01.12.2018
Stoff als politischer Raum? Mary Grace Browns "Khartoum at night" in der Rezension
Eine Variante des Thoub. Quelle: UNAMID, flickr https://www.flickr.com/photos/unamid-photo/12064807575
Eine Variante des Thoub. Quelle: UNAMID, flickr https://www.flickr.com/photos/unamid-photo/12064807575

Mittels Kleidungsstücken die Stimme von Frauen in der Geschichte einfangen? Historikerin Mary Grace Brown zeigt, wie Frauen im Sudan sich ein traditionelles Gewand zu Nutze machten, um sich einen Platz im öffentlichen Raum zu erkämpfen und die Errungenschaften von Frauen in der Gesellschaft zu würdigen. Eine Rezension von Brandie Podlech

Dies ist ein Beitrag unserer Alsharq-Reihe Re:zension. Seit Mai 2018 stellen wir regelmäßig ein neu erschienenes Buch vor, das wir für besprechenswert halten. Wenn Ihr Vorschläge für solche Werke habt oder mitmachen wollt, schreibt uns gerne an [email protected].

„Schwingende Hüften unter wallenden Stoffen in allen Farben des Regenbogens“ – so beschreibt Mary Grace Brown die typische Erscheinung von Frauen in der Öffentlichkeit des Sudan. Der Thoub(auch Tobe), ein großes Tuch, das um den gesamten Körper und Kopf gewickelt wird, ist für die Historikerin Dreh- und Angelpunkt ihres preisgekrönten Werkes „Khartoum at Night. Fashion and Body Politics in Imperial Sudan”.

Der Sudan wurde unter britischer Kolonialherrschaft 1900-1956 offiziell als Anglo-Ägyptisches Kondominium bezeichnet. Die Autorin argumentiert, die Stimmen von Frauen in der Geschichte einzufangen sei ein gewagtes Unterfangen, da Sudanesinnen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum Geschichtsschreibung in Form von Texten betrieben.

Brown will zeigen, dass es durchaus möglich ist, die Stimmen von Frauen, ihr politisches Bewusstsein und Ausdruck dessen aus ihrem Auftreten im Alltagsleben herauszulesen – obwohl Thoubs aus der Imperialzeit nur spärlich sowie ausschließlich mündlich überliefert sind und die Erinnerung an die Namen der Modelle stärker ist als die an ihre Muster und Farben. Der Autorin dienen die Kleidungsstücke dabei weit mehr als der bloßen Illustration. Sie zeigen, wie „kolonialisierte Körper“ strukturelle Verhältnisse von Körperpolitik, Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Teilhabe erlebten.

Die imperiale Mission

Die imperiale Mission, so Brown, bestand darin, das Land aus der „Rückständigkeit“ zu holen. Einen Schlüssel dazu sah die Kolonialverwaltung in einer Reform des Lebensalltags von Frauen, die gesellschaftlich „ausgeschlossen“ und „barbarischen“ Praktiken ausgesetzt waren. Brown zeigt auf, wie Frauen in diesem Kontext ihre Körper nutzten, um ihre gesellschaftliche Position zu kalibrieren und durch sich wandelnde und überschneidende Systeme zu navigieren.

Wie sie den Imperialismus erlebten, drückten Sudanesinnen in intimer Weise aus: auf ihren Körpern und durch ihre Körper. Dabei macht die Autorin allerdings auch deutlich, dass ihr Ansatz nur das Leben städtischer Frauen aus der Mittelschicht im Norden Sudans nachzeichnen kann. Katalysiert durch das koloniale Prinzip „teile und herrsche“, das die ethnische, geographische und kulturelle Diversität Sudans instrumentalisierte, waren Frauen in den Zentren Khartum und Omdurman am unmittelbarsten mit Aspekten westlicher Bildung, Politik und materieller Kultur, wie modischen Trends, in Kontakt.

Der Ausbau von Mädchenschulen seit den 20er Jahren bedeutete für Sudanesinnen beispielsweise mehr Möglichkeiten, die Gesellschaft mitzugestalten, führte aber auch zu einer stärkeren Kontrolle durch das britischeEmpire. So lernten Schulmädchen neben Lesen, Schreiben und Nähen hauptsächlich, wie sie sich zu verhalten und zu kleiden hatten. Das Thoub-Modell „The Post Office Pen“ verdeutlicht für Brown, dass Frauen die Vorstellung, obgleich nicht die Möglichkeit, hatten einen Brief zu schreiben und zur Post zu gehen.

Zur selben Zeit stand im Fokus der kolonialen Mission die Ausbildung einer ersten Generation staatlich zertifizierter Hebammen. Die Erscheinung der Hebammen war markant: Frauen in rein weißen Thoubs, die eine unübliche hohe Mobilität im öffentlichen Raum hatten. Hebammen, auch Dayas genannt, sind im Sudan bis heute einflussreiche Mediatorinnen zwischen „traditionellen“ Reinheitspraktiken und staatlich verordneten Hygiene- sowie reproduktiven Gesundheitsstandards.

