Der Friedensnobelpreis für das „Quartett des nationalen Dialogs“ in Tunesien kommt zu einem Zeitpunkt, an dem das Land zunehmend gegen islamistischen Terror kämpft – ein Kampf, der den ohnehin stockenden Demokratisierungsprozess gefährdet. Viele Tunesierinnen und Tunesier sehen in dem Preis auch eine Mahnung an die Regierenden, den demokratischen Weg weiter zu gehen. Von Astrid Schäfers
Zum ersten Mal ist ein Friedensnobelpreis nach Tunesien gegangen. Für viele kam die Auszeichnung für das „Quartett des nationalen Dialogs“ überraschend. Es umfasst den Gewerkschaftsverband UGTT, den Arbeitnehmerverband UTICA, die tunesische Menschenrechtsliga LTDH und den nationalen Anwaltsverein ONAT. Das Nobelpreiskomitee verlieh den vier Organisationen den Preis dafür, dass sie in den Konflikten zwischen der übergangsweise regierenden islamistischen Partei Al-Nahda und der inner- und außerparlamentarischen Opposition 2013 einen Dialogprozess anregten und in diesem erfolgreich vermittelten. Dieser Dialogprozess ermöglichte wichtige Schritte der Demokratisierung: Die Verfassung konnte abschließend ausgearbeitet und verabschiedet werden. Auf ihrer Grundlage fanden im Dezember 2014 die ersten freien Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Seitdem regiert in Tunesien die Partei Nidaa Tounes, mit Präsident Béji Caïd Essebsi an der Spitze.
Mit dem Friedensnobelpreis für Vertreter tunesischer Rechtsanwälte, Menschenrechtler, von Arbeitnehmern und Arbeitsgebern erfährt auch die tunesische Zivilgesellschaft Wertschätzung in ihrem Engagement für Demokratie und Gerechtigkeit. So wies zum Beispiel der franko-tunesische Krisen- und Strategieberater Karim Guelletay am Tag der Preisverleihung zu Recht darauf hin, dass der „nationale Dialog“ überhaupt erst wegen der massiven Proteste der Bevölkerung gegen die damalige Al-Nahda-Regierung zustande kam: „Wir sollten nicht vergessen, dass der nationale Dialog die Frucht der viermonatigen Mobilisierung der Zivilgesellschaft vor der Verfassungsgebenden Versammlung ist“.
Den Protesten sind damals die politischen Morde an den linken Oppositionspolitikern Chokri Belaid und Mohamed Brahmi 2013 voraus gegangen, die in der Bevölkerung Wut und Entrüstung auslösten. Viele machten die Partei Al-Nahda für die Morde verantwortlich. Die Demonstrierenden forderten den Rücktritt der Regierung, die Aufnahme von Freiheitsrechten in die Verfassung und Neuwahlen. Aus Protest verließen derweil immer mehr Mitglieder linker Oppositionsparteien die verfassungsgebende Versammlung, bis die Arbeit an der Verfassung schließlich vollständig zum Erliegen kam. Unter dem Eindruck der anhaltenden Massenproteste in Tunesien und des Sturzes der Muslimbrüder in Ägypten im Juni 2013 willigte Al-Nahda schließlich in einen Dialog ein.
Grote fordert politische und wirtschaftliche Unterstützung Tunesiens von Europa
Die Freude über den Nobelpreis in Tunesien war aber nur von kurzer Dauer. „In dieser schwierigen Zeit, in der die Demokraten in Tunesien sehr müde sind, gibt uns der Preis Hoffnung, aber er löst nicht die Probleme“, sagte Zakia Hamda gegenüber Alsharq. Hamda gehört der im Parlament nicht vertretenen linken Oppositionspartei Al-Massar an. „Es stimmt, wir haben eine Verfassung. Wir haben demokratische Wahlen gehabt, in einer Situation, in der Tunesien kurz vor einem Bürgerkrieg stand. Aber wir werden immer noch vom Terrorismus bedroht und gleichzeitig von dem alten mafiösen Machtsystem von Ben Ali. Denn das gibt es noch,“ mahnte sie. Für den Staatsrechtler Rainer Grote ist der Nobelpreis derweil ein Appell an die internationale Gemeinschaft und die Europäer, den Demokratisierungsprozess Tunesiens wirtschaftlich und politisch zu unterstützen. Diese Unterstützung müsse kontinuierlich sein, so Grote im Deutschlandfunk, und nicht erst dann einsetzen, „wenn es zu spät ist“.
