Der tunesische Präsident will durch eine Gesetzesänderung verhindern, dass ausländische Geldgeber:innen die zivilgesellschaftlichen Organisationen beeinflussen. Ist das gerechtfertigt? Die Meinungen vor Ort gehen auseinander.
Die tunesische Zivilgesellschaft blickt seit Jahresbeginn besorgt auf Präsidenten Kais Saieds jüngstes Vorhaben. In einer Presseerklärung am 24. Februar 2022 bezeichnete Saied die zivilgesellschaftlichen Organisationen in Tunesien als „verlängerten Arm ausländischer Kräfte“: Mit Geld würden sie versuchen die Kontrolle über das tunesische Volk zu erlangen. Zeitgleich kündigte der Präsident die Überarbeitung der gesetzlichen Verordnung Nr. 2011-88 an, auch Dekret 88 genannt.
Das Dekret aus dem Jahr 2014 regelt die Gründung und Arbeit von Vereinen als eine häufig von zivilgesellschaftlichen Initiativen gewählte Rechtsform. Der erste Gesetzesentwurf legte die stärkere Kontrolle der Finanzierung und Gründungsprozesse von Vereinen fest. In der aktuellen Debatte um den Gesetzesentwurf stellen sich dabei drei zentrale Fragen: Welche politischen Auswirkungen hätte die Gesetzesänderung? Versucht Kais Saied die Zivilgesellschaft als Gegenmacht zu schwächen? Und was ist von Kais Saieds Anschuldigungen zu halten, die Zivilgesellschaft sei ein Instrument ausländischer Einflussnahme?
Präsident Saieds politische Agenda
Die Debatte steht im Kontext von weitreichenden und teils kontroversen politischen Umwälzungen, die das tunesische Staatsoberhaupt seit Juli 2021 vorgenommen hat. Kais Saied rief den nationalen Notstand aus, setzte die Regierung ab und fror das Parlament ein. Im Februar diesen Jahres hatte er zudem den obersten Justizrat außer Kraft gesetzt und Anfang Juni folgte die Entlassung von 57 Richter:innen. Nun ist zum Monatsende die Veröffentlichung eines ersten Verfassungsentwurfs für das Verfassungsreferendum vorgesehen.
Seit bald einem Jahr befürworten weite Teile der Bevölkerung Saied und seine Maßnahmen: Laut einer Umfrage von Emrhod Consulting stehen siebzig Prozent hinter dem Präsidenten. Sie erachten die Agenda Saieds als längst überfällige Reformschritte eines korrupten Politik- und Justizsystems, das auch nach der Revolution keine Besserung zeigte. Zudem erhoffen sich viele Tunesier:innen einen Ausweg aus der Wirtschaftskrise, die sich seit der Pandemie weiter zugespitzt hat. Nur eine Minderheit sieht die politischen Entwicklungen kritisch. Dazu gehören Vertreter:innen der Zivilgesellschaft, die abgesetzten Parlamentarier:innen und deren Anhänger:innen.
Die Kritiker:innen befürchten eine weitere Schwächung der Gewaltenteilung. Die Partei Ennahda des ehemaligen Parlamentspräsidenten hat deshalb öffentlichkeitswirksam Position gegen Kais Saied bezogen. Breite Protestbewegungen auf der Straße gibt es zurzeit jedoch nicht: Die Zivilgesellschaft positioniert sich mit Statements und Analysen.
Intransparenter Regierungsstil
Vor Saieds Pressekonferenz, in der er die Zivilgesellschaft als Handlangerin ausländischer Akteur:innen bezeichnete, sickerte Mitte Februar schon ein Gesetzesentwurf an die tunesische Presse durch – ohne offiziell vorgestellt worden zu sein. Der Entwurf sieht deutliche Restriktionen für Finanzierungsmöglichkeiten aus dem Ausland vor und verschärft die Regularien für die Gründung von zivilgesellschaftlichen Organisationen.
Nach aktueller Rechtslage kann jede beliebige Person mit Wohnsitz in Tunesien einen Verein gründen. Laut des neuen Gesetzesentwurfs wäre das Büro der Regierungschefin zukünftig bemächtigt über die Zulassung eines Vereins entscheiden – unter Prüfung von Kriterien wie Gewaltfreiheit und Rechtsstaatlichkeit. Das Magazin Nawaat sieht darin die Gefahr einer restriktiven Zulassungspolitik neuer NGOs, wenn die Deutungshoheit wie in diesem Entwurf bei der Regierung liegen sollte. Auch die unabhängige Kontrolle durch Gerichte scheint in Anbetracht der letzten Ereignisse unwahrscheinlich.
