der Sicht von weißen Menschen in einer weißen Bubble geschrieben wurde, zeigt sich besonders deutlich an Punkt 11: „Wir verstehen die Polizei als „Freund und Helfer“. Das kann nur von jemandem kommen, der noch nie mit Racial Profiling konfrontiert war oder auch nur Anstoß genommen hat an der Tötung von Oury Jalloh, Mohamed Lamine Dramé, Qosay Khalaf und vielen anderen durch die deutsche Polizei. Ganz zu schweigen von mehrfach aufgedeckten rechtsextremen Chatgruppen, in denen deutsche Polizist:innen Nazi-Symbole austauschten.
Abschottung nach außen, Verrohung im Inneren
Das Manifest ist eigentlich ein Musterbeispiel dafür, was „Othering“ bedeutet. Der Begriff kommt vom englischen „other“ für „anders“ und bezeichnet, dass eine Gruppe sich selbst definiert, indem sie sich von einer anderen, vermeintlich fremden Gruppe abgrenzt. Alle negativen Eigenschaften werden der fremden Gruppe zugeschrieben, sodass die eigene Gruppe als problem- und schuldfrei betrachtet werden kann. Othering wird in der postkolonialen Theorie oft verwendet, um die Selbstwahrnehmung des Globalen Nordens im internationalen Machtgefüge zu beschreiben. Schon während der Kolonialzeit grenzten sich die weißen Kolonialherren von den Kolonisierten ab, indem sie diese als barbarisch, wild, schmutzig, irrational bezeichneten. Sie selbst konnten dadurch als zivilisiert, rein, gerecht und vernünftig dastehen. Dieser Mechanismus findet sich bis heute in der Überheblichkeit des Globalen Nordens gegenüber dem Rest der Welt.
Auch die Bild-Zeitung hat sich dieser realitätsfernen und selbstverherrlichenden Weltsicht in ihrem Manifest ganz hingegeben. Und auch wenn nicht jede Provokation dieses Hetzblatts eine Reaktion verdient, war es mir wichtig über diese zu schreiben, weil sie nur ein weiterer Ausdruck eines sehr gefährlichen Trends in diesem Land ist. Deutsche Politiker:innen versuchen seit Jahren alle Probleme auf Migrant:innen abzuwälzen, so zu tun als seien Frauenhass, Antisemitismus oder Kriminalität importierte Probleme. Sie schüren Angst und Hass gegen Migrant:innen, um immer mehr Abschottung nach außen zu rechtfertigen. Dabei wurden mehr als 80 Prozent der antisemitischen Straftaten 2022 von Rechtsextremen begangen. Und auch die rassistischen Vornamenabfragen der AfD haben bis heute nicht das erwünschte Ergebnis gebracht.
Das Ironische an der Sache ist, dass die Bild-Redaktion mit ihrem Manifest glaubt, vom Höhepunkt der Zivilisation herab eine humane und fortschrittliche Botschaft zu verkünden. Sie merkt nicht einmal, dass sie ihre eigene Menschlichkeit, Weltoffenheit und Zivilisiertheit stattdessen verliert. Das Buch „Hinter Mauern“ von Volker M. Heins und Frank Wolff beschreibt diesen Vorgang sehr gut. Die Autoren erklären, wie eine sich abschottende Gesellschaft im Inneren verroht. Um vermeintlich ihre Demokratie zu schützen, wird sie immer undemokratischer und rückwärtsgewandter. „Der Rassismus ist ein Aspekt der ins Innere der Gesellschaft ausgreifenden Grenze,“ heißt es dort. Sicher ist davor letztendlich keine Minderheit, denn diese Grenze „kann sich schnell verschieben und unterscheidet messerscharf zwischen denen, die willkommen sind, und denen, die es nicht sind.“ Gerade in Deutschland sollten wir uns vor der Ausbreitung dieser Grenze besonders in Acht nehmen.
Mehr Arbeiten der Illustratorin Zaide Kutay finden sich auf ihrem Instagram-Account.