„Dieser Nobelpreis zeigt, dass Tunesien ein Land des Friedens ist“, erklärte indes der Präsident der Menschenrechtsliga (LTDH), Abdessatar Ben Moussa, am 16. Oktober im französischen Fernsehsender France24. Ben Moussa zufolge kommt der Nobelpreis zu einem entscheidenden Zeitpunkt und übermittelt mehrere Botschaften: Zum einen zeige er, dass der Dialog zwischen den politischen Parteien wichtig sei, vor allem, weil es Differenzen bei der Einigung gebe. Auch sei er eine Botschaft an angrenzende Länder wie Libyen, so der Menschenrechtler. „Die Investoren können kommen, und auch die Touristen“, betonte Ben Moussa.
70 Prozent der tunesischen Hotels wollen schließen
Die Anschläge im Musée Bardo in Tunis mit 21 Toten im März und in Sousse mit 39 Toten im Juli, haben gezeigt, welche Gefahr für Tunesien von der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) ausgeht. Auch machten sie deutlich, wie unzureichend die Sicherheitsvorkehrungen an öffentlichen Orten waren. Zudem gibt es Probleme im Sicherheitsapparat, die nicht zuletzt auch mit Konflikten und nicht durchgeführten Reformen des Innenministeriums zusammen hängen. Um weitere Anschläge zu verhindern, hat die Regierung über diesen Sommer den Ausnahmezustand verhängt, der allerdings die neu gewonnenen Freiheiten einschränkt. „Der Terrorismus bedroht die ganze Welt. Er beschränkt sich nicht auf ein bestimmtes Gebiet. Er greift überall an, selbst Frankreich wurde angegriffen“, sagte Ben Moussa. Aber man könne den Terrorismus nicht bekämpfen, indem man beispielsweise Demonstrationen verbiete. „Die beste Art und Weise, den Terrorismus zu bekämpfen, besteht darin, die Menschenrechte zu respektieren.“
Der kriselnde Tourismus brach infolge der Anschläge komplett ein. Viele Fluggesellschaften stornierten zunächst sämtliche Flüge und schränkten dann ihre Flugangebote nach Tunesien stark ein. „70 Prozent der Hotels wollen jetzt schließen,“ erklärte Houssem Ben Azouz, Vorsitzender der Vereinigung der tunesischen Tourismusunternehmer bei einer Pressekonferenz am 25. Oktober. Die Einnahmen aus dem Tourismus machten bisher sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Die Arbeitslosigkeit, die zwischen 2013 und 2015 noch stagnierte, stieg indes wieder an, weil viele Stellen im Tourismusbereich gestrichen wurden. Doch spielt insbesondere die hohe Jugendarbeitslosigkeit und die Armut in den weiterhin benachteiligten Regionen radikalen Islamisten in die Hände, die versuchen, frustrierte Jugendliche für ihre Ziele zu gewinnen. „Solange es Armut gibt, bleibt die Demokratie anfällig. Die Revolution in Tunesien ist von Jugendlichen und Arbeitslosen gemacht worden. Ihre Probleme sind bisher nicht gelöst worden. Deswegen müssen wir eine Lösung für die wirtschaftlichen Probleme finden“, so der Menschenrechtler Ben Moussa.
