Anlässlich des 60. Jahrestags des deutsch-marokkanischen Anwerbeabkommens hat Karima Benbrahim den Band „60 Porträts von Deutsch-Marokkaner:innen“ gestaltet. Ein Interview über Arbeitsmigration, koloniale Diskurse und FLINTA-Perspektiven.
Karima Benbrahim ist Vorsitzende des Vereins Zukunft Plus und Leiterin des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit in Nordrhein-Westfalen (IDA-NRW) mit Sitz in Düsseldorf. Im Rahmen des Projektes „Re:member Maghreb Diaspora” entstand ein Sammelband: Gemeinsam mit Mariam Belyaouaou hat Karima Benbrahim zum feministischen Kampftag am 8. März 60 Porträts deutsch-marokkanischer FLINTA-Personen[1] als Buch kuratiert. Der Band wurde bis jetzt nur im Rahmen des Projekts gedruckt, ein passender Verlag soll noch gefunden werden.
Karima, woher kam der Impuls, diese Perspektiven zu erzählen?
Das Projekt war anlässlich des 60. Jahrestags des Anwerbeabkommens mit Marokko geplant. Von dem Jubiläum wussten die wenigsten. Die wenigen Geschichten, die es zu marokkanischer Arbeitsmigration gibt, lauten so: Die Männer sind hergekommen, um zu arbeiten und die Frauen über den Familiennachzug – das stimmt so nicht.
60 Porträts für 60 Jahre Anwerbeabkommen – wessen Geschichten erzählen die Porträts?
Das sind Porträts von Sänger:innen, Menschen aus der Medienbranche, aus der Bildungsarbeit, eine Person führt eine Kochschule. Es geht um Schmerz, um Zugehörigkeit, um hybride Identitäten, gerade auch bei der zweiten Generation. Ich dachte immer, dass die zweite und dritte Generation das „Ich gehöre nicht hierher”- Gefühl überwindet. Aber gerade im Kontext von Hanau, rassistischer Gewalt und auch der Correctiv-Recherche von Anfang des Jahres haben viele Menschen dieses Gefühl nach wie vor.
Innerhalb der deutsch-marokkanischen Community gibt es eine große Vielfalt. Das Bewusstsein dafür fehlt sowohl innerhalb der Community als auch in der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Wir wollten bewusst eine Empowerment-Perspektive abbilden und positive Identifikationsmöglichkeiten schaffen – von und für FLINTA der zweiten Generation.
Wie habt ihr die Porträts ausgewählt und kuratiert?
Wir haben versucht, Menschen aus unterschiedlichen politischen Bewegungen und die marokkanische Heterogenität abzubilden: arabisch- und amazigh-sprachige, Schwarze und queere Menschen. Anhand von fünf Leitfragen konnten die Porträtierten eine Seite frei gestalten. Es wurden Gedichte geschrieben, biographisch gearbeitet, empowernde Momente aufgenommen. So entstehen sehr schöne Einblicke in Biographien, mit denen sich viele andere identifizieren können.
Zurück in die 1960er-Jahre: Du sagst, Frauen sind nicht nur über den Familiennachzug nach Deutschland gekommen. Wie viele Frauen waren Teil der Anwerbeabkommen?
Wie viele es waren, wissen wir leider nicht. Das wäre hilfreich, um das Bild, dass Frauen nur über den Familiennachzug hergekommen sind, zu dekonstruieren. Wir wissen nur, dass Deutschland über das Anwerbeabkommen insgesamt 22.500 Arbeiter:innen aus Marokko angeworben hat und die Frauen häufig in Schokoladenfabriken eingesetzt wurden.
Unter welchen Umständen haben marokkanische Frauen in Deutschland gelebt und gearbeitet?
Die Lebensumstände waren sehr unterschiedlich. Viele möchten darüber nicht öffentlich sprechen, aber es wird auch von Ausbeutungsverhältnissen berichtet und von der Angst, den Aufenthaltstitel zu verlieren. Außerdem berichten Frauen, dass sie schlechter bezahlt wurden als Männer. Sie waren in Unterkünften untergebracht, die sie nicht frei verlassen durften. Das hat mit dazu geführt, dass marokkanische Frauen teilweise Beziehungen mit Deutschen eingegangen sind, um diesen Missständen zu entkommen oder einen sicheren Aufenthaltsstatus zu erhalten. Sie haben auch Gewalt in der Beziehung ausgehalten, weil sie von ihren Ehemännern abhängig waren.
Der Familiennachzug wurde Marokkaner:innen stark erschwert. Welche Auswirkungen hat das auf die Geschichten von Familien zwischen Deutschland und Marokko?
Mit dem Anwerbestopp in den 1970er-Jahren sollte auch der Familiennachzug verringert werden. Die Geschichten sind sehr unterschiedlich. Mein Vater beispielsweise ist bereits 1971 nach Berlin ausgewandert, meine Mutter ist mit meinen beiden Schwestern vier Jahre später nachgekommen und ich bin hier geboren. Ich weiß, dass Arbeiter:innen ihre Familien nachholen wollten und nicht konnten. Eltern sind ohne ihre Kinder ausgewandert, die von den Großeltern großgezogen wurden. Das hat bis heute enorme Auswirkungen: psychische Belastung, Bindungsschwierigkeiten und Schuldgefühle der Eltern auf der einen Seite, und auf der anderen Seite Kinder, die nicht verstanden haben, wieso sie zurückgelassen wurden.
