07.03.2024
„Frauen machen wirklich alles im Sudan“
"Komm mit auf die Reise" mit Shorrtis Logo, Bild: Shorrti.
"Komm mit auf die Reise" mit Shorrtis Logo, Bild: Shorrti.

Sondos ist sudanesische Aktivistin, Podcasterin und Programmiererin. Aufgewachsen in Saudi-Arabien, ging sie zum Studium nach Khartum. Dort erkundete sie die Vielfalt des Sudans und gründete ihre eigene Kulturinitiative: Shorrti. 

Die Aktivistin Sondos Ayoub ist als Nubierin in Saudi-Arabien aufgewachsen. Aus dem Wunsch heraus, ihr Heimatland Sudan kennenzulernen, gründete sie 2016 Shorrti – nubisch für Seele. Mit der Kulturinitiative wollten Sondos und ihre Mitstreiter:innen durch Veranstaltungen und Reisen „die Seele jedes Ortes im Sudan in das ganze Land transportieren“. Shorrti ist außerdem eine Gemeinschaft, die sich gegenseitig unterstützt.

Woher kam die Motivation, Shorrti ins Leben zu rufen?

Dadurch, dass ich nicht im Sudan aufgewachsen bin, kannte ich nur das Dorf meiner Eltern – aus den Sommerferien. Die ersten 18 Jahre meines Lebens dachte ich, dass alle Sudanes:innen nubisch sprechen. Erst als ich zum Studieren nach Khartum zog, lernte ich, wie groß die kulturelle und ethnische Vielfalt des Sudans ist. Mir wurde außerdem klar, wie verbreitet Vorurteile gegen unterschiedliche Bevölkerungsgruppen sind. Zum Beispiel: Historisch sind die nubischen Gruppen erst spät zum Islam konvertiert. Deshalb lautet das Vorurteil gegen Nubier:innen, dass sie keine richtige Religion haben. Das habe ich an der Uni zu spüren bekommen. Diese Diskriminierung hat mich sehr beschäftigt und ich wollte etwas dagegen tun.

Auch schon während meiner Schulzeit in Saudi-Arabien habe ich Rassismus erlebt. Eine meiner engen Freundinnen hat plötzlich nicht mehr mit mir geredet. Ihre Freundinnen hätten ihr gesagt, sie soll sich nicht mit einer Sudanesin, mit einer Schwarzen, abgeben. Das war ein Schock für mich und hat mich sehr getroffen.

Ich wollte also einen Ort finden, dem ich zugehörig bin. Deshalb war ich, als ich nach Khartum zog, neugierig, mehr über den Sudan zu erfahren. Ich bin sogar früher aus Vorlesungen gegangen, habe irgendeinen Bus genommen und bin losgefahren. Einfach um zu erkunden.

Kam so auch die Idee für Shorrti zustande?

Genau. Bereits seit 2013 habe ich überlegt, ein touristisches Unternehmen zu gründen. Ich liebe Reisen, der Sudan ist so schön und hat eine große Vielfalt zu bieten. Ich war überzeugt, dass wir überwinden können, was uns vermeintlich trennt, wenn wir die Orte selbst bereisen. Ich hatte das Gefühl, nicht nur mir fehlt dieses Zugehörigkeitsgefühl, sondern auch Sudanes:innen, die hier aufgewachsen sind. Dieses mangelnde Zugehörigkeitsgefühl wirkt sich auch auf die anderen Probleme im Sudan aus.

Begonnen hat die Initiative Shorrti mit Kulturveranstaltungen. Auf welche Hindernisse bist du gestoßen?

Wir zeigten als erstes einen Film von Gadalla Gubara aus den 1980er-Jahren. Direkt nach Ende der Veranstaltung wurde ich von einer unbekannten Nummer angerufen. Die Person hat mich bedroht. Das war unlogisch: Den Film kann man sich komplett im Internet anschauen. Auch der Veranstaltungsort bekam später Drohungen. Schlussendlich mussten wir dort mit unseren Veranstaltungen aufhören.