Demonstrationen gegen Straffreiheit für korrupte Beamte und Geschäftsleute
Für eine weitere Demokratisierung des Landes ist eine klare wirtschaftliche Strategie notwendig, die auf die Förderung nachhaltiger Wirtschaftssektoren setzt, wie etwa regenerativer Energien und ökologischer Landwirtschaft. Produkte wie Bioöle und Biodatteln sind weltweit gefragt. Ebenso erleben traditionelle Produkte, wie etwa handgewebte Kleidung und handgeknüpfte Teppiche, aber auch traditionelle Bautechniken, wie etwa der Lehmbau, heute eine Renaissance. Reformen im Steuerwesen, ein investorenfreundliches Klima und staatliche Projekte könnten die notwendigen Voraussetzungen für eine Stärkung dieser Sektoren und damit Arbeitsplätze schaffen. In der tunesischen Wirtschaft verhindert aber die immer noch hohe Korruption eine Demokratisierung. Laut Transparency International rangierte Tunesien 2014 immer noch auf Platz 79, kurz vor Benin, Bosnien Herzegovina und El Salvador. Die Bekämpfung der Korruption ist aber nur mit einer unabhängigen Justiz möglich.
Doch derzeit sorgt ein Gesetzentwurf für Ärger, der Straffreiheit für korrupte Beamte, Geschäftsleute und Steuerflüchtlinge vorsieht. Er bezieht sich auf die Regierungszeit des 2011 gestürzten Präsidenten Zinedine Ben Ali sowie die Periode von 2013-14, als die Troika aus den Parteien Al-Nahda, Ettakol und die CPR („Kongress für die Republik“) übergangsweise regierte. Gegner werfen der Regierung vor, mit dem Gesetz die Aufarbeitung der Diktatur durch die Wahrheitskommission (Instance Vérité et Dignité, IVD) zu sabotieren. Denn laut der Verfassung von 2014 sollte diese Kommission auch für die Aufklärung von Wirtschaftsverbrechen zuständig sein. Stattdessen demonstrierten im September täglich einige Dutzend Menschen unter dem Motto „Vergeben wird nur vor Gericht“ vor dem Stadttheater in Tunis. Doch aufgrund des immernoch geltenden Ausnahmezustands löst die Polizei die meisten Demonstrationen gegen die Wirtschaftsamnestie schnell auf.
Der Gesetzentwurf, den Präsident Béji Caïd Essebsi indes im Parlament eingebracht hat, setzt statt Gerichtsverfahren auf Straffreiheit bei Selbstanzeige und der Rückzahlung des veruntreuten Geldes. Sie sollen sich selbst anzeigen und das veruntreute Geld zuzüglich fünf Prozent pro Jahr der Unterschlagung zurückzahlen. „Es gibt viele Geschäftsleute, die in der Lage wären, am Aufschwung Tunesiens mitzuwirken. Aber sie haben Angst,“ versuchte Essebsi laut einem Bericht der Deutschen Welle das zaghafte Vorgehen der Regierung zu erklären. Der Präsident setzt darauf, dass durch freiwillige Selbstanzeige und Rückzahlungen Geld in die leeren Staatskassen gespült und Investitionen gefördert werden. Eine junge Demonstrantin bezeichnete das Gesetz gegenüber der DW dagegen als Rückschritt „zum alten mafiösen System“. Ahmed Sedlik, ein Abgeordneter der Linken Volksfront, sprach derweil „von der Rückkehr der Korrupten der Diktatur“. Für ihn steht der Entwurf des Gesetzes „zur wirtschaftlichen Aussöhnung“ im klaren Widerspruch zur Aufarbeitung der Vergangenheit und zur Verfassung Tunesiens.
Tunesischer Justizminister entlassen
Was die Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen unter der Präsidentschaft von Habib Bourguiba (erster Präsident nach der Unabhängigkeit von 1957-1987) und Zinedine Ben Ali (1987-2011) durch die Wahrheitskommission betrifft, so hat diese im ersten Jahr ihres vierjährigen Mandats keine nennenswerten Fortschritte gemacht. Im Mai schlug das Réseau Tunisien pour la Justice Transitionnelle (RTJT) deshalb Alarm. Das Netzwerk von Nichtregierungsorganisationen forderte die Kommission auf, die Einrichtung regionaler Büros zu beschleunigen und gemeinsam mit den Opfern von Menschenrechtsverbrechen eine Kommunikationsstrategie zu entwickeln.
