05.03.2018
Arbeitsunfälle in der Türkei: Ein Massengrab unter dem Flughafen
Arbeiter blockieren ein Verwaltungsgebäude an der Flughafenbaustelle. Foto: İnşaat İş (mit freundlicher Genehmigung)
Arbeiter blockieren ein Verwaltungsgebäude an der Flughafenbaustelle. Foto: İnşaat İş (mit freundlicher Genehmigung)

Auf der Baustelle des dritten Flughafens in Istanbul sind laut einem Medienbericht bisher 400 Arbeiter durch unzureichende Sicherheitsvorkehrungen und Arbeitsbedingungen ums Leben gekommen. Nur ein Beispiel für die schlechte Lage der Arbeiterrechte und den geringen Einfluss der Gewerkschaften in der Türkei.

Der dritte Flughafen in Istanbul, dessen Eröffnung die türkische Regierung für Oktober 2018 plant, könnte der größte Flughafen der Welt werden. Er ist eines von vielen Megaprojekten, die in der AKP-Regierungszeit entstanden sind – und von der Opposition kritisiert werden. Der Gezi-Park und die dritte Bosporus-Brücke sind weitere bekannte Beispiele.

Geplant ist, dass der Flughafen pünktlich zum 95. Jubiläum der Republikgründung eröffnet wird. Deshalb arbeiten rund 31.000 Arbeiter unter Hochdruck an dessen Fertigstellung. Doch nun wurde bekannt, wie schlecht es um die Arbeitsbedingungen auf der Baustelle im Norden Istanbuls bestellt ist.

Zunächst behauptete das Arbeits- und Sozialministerium, es hätten seit Beginn der Bauarbeiten 2015 „nur“ 27 Arbeiter ihr Leben verloren. Dem widersprach Yunus Özgür, Sekretär der Gewerkschaft für Bauarbeiter İnşaat İş (Abkürzung für İnşaat İşçileri Sendikası, „Bauarbeiter Gewerkschaft“ - Red.). İnşaat İş ist zwar eine kämpferische, jedoch keine große Gewerkschaft mit einigen hundert Mitgliedern, da sie links geprägt und demnach nicht staatlich unterstützt ist, wie der Großteil der Gewerkschaften in der Türkei. Özgürs Informationen nach kommen wöchentlich drei bis vier Arbeiter auf der Baustelle durch Arbeitsunfälle ums Leben. Er betont, dass er den Begriff „Unfall“ ablehne, stattdessen nennt er es „Arbeitsmord“. Damit will er zeigen, dass es sich nicht um Schicksal oder Pech handelt, sondern dass es Verantwortliche für die gefährliche Arbeitssituation gibt, die zur Rechenschaft gezogen werden müssen.  

//bit.ly/2FfLRIB (mit freundlicher Genehmigung) Schild auf einer Demonstration nach dem Grubenunglück von Soma 2014: „Kein Unfall, kein Schicksal sondern M-O-R-D“. Foto: siyasihaber3.org (mit freundlicher Genehmigung)

 

Die Gewerkschaft İnşaat İş nimmt einen klaren politischen Standpunkt ein, ruft zur Organisierung im Bausektor auf und richtet sich sowohl gegen Leiharbeit als auch gegen die gewerkschaftsfeindliche Politik der Regierung. Ihr Slogan „Kurtuluş yok tek başına, ya hep beraber ya hiçbirimiz!“ („Keine Befreiung alleine – entweder alle oder keiner!“) steht für die Solidarität untereinander aber auch dafür, wie ernst es den Arbeitern ist.

Vertuschter Skandal

Dass die offizielle Statistik des Arbeits- und Sozialministeriums wohl nicht der Wahrheit entspricht, wurde von der regierungskritischen Zeitung Cumhuriyet aufgedeckt. Dort berichtete der Lastwagenfahrer C., der ebenfalls auf der Flughafen-Baustelle arbeitet, dass nicht nur 400 Arbeiter tödlich verunglückt sind, sondern auch Geld an ihre Familien gezahlt wurde, damit diese nicht an die Öffentlichkeit gehen. In welcher Höhe die Familien bezahlt wurden, ist nicht klar. 