Und welche Hindernisse gab es bei den Reisen?

Eine der größten Herausforderungen war, dass, aufgrund der Vorurteile, die es über die verschiedenen Gruppen gibt, alle Angst um mich hatten. Obwohl unsere erste Reise in eine Region ohne Konflikthandlungen ging. Da wir als Männer und Frauen zusammen reisen wollten, hatten wir außerdem Bedenken, dass die Menschen vor Ort uns nicht akzeptieren. Zu Unrecht. Wir wurden mit offenen Armen empfangen.

Gab es denn für dich als Frau spezifische Herausforderungen?

Ja. Einmal wollte eine syrische Studentin mit auf eine Reise. Ihre Mutter meinte zu mir: „Hmm… Du leitest also die Reise?” Sie hat meine Kompetenzen angezweifelt. Ich habe ihr gesagt, dass wir das nicht zum ersten Mal machen und gut aufpassen. Sie meinte dann ganz direkt, ihr Problem sei, dass ich eine Frau bin. Ich habe erwidert: „Mir wäre es lieber, wenn meine Tochter bei einer Frau mitfährt.” Es gab auch einen Typ, der immer zu unseren Abreisen kam und uns nachschrie: “Geht nicht mit Sondos mit. Sondos ist verrückt.”

Du erzählst das sehr humorvoll. Aber was gab dir bei all dem die Kraft und Energie weiterzumachen?

Wenn Frauen zu mir kommen und sich darüber freuen, was ich mache – auch wenn sie selbst gar nicht an den Reisen teilnehmen. Gerade arabische Frauen wollen mehr über den Sudan wissen und melden zurück: Ohne Shorrti hätten sie nicht verreisen können. Einmal sprach mich eine Frau in einer Shoppingmal an und fragte: „Bist du Sondos? Ich komme zu allen Veranstaltungen und es ist so toll, dass Frauen den Sudan bereisen können. Ich erzähle allen von dir.”

Wir bringen dieses Interview zum 8. März. Hat dieser Tag irgendeine Bedeutung für dich?

Als du mich gefragt hast, ob ich mit dir das Interview für den 8. März machen möchte, war ich sehr gerührt. Wir haben den Tag bei Shorrti immer gemeinsam gefeiert. Zum ersten Mal 2017 mit Siham Dawood. Zur Zeit des Krieges 2003 wurden viele Frauen Witwen. Siham hat eine Art Werkstatt für sie gegründet, um ein Einkommen für die Witwen zu generieren. Sie war sogar mal Anwärterin für den Friedensnobelpreis. Frauen machen wirklich alles im Sudan. Sie sind die Macherinnen.

Du hast viel über sozialen Zusammenhalt und Vielfalt im Sudan gesprochen. Was hat sich seit dem Krieg, der im April 2023 ausbrach, verändert?

Ich muss bei der Dezember-Revolution von 2018 anfangen. Sie hat der sudanesischen Gesellschaft gezeigt, dass Kriege in Teilen des Sudans mit der Regierung zusammenhängen und den ganzen Sudan betreffen. Im Zuge der Revolution gab es im Frühjahr 2019 ein Protestcamp vor dem Armeehauptquartier in Khartum. Es waren Zelte aus allen Bundesstaaten dabei.

Nach der extrem gewaltsamen Auflösung des Camps hat die Regierung jegliche Kommunikationsmöglichkeiten abgestellt. Trotzdem gab es überall im Sudan am 30. Juni Massenproteste. Es war etwas ganz Außergewöhnliches, dass alle Sudanes:innen sich in ihrer Wut über die Auflösung der Blockade einig waren und Einigkeit demonstrierten. Die Menschen haben ein anderes Gefühl füreinander bekommen.

Und mit Ausbruch des Krieges 2023?