Zwar haben bereits mehrere tausend Opfer ihre Fälle eingereicht, doch fanden bisher weder die fürs Frühjahr angekündigten öffentlichen Anhörungen statt, noch wurden Fälle an die Justiz weitergereicht. Sechs der fünfzehn Kommissionsmitglieder sind bereits zurückgetreten oder wurden entlassen. Auch gab es Kritik am Führungsstil der Vorsitzenden der Kommission, Sihem Ben Sedrine. Diese fürchtet, dass ihr mit dem neuen Gesetz die Hälfte ihrer Fälle entzogen wird. In einem Interview mit Quantara vom Mai 2014 sagte sie: „Was wir brauchen, ist eine wirkliche nationale Versöhnung mittels juristischer Aufarbeitung der Vergangenheit. Die Aufschiebung dieses Prozesses hat die Entwicklung der politischen Situation in Tunesien negativ beeinflusst.“
Aber nicht nur die Aufarbeitung der Diktatur kommt nicht voran. Seit dem politischen Umbruch von 2011 ist das teilweise noch von Militärgerichten geprägte Rechtssystem kaum reformiert wurden. Immer noch kommt es daher vor, dass Zivilisten vor Militärgerichte gestellt werden. Doch die Chancen für umfassende Reformen im Justizsystem stehen eher schlecht: Am 20. Oktober wurde Justizminister Mohamed Salah Ben Aissa von Regierungschef Habib Essid entlassen. „Unser Justizminister, der offenste Minister für Reformen, ist schließlich entlassen worden“, twitterte daraufhin Farah Hached, eine tunesische Juristin, die nach der Revolution 2011 die Nichtregierungsorganisation Labo` Démocratique gründete.
Notre ministre de la Justice, le ministre le plus ouvert aux réformes, a finalement été limogé.
— Farah Hached (@watchingtunisia) 20. Oktober 2015
Hintergrund für Ben Aissas Entlassung ist, dass er einen Gesetzentwurf ablehnt, der vorsieht, das Verfassungsgericht abzuschaffen. Außerdem trat der ehemalige Professor für öffentliches Recht indes für die Abschaffung eines Gesetzes ein, das Homosexualität unter Strafe stellt. Ben Aissa argumentierte, dass dieses Gesetz im Widerspruch zur neuen Verfassung stehe, die den Schutz des Privatlebens der Bürger und ihrer Integrität garantiert. „Nichts kann die Beeinträchtigung des Privatlebens rechtfertigen“, erklärte der Ex-Justizminister demnach im tunesischen Radiosender Shems FM.
Doch die Demokratie in Tunesien sollte nicht nur in der neuen Verfassung verankert sein. Diese sieht den Vorrang des Rechts vor, garantiert Freiheits- und Menschenrechte und verbietet soziale Diskriminierung sowie Diskriminierung aufgrund bestimmter regionaler Herkunft. Ihre Umsetzung, einschließlich der Einigung über die Rolle und Funktion des Verfassungsgerichts, steht aber noch aus. Transparente und faire Wahlen seien ja schön und gut, aber das sei noch lange nicht genug, um aus Tunesien einen demokratischen Staat zu schaffen, sagte auch Hasna Ben Slimane, berichterstattende Richterin am tunesischen Verwaltungsgericht, der Journalistin Sarah Mersch. „Legitime politische Kräfte sind wichtig, aber wir brauchen eine weitere Kraft. Die Justiz muss eine Wächterrolle einnehmen.“ Die notwendigen Reformen für eine solche Rolle sind aber bisher blockiert worden.
Tunesien steht daher weiter vor gewaltigen Herausforderungen. Im Demokratisierungsprozess müssen entscheidende Schritte noch gegangen werden: Institutionen müssen geschaffen, reformiert und demokratisiert werden. Eine unabhängige Justiz fehlt ebenso wie Investitionen und Arbeitsplätze, insbesondere für die vielen Studienabgänger. Die wird auch der Friedensnobelpreis nicht schaffen können. Aber er kann Mut machen für Schritte zur weiteren Demokratisierung des Landes.