Die meisten Arbeiter kommen aus den industrieschwachen anatolischen Gebieten des Landes, durch ihre Arbeit in Istanbul versorgen sie ihre Angehörigen. Diese sind auf jegliche Finanzierung angewiesen, auch wenn es sich hierbei um Schweigegeld handelt. Laut Mustafa Akyol, bis vor kurzem Vorsitzender von İnşaat İş, sei es aber auch die Verantwortung der Gewerkschaften, Kontakt zu den Familien aufzunehmen. Doch dazu müsste sich die Gewerkschaft erst einmal vor Ort organisieren. İnşaat İş ist dort mit gerade einmal 20 Mitgliedern die einzige Gewerkschaft.

Die Vertuschung von Arbeitsunfällen auf der Flughafenbaustelle ist kein Einzelfall. Die Türkei steht laut der International Labour Organisation (ILO) seit Jahren auf dem dritten Platz der Länder mit den meisten tödlichen Arbeitsunfällen. Erst im Mai 2014 starben 301 Bergleute im Braunkohlebergwerk von Soma durch einen Grubenbrand, das größte Grubenunglück der türkischen Geschichte. Erdogan versuchte damals, den Vorfall zu relativieren, indem auf einen ähnlichen Fall in England im 19. Jahrhundert verwies. Kurz zuvor hatte die Regierungspartei AKP einen Antrag der Oppositionspartei CHP im Parlament abgewiesen, in dem die Untersuchung vorheriger Unfälle in Soma gefordert wurde.

 

Protestierende Arbeiter blockieren das Administrationsgebäude auf der Baustelle des dritten Flughafens.  

Präventive Maßnahmen zur Arbeitssicherheit und strengere Kontrollen des Arbeitsplatzes hätten den Unfall vielleicht verhindern können. Soma ist eines von vielen Beispielen dafür, dass die Regierung nach den umfangreichen Privatisierungen ehemals staatlicher Firmen die Einhaltung von Sicherheitsvorkehrungen nicht ausreichend kontrolliert. Das Leben der Arbeiter wird hierbei dem Interesse am schnellen Profit untergeordnet.

Kein Streik dank Ausnahmezustand

Doch auch diejenigen, die keinen Arbeitsunfall erleiden, arbeiten meist unter höchst problematischen Bedingungen. Zu Beginn des Jahres verkündete die Arbeits- und Sozialministerin Jülide Sarıeroğlu die Höhe des festgesetzten Mindestlohns von 1.600 Lira. Das entspricht 340 Euro. Der Vorsitzende der Gewerkschaft DISK, Kani Beko, fordert die Anhebung auf 2300 Lira.

Im Vergleich zu 2017 liegt die Erhöhung um 7,9 Prozent noch unter der Inflationsrate von 13 Prozent und führt dadurch zu einem massiven Reallohnverlust. Was sich also wie eine Lohnerhöhung anhört, ist im Vergleich mit den steigenden Lebenshaltungskosten nicht einmal ausreichend, um den aktuellen Lebensstandard zu erhalten. Außerdem beziehen nur rund sechs Millionen Arbeiter Mindestlohn. Ein Drittel der Beschäftigten befindet sich in inoffiziellen Arbeitsverhältnissen und hat dadurch weder Anspruch auf einen festen Lohn noch auf Sozialversicherungen. Bei einer Erwerbstätigenzahl von rund 30 Millionen (alle Erwerbstätigen, die 15 Jahre oder älter sind) sind es 10 Millionen Menschen in ungeregelten Arbeitsverhältnissen.

Im Zuge der Privatisierungen und der Umsetzung neoliberaler Arbeitsmarktreformen entsteht außerdem ein großer Leiharbeitssektor, der alle Branchen umfasst. Dass sich gegen diese massiven Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen bisher nur wenig Widerstand regt, liegt nicht allein am geringen Organisationsgrad in progressiven Gewerkschaften. Es ist vor allem der politische Druck, der von der Regierung ausgeht und mit dem jeglicher Kampf um Arbeiterrechte verhindert werden soll.