Gleichzeitig ist unklar, ob der Gesetzesentwurf überhaupt noch aktuell ist. Politische Intransparenz ist ein Merkmal Saieds: „Es gibt keine demokratische Debatte über neue Gesetze oder Gesetzesänderungen, diese werden bekannt gegeben und umgehend angewendet“, beschreibt das Onlinemagazin Legal Agenda den Regierungsstil des tunesischen Präsidenten. Diese Ungewissheit erschwert der Zivilgesellschaft die demokratische Einflussnahme auf die Gesetzgebung erheblich und hebelt damit das demokratische Gesetzgebungsverfahren aus.
Dämonisierung der Zivilgesellschaft
Lässt sich das Dekret 88 trotz mangelnder Rechtsstaatlichkeit rechtfertigen? Die Standpunkte gehen auseinander. Zivilgesellschaftsnahe Onlinemagazine wie Nawaat und Inkyfada widersprechen Saieds Sichtweise vehement. Noujoud Rejbi, eine Journalistin von Inkyfada, spricht im Interview mit dis:orient von einer „Dämonisierung der Zivilgesellschaft“. Das Onlinemagazin Inkyfada gehört zu dem Verein Al Khat, der sich aus eigenen Mitteln und Projektgeldern aus Europa finanziert. Rejbi ist damit zwar nicht frei von Eigeninteresse, aber sie betont, dass etwaige Projektgelder und -vorgaben sie in ihrer Arbeit und Themensetzung nicht beeinflussten.
Eine ähnliche Auffassung teilt ein zivilgesellschaftlicher Mitarbeiter aus dem Bereich der politischen Bildung, der aufgrund der unvorhersehbaren politischen Lage lieber anonym bleiben will: „Gerade seit der Pandemie hat sich die Beziehung mit Geldgeber:innen weiter entspannt. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es Versuche von Einflussnahme gibt. Dennoch lassen wir als NGO und auch alle NGOs, die ich kenne, jegliche Art von Einflussnahme nicht zu.“
Indirekte Einflussnahme durch das Ausland?
Ahmed Dridi, ein in Tunis lebender Regisseur, macht wiederum eher schlechte Erfahrungen mit der Einflussnahme durch ausländische Geldgeber:innen. Diese bestimmen durch die Vorgabe von Themen, die politische Agenda Tunesiens indirekt mit: „Wenn ich einen Film über die Klimakrise oder Feminismus machen wollen würde, dann hätte ich gute Chancen auf eine Finanzierung, aber bei anderen Themen nicht. Mein Filmprojekt dreht sich hauptsächlich um das Thema Armut, das ist gerade nicht en vogue.“
Auch der private, säkular-konservative Radiosender Shems FM steht der tunesischen Zivilgesellschaft kritisch gegenüber. Der Sender argumentiert, dass die zivilgesellschaftlichen Strukturen zur Finanzierung von politischen Parteien, terroristischen Organisationen und Geldwäsche missbraucht werde. Gerade dieser Einwand findet Anklang in der vorherrschenden Desillusion hinsichtlich des politischen Systems und der ehemaligen Regierungspartei Ennahda.
Dridi wünscht sich außerdem eine präzisere Regelung der Finanzierungen: „Es steht fest, dass sowohl politische Parteien als auch Terrororganisationen die großzügigen Spielräume des Dekrets 88 genutzt haben.“ Hier gehe es Dridi vor allem darum, dass Tunesien nicht wieder zu den Hauptherkunftsländern für Dschihadist:innen werde wie es zu Hochzeiten des IS der Fall war.
Der Blick auf die Zahlen relativiert jedoch diese Darstellungen: Laut Legal Agenda ist allein 45 von rund 20.000 registrierten zivilgesellschaftlichen Organisationen Geldwäsche nachzuweisen. Außerdem argumentieren die Onlinemagazine Inkyfada und Legal Agenda, dass die Bekämpfung von Geldwäsche, Terrorismus oder Korruption nicht durch die Beschränkung der zivilgesellschaftlichen Arbeit passieren solle, sondern durch effektivere staatliche Mechanismen, die diese Probleme an der Wurzel packen. Die Vereinsfreiheit sei eine der wichtigsten Errungenschaften der tunesischen Jasmin-Revolution.