In den 1960er-Jahren kamen Marokkaner:innen vorwiegend nach Nordrhein-Westfalen. Wie sieht die Lebensrealität von Deutsch-Marokkaner:innen heute in anderen Bundesländern, gerade auch in Ostdeutschland, aus? Wie hat sich das in den Porträts gezeigt?
Das hat natürlich viel damit zu tun, welche Arbeiter:innen wo in Deutschland angeworben wurden. In Ostdeutschland gibt es nur eine sehr kleine Community von Deutsch-Marokkaner:innen. Anders als bei klassischer Arbeitsmigration sind das Menschen, die ihm Rahmen ihres Studiums in den letzten zehn bis 20 Jahren nach Deutschland gekommen sind. Auch die Frage der Sicherheit spielt heute eine Rolle. Viele wollen nicht nach Ostdeutschland. Das ist natürlich ein Trugschluss, wenn man sich beispielsweise die Geschichte von Rassismus und Rechtsextremismus in Dortmund anschaut. Bei den Porträts sind leider keine ostdeutschen Perspektiven vertreten.
Deutsch-Marokkaner:innen und Menschen aus den Maghreb-Staaten allgemein haben in Deutschland stark mit Rassismus zu kämpfen. Das hat die „Nafri“-Debatte[2] deutlich gezeigt. Woher kommen diese spezifischen rassistischen Bilder?
Das Bild von Menschen aus dem Maghreb ist eines von Kriminalisierung, der Unterstellung von Mord und auch Vergewaltigung. Ich denke, dass das an kolonialen Kontinuitäten liegt: Frankreich hat nach dem Ersten Weltkrieg Soldaten aus den Kolonien nach Deutschland geschickt. Vom „deutschen Volk“ wurde es als Erniedrigung wahrgenommen, von den Kolonisierten besetzt zu werden, die sogenannte „Schwarze Schmach“.
Es gab auch Liebesbeziehungen zwischen marokkanischen Soldaten und deutschen Frauen, das haben viele nicht gerne gesehen. In den 1930er-Jahren wurden dann Propagandabilder von den „Horden” verbreitet, die aus den Kolonien kommen und die deutschen Frauen vergewaltigen. Dazu gab es die entsprechenden Karikaturen und Bebilderungen mit überdimensionalen Gliedmaßen. Und bei der „Nafri”-Debatte 2015 wurden genau diese Bilder wieder genutzt. Da zeigt sich klar die Kontinuität der kolonialistischen Diskurse zu hypersexuellen arabischen Männern.
Meine Beobachtung ist außerdem: Menschen, die in den letzten Jahren aus dem Maghreb nach Deutschland gekommen sind, erfahren hier oft wenig Empathie. Weil Marokko als sogenanntes sicheres Herkunftsland gilt und kein offener Krieg herrscht, haben Marokkaner:innen nur erschwert Zugang zu Asyl, Aufenthaltstiteln und Arbeitsmarkt.
Ich denke, dass es für Menschen, die aus Kriegsregionen kommen, mehr Empathie gibt als für die, die aufgrund jahrhundertelanger Ausbeutung in prekären Situationen leben. Marokkanische Menschen beantragen auch aus politischen Gründen Asyl in Deutschland, zum Beispiel queere Personen und Minderheiten wie Sahrawis – für die ist Marokko alles andere als sicher. Diese Vielschichtigkeit wird im deutschen Diskurs nicht gesehen. Wenn Menschen keine Bleibeperspektive und keine Arbeitserlaubnis haben, dann tun sie, was sie können. Dazu kommt die Hierarchisierung von Geflüchteten, die sich auch im Umgang mit den Geflüchteten aus der Ukraine gezeigt hat. Da haben die Marokkaner:innen wenig Chancen.
Zurück zum Band: Welches Porträt ist dir besonders im Gedächtnis geblieben?
Ich kann mich nicht auf eines festlegen. Ich fand die mit einer Perspektive auf Auswandern und den Wunsch, endlich anzukommen, interessant. Die Vielschichtigkeit dieser FLINTA-Perspektiven ist einmalig und wichtig – gerade in einer Zeit, in der Antifeminismus viel Raum einnimmt. Unsere Geschichten sollten zur nationalen Geschichtsschreibung dazugehören. All diese Persönlichkeiten gestalten die deutsche Gesellschaft mit.
[1] (Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre, trans und agender Personen)
[2] Den Begriff „Nafri“ verwendete die Kölner Polizei in einem Tweet, der sich auf die Silvesternacht in Köln 2015/2016 bezog. „Nafri“ steht bei der Polizei für „Nordafrikanische Intensivtäter“. Politiker:innen und Medien haben diesen rassistischen Begriff seitdem aufgegriffen. Auch Betroffene haben sich den Begriff subversiv angeeignet.