Viele mussten aus Khartum in andere Bundesländer fliehen. Tatsächlich ist etwas Besonderes passiert. Wir nennen das nafir: Menschen haben sich zusammengeschlossen und zum Beispiel Schulen in Zufluchtsorte für die Binnenflüchtlinge umgewandelt. Allerdings hat sich dann das Regime wiederum der existierenden Vorurteile bedient, um Zwietracht zu sähen. Aber es gibt seit dem auch ein kollektives Gefühl, dass alle Sudanes:innen einen neuen, besseren Sudan wollen. Ich denke das Ende des Krieges könnte beides bringen: entweder mehr Einigkeit oder noch mehr Spaltung.

Es ist oft problematisch, wie in westlichen Medien über Frauen in WANA berichtet wird. Sogar in Deutschland gibt es eine Ahnung darüber, dass Frauen in der Revolution im Sudan eine große Rolle gespielt haben. Ist das nur Romantisierung oder entspricht es der Realität?

Während der Revolution gab es zivile Widerstandsräte. Die bestanden zum Großteil aus Männern. Für Frauen war es schwierig, da reinzukommen. Es gibt auch keine Zahlen, wie viele Frauen bei der Revolution gestorben sind, oder wie viele bei der Auflösung der Blockade vergewaltigt wurden. Es gibt keine Statistik zu gar nichts. Alle sagen, ja die Frauen waren ein Teil. Das stimmt auch, aber der Kampf ist noch lange nicht vorbei.

Ich beobachte, dass es sexistischen Backlash gibt, sobald Frauen wichtige Positionen einnehmen, egal in welcher Bewegung. Siehst du das für den Sudan auch so?

Ja, klar. Es gab zum Beispiel eine Shabab Talk Folge, bei der ein Geistlicher zu Gast war, der unlogisches Zeug über Frauen gesagt hat. Weam Shawqi, eine feministische Aktivistin, hat sich zu Wort gemeldet und ihn für seine Position kritisiert. Für ihre Aussagen wurde sie nach Erscheinen der Folge für vogelfrei erklärt. Sie musste den Sudan verlassen und ist erst nach dem Sturz von Umar al-Baschir 2019 zurückgekommen. Bis heute bekommt sie Drohungen.

Du hast gesagt, ihr musstet wegen Drohungen auch 2018 mit den Veranstaltungen von Shorrti aufhören.

Genau, aber wir haben bis 2020 Reisen organisiert. Dann mussten wir wegen Corona auch damit aufhören und haben online Veranstaltungen gemacht. Heute, mit dem Krieg, ist es leider schwierig geworden. Wir haben auch einen Menschen aus der Gruppe verloren. Aber wir stehen weiterhin in enger Verbindung zueinander, auch wenn wir überall auf der Welt verteilt sind. Wir arbeiten gerade an einem Podcast und machen vielleicht mal wieder Veranstaltungen online.

Wo lebst du heute und welche Träume und Ziele hast du?

Ich bin aktuell in den Emiraten und arbeite wieder im Bereich Computer Science und Business Administration. Um ehrlich zu sein: Ich kann mir keine Ziele setzen. Vielleicht die Sachen, die wir uns mit Shorrti vorgenommen haben. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal sage, aber es gibt keinen Raum zum Träumen.

 

Das Interview wurde auf Arabisch geführt und von der Autorin ins Deutsche übersetzt.

 

 

Seit Lissy zwischen 2014 und 2016 in Palästina lebte, interessiert sie sich für die WANA-Region. Besonderes Interesse gilt der Sprache Arabisch, Israel/Palästina und anti-muslimischem Rassismus. Lissy ist Dolmetscherin und Übersetzerin für Arabisch. Im Vorstand ist sie seit 2020 für die Mitgliederbetreuung zuständig.
Redigiert von Regina Gennrich, Hannah Jagemast
Übersetzt von Lissy Kleer