Erdogan erklärte im Juli 2017 vor einer Konferenz ausländischer Investoren, dass er durch den Ausnahmezustand jegliche Gefahr eines Streiks gebannt habe. Unter dem Vorwand der „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ werden Proteste der Gewerkschaften unterbunden und zehntausende Angestellte, Akademiker, Beamte und Politiker ohne Recht auf Berufung entlassen. Ihnen wird meist vorgeworfen, Teil der Gülen-Bewegung zu sein, die für den Putschversuch am 15. Juli 2016 verantwortlich gemacht wird. Doch der hohe Anteil an Gewerkschaftsmitgliedern unter den Entlassenen ist verdächtig, denn die Gülen-Bewegung selbst ist nicht gerade für ihre arbeitnehmerfreundliche Politik bekannt.

Gemeinsam kämpfen – so kann es gehen

In dieser äußerst schwierigen Lage sticht ein Streik hervor, der nicht wie geplant stattfand und trotzdem siegte. Er könnte den Flughafenarbeitern als Vorbild dienen: Nachdem Ende 2017 kein neuer Tarifvertrag im Metallsektor zustande kam, rief die Gewerkschaft Birleşik Metal-İş rund 130.000 Arbeiter in über 170 Betrieben zum Streik auf. Dieser wurde zwar von der Regierung verboten, begann aber dennoch mit Arbeitsniederlegungen in einzelnen Betrieben, wo die Streikenden sogar ihre Solidarität mit den Streiks der IG Metall in Deutschland ausdrückten.  

Gewerkschaftsmitglieder von Birleşik Metal İş senden eine Solidaritätsbotschaft an den Streik der IG Metall im Betrieb von Mahle Stuttgart.

Kurz darauf konnte mit dem Arbeitgeberverband MESS ein neuer Tarifvertrag beschlossen werden, in dem die Forderungen nach einer Lohnerhöhung von 25 Prozent über zwei Jahre sowie Verbesserungen im Versicherungsstatus aufgenommen wurden. Dieses Ergebnis zeigt, dass Mut und die Entschlossenheit, mit vereinten Kräften zu kämpfen, auch in einer Phase starken politischen Gegenwinds zum Ziel führen kann.

Auch die Arbeiter auf der Flughafenbaustelle haben in den letzten Tagen aufbegehrt und gegen ihre Unterbringungs- und Versorgungszustände protestiert. Ihren Angaben zufolge wurden viel zu viele Menschen in die Mehrbettzimmer gezwängt, die Sanitäranlagen seien zudem verdreckt und die Shuttlebusse zwischen dem Arbeitsplatz und der Unterbringung unzureichend.

Als sie sich vor dem Gebäude der Verwaltung versammelten und ein spontan gegründetes Komitee ihre Anliegen vortrug, wurden sie zunächst bedroht und beschimpft. Am nächsten Abend wiederholte sich der Protest, dieses Mal jedoch in organsierterer Form mit gemeinsamen Slogans und einer kurzzeitigen Blockade des Verwaltungsgebäudes. Nicht nur über die Umsetzung ihrer Forderungen, die sie dadurch erreichten, freuten sich die Arbeiter. Auch das Gefühl, die eigene Stärke erfahren zu haben, mit der sie den Bau des gesamten Flughafens lahmlegen könnten, motivierte sie.

Die Erfahrung der Bau- und Metallarbeiter, sich durch gemeinsame Organisierung aus der Ohnmacht zu befreien und für ihre Rechte einzustehen, könnte eine Inspiration für die gesamte Gesellschaft der Türkei werden. Ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass ein Unfall nicht immer ein Zufall ist, sondern es Akteure gibt, die Verantwortung tragen, ist nicht nur im Industriesektor wichtig.

Artikel von Svenja Huck