Wirtschaftliche Vorteile, demokratische Ideale
Das Gesetzesprojekt könnte ebenfalls wirtschaftliche Folgen nach sich ziehen: Momentan generieren Arbeitsplätze in der Zivilgesellschaft und die damit verbundenen Sektoren wie Gastronomie oder Fahrdienste drei bis fünf Prozent des tunesischen Bruttoinlandsprodukts. Zwei Fünftel der zivilgesellschaftlichen Organisationen in Tunesien gaben in einer Studie von US-Hilfsorganisation USAID vom Jahr 2018 an, komplett oder teilweise von ausländischer Finanzierung abzuhängen. Fraglich bleibt, welche Gewichtung ökonomische Argumente in demokratischen Aushandlungsprozessen erfahren sollten.
Bemerkenswert ist das Weiterbildungs- und Freizeitangebot vonseiten der tunesischen Zivilgesellschaft, die somit einen gesellschaftlichen Bildungs- und Teilhabeauftrag erfüllt. Zudem betont Noujourd Rejbi: „In einem Staat, der es nicht schafft, die grundlegendsten Dinge für seine Bevölkerung bereitzustellen, braucht es eine starke Zivilgesellschaft – finanziell und personell. Was wird sonst zum Beispiel aus Opfern von häuslicher Gewalt?“
Der eigentliche Wert der Zivilgesellschaft liegt also an der Basis von demokratischen Systemen: den niedrigschwelligen Teilhabe - und Gestaltungsmöglichkeiten in Politik und Gesellschaft. Gleichzeitig beschreibt die Zivilgesellschaft einen wichtigen Gegenpol zum politischen System.
In diesem Zusammenhang ist es fraglich, wie nachhaltig ein Zivilgesellschaftssystem ist, das größtenteils aus dem Ausland gefördert ist. Deutschland beispielsweise, das neben Frankreich und den USA zu den wichtigsten Geldgebern für Tunesien zählt, hat seine Unterstützung für die tunesische Zivilgesellschaft deutlich reduziert. 2012 flossen 30 Millionen Euro im Rahmen der sogenannten Ta’ziz-Partnerschaft in „die zivilgesellschaftliche Partizipation und Vernetzung“. Laut Auswärtigem Amt sei der Betrag 2021 mit 16.605 Millionen Euro fast um die Hälfte geschrumpft.
„Auch wegen der politischen Situation haben Geldgeber:innen ihre Finanzierung gestoppt oder verringert. Für die lokalen NGOs ergibt sich somit das Problem, dass wir immer noch viele sind, uns aber um deutlich weniger Geld bewerben. Das ist natürlich für die einzelnen NGOs gerade mit Hinblick auf Arbeitsplätze eine schwierige Situation“, erzählt ein Mitarbeiter einer tunesischen NGO, die im Bereich politische Bildung tätig ist.
Eine dekoloniale Debatte für die Zukunft?
Es ist bedenklich, wenn ausländische Geldgeber:innen die Auszahlung von Projektgeldern daran knüpfen, dass die Nichtregierungsorganisationen zu bestimmten Themen arbeiten. Denn diese Form der Einflussnahme trägt auch paternalistische Züge. Koloniale Denk- und Machtstrukturen verhindern eine nachhaltige internationale Zusammenarbeit auf Augenhöhe, wie sie vom Auswärtigen Amt und dem BMZ (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) seit Jahren propagiert wird. Die ausländischen Gelder seien ein Umverteilungsmechanismus von Wohlstand von Nord nach Süd, argumentiert der Verein Afrique-Europe-Interact.
Es ist also ein schmaler Grat, auf dem sich ausländische Finanzierungen und deren Einflussnahme bewegen. Auch andere Länder in WANA wie Ägypten oder Marokko haben aus ähnlichen Gründen Einschränkungen für ausländische Finanzierungen vorgenommen. Dass ein gewisser Grad an Einfluss vorliegt, wenn ausländische Gelder in tunesische NGO-Projekte fließen ist nicht von der Hand zu weisen, insbesondere wenn die Ausschreibungen dieser Gelder mit bestimmten Kriterien einhergehen.
Zivilgesellschaftliche Organisationen als alleinige Nutznießer ausländischer Gelder darzustellen, verzerrt jedoch das Bild. Als Beispiel: Zwischen 2011 und 2016 finanzierten nur 3,9 Prozent des EU-Budgets für Tunesien die zivilgesellschaftliche Arbeit. Der tunesische Staat ist also der weitaus größere Empfänger ausländischer Gelder. Angesichts Kais Saieds zahlreichen politischen Eingriffen zu Lasten der Gewaltenteilung ist die Sorge der Zivilgesellschaft um ihre Freiheit und ihre Möglichkeit der freien Entfaltung daher verständlich.