Das Aufkommen modischer Thoubs mit Namen wie „The Schoolmistresses‘ Ribs“ oder „The Doctors‘ Ribs“ im Laufe der 1930er sieht Brown als Indikator dafür, dass erstmalig die Errungenschaften berufstätiger Frauen gewürdigt wurden – und durch die in diesem Fall gestreiften Thoubs sichtbar wurden.

Die imperiale Körperpolitik

Moderne Formen von Weiblichkeit nach britischem Vorbild helfen dabei, gesunde und arbeitsfähige Bedienstete im Namen des Empire zu produzieren – so beschreibt Brown passend das Leitprinzip der kolonialen Körperpolitik. Die Propagierung dieser fand allerdings ohne Teilhabe der Sudanesinnen und Sudanesen statt. Entsprechend zogen die ersten rechtskräftigen Urteile nach dem neuen Gesetz zur Abschaffung von weiblicher Genitalverstümmelung (FGM) in den 1940ern Aufstände nach sich. Frauen waren, so Brown, nicht bereit, ihre „kulturelle Souveränität“ aufzugeben und ihre Körper noch intimerer Überwachung durch das Empire auszusetzen.

Dass Frauen – Dayas, Mütter und Großmütter – die Praxis beibehielten, interpretiert sie als selbstbestimmte Auflehnung gegen die Eingriffe des Empires. Als Leser*in kann man dieser Schlussfolgerung nur schwer folgen: Die Verstümmelung von Mädchen als kulturelle Souveränität? Brown lässt Geschlechterhierarchien außer Acht und es wirkt, als handle es sich dabei um einen Eingriff „von Frauen für Frauen“, und nicht um eine Verstümmlung, die von Männern eingefordert wird um Frauen „heiratbar“ und kontrollierbar zu machen.

Der Thoub – Raum für Provokation und Sittlichkeit

Die Autorin veranschaulicht, wie sich Frauen bis zur Gründung der Sudanese Women’s Union1952 nach und nach ihre Präsenz im öffentlichen und politischen Raum erkämpften. Begonnen mit Schülerstreiks an Mädchenschulen fochten sie gegen die Meinung an, weibliche Körper in der Öffentlichkeit stellen eine moralische Gefahr dar.

Inspiriert durch eine Vision von „indigenem Feminismus“ griff die Frauenbewegung auf Instrumente zurück, die Teil ihrer eigenen Kultur und Religion sind. Der Thoub generierte dabei einen sicheren Raum für sie, der es ihnen ermöglichte, zu provozieren, also öffentlich sichtbar und hörbar zu sein, jedoch zugleich bewusst ihre kulturelle Zugehörigkeit und Sittlichkeit zu betonen.

Brown hält sich auch hier nicht damit auf, Körperpraktiken im Zusammenhang mit traditionellen patriarchalen Strukturen zu diskutieren – an dieser Stelle allerdings mit einer argumentativ starken Schlussfolgerung: Sudanesinnen machten sich das Kleidungsstück zu eigen als „Symbol postkolonialer Authentizität“.

Fazit

Auf den ersten Blick scheint die Idee, Mode als Ausdrucksform zu analysieren, auf ein überinterpretatives Zelebrieren vermeintlicher gesellschaftlicher Beteiligung von Frauen hinauszulaufen – vor allem in einem Land, in dem damals wie heute circa 90% aller Frauen zwischen 15-49 Jahren von FGM betroffen sind und rechtlich wie sozial extrem benachteiligt werden.

Historiker*innen, so Brown, haben dem soziopolitischen Bewusstsein und Engagement der Frauen im Sudan wenig Aufmerksamkeit geschenkt – genau aus der Argumentation heraus, ihre geringe Bildung und eine Kultur der strengen Abschottung und Unterdrückung schränkten ihre gesellschaftliche Teilhabe ein. Der Autorin hingegen gelingt es zu zeigen, dass sich die politische Sphäre von Frauen an intimen und zugleich zentralen Orten gesellschaftlicher Umbrüche, wie Kreißsälen und Klassenzimmern, befand und sie ihre politische Praxis durch Thoubs sichtbar machten.

Was allerdings nicht gelingt, ist die intime Dimension und die strukturelle (die imperiale Mission) in Verbindung mit familiären Geschlechterverhältnissen zu setzen – die Geschichte von Frauen ist nicht trennbar von der Geschichte der Männer. Zwar elegant geschrieben verstrickt sich die Historikerin zudem stellenweise stark in politischen Details, die außerdem wie in der Disziplin typischeher von männlichen Akteuren dominiert sind.

Dennoch ist das Buch auch für geduldige Leser*innen anderer Fachrichtungen eine absolut empfehlenswerte Lektüre. Als eine vielschichtige Geschichte Sudans in der Imperialzeit und auch als Erinnerung daran, dass gesellschaftliche Teilhabe damals wie heute nicht nur in Textform, sondern auch in unserem Alltag und auf unseren Körpern geschieht.

Brandie hat Arabistik und Islamwissenschaft sowie Politikwissenschaft und Soziologie in München studiert und ihren Master in Migration & Development Studies an der SOAS (London) abgeschlossen. Nach mehreren Auslandsaufenthalten im Libanon arbeitet sie derzeit im Sudan in der Entwicklungszusammenarbeit. Brandie ist seit Sommer 2018 im Verein...
Redigiert von Lissy Kleer, Andreas Vogl