13.03.2020
Wie der Tod auf einen gescheiterten Staat verweist
Der Umgang der iranischen Regierung mit dem Corona-Virus führt in eine Sackgasse. Grafik: Paul Bowler
Der Umgang der iranischen Regierung mit dem Corona-Virus führt in eine Sackgasse. Grafik: Paul Bowler

Iran ist zu einem Corona-Hotspot geworden, die Lage ist katastrophal. Doch die Bevölkerung ist nicht nur Opfer des Virus: Sie leidet an der politischen Ohnmacht der Herrschenden, schreibt Omid Rezaee.

Dieser Text ist Teil der dis:orient-Kolumne Des:orientierungen, die jeden zweiten Freitag erscheint.

Iran befindet sich inmitten einer Krise, die die Behörden lange zu dementieren versuchten. Laut mehreren Berichten ist die Lage in nördlichen Provinzen so außer Kontrolle geraten, dass die Corona-Patient*innen auf dem Boden der Krankenhäuser liegen. Dass diese Menschen Opfer des Coronavirus sind, ist nur die halbe Wahrheit. In Wirklichkeit ist die Inkompetenz der Herrschenden, die nun für viele einem Todesurteil gleichkommt.

11,364 Menschen haben sich in Iran mit dem Coronavirus infiziert, 514 sind daran gestorben. So lautet zumindest die offizielle Statistik (Stand: 13. März). Ihr glaubt allerdings kaum jemand. Laut Schätzung von Radio Free Europe / Radio Farda sind in Iran bis zum 9. März 2020 mindestens 927 Personen gestorben. Mit einer einzigen Ausnahme gäbe es in allen Provinzen des Landes Corona-Tote.

Der Exil-Sender ist mit seinen Zweifeln an den amtlichen Zahlen nicht allein: Während der Sprecher des Gesundheitsministeriums von 200 Todesfällen in der Provinz Gilan ausgeht, meint ein lokaler Parlamentsabgeordneter aus der Provinzhauptstadt Rascht, dass täglich 30 bis 40 Menschen an der Lungenkrankheit ums Leben kämen. In zwei Provinzen geben die iranischen Behörden die Todeszahlen erst gar nicht bekannt: in der Hauptstadt Teheran und Umgebung, wo über 10 Millionen Menschen leben, und in Ghom, der sogenannten heiligen Metropole, in der die Corona-Epidemie im Land begann.

Die Regierung vernachlässigt dabei nicht nur völlig absichtlich ihre Verpflichtung, die Bevölkerung zu informieren, sondern verhindert auch eine Berichterstattung durch die Zivilgesellschaft und soziale Medien. So verkündete die Staatsanwaltschaft von Ghom am 10. März, dass eine Krankenschwester festgenommen worden sei, weil sie die Zahl der Todesfälle in der Stadt in sozialen Medien öffentlich gemacht hatte. Auch in Masadaran, der nördlichen Provinz am Kaspischen Meer wurden angeblich mehrere Personen verhaftet, weil sie über die Lage der Corona-Infizierten in der Region berichtet hatten.

Am 9. März hieß es in der amerikanischen Zeitschrift The Atlantic treffenderweise: „Wenn die Geschichte der Coronavirus-Epidemie im Jahr 2020 abschließend geschrieben wird, könnte sie in etwa so aussehen: Die Krankheit begann in China, wurde aber in Iran endgültig und unwiderruflich unkontrollierbar.“ The Atlantic geht von bis zu fünf Millionen infizierten im Land aus.

Eine Mischung aus Inkompetenz und Ignoranz

Dass die iranischen Behörden über das Ausmaß des Desasters lügen, mag daran liegen, dass sie selbst daran schuld sind: Bereits in den ersten Februarwochen warnten Medien und Expert*innen davor, dass das Virus eventuell im Land angekommen sei, angesichts des regelmäßigen Austauschs zwischen China und dem Iran.

Doch die Herrschenden ignorierten diese Warnungen tatenlos. Als es am 11. Februar anlässlich des Jubiläums der Islamischen Revolution große Demonstrationen in verschiedenen Städten des Landes gab, nahmen wie jedes Jahr Millionen Menschen daran teil. Oppositionelle Medien hatten schon im Vorfeld gemutmaßt, dass das Regime wohl erst nach den Feierlichkeiten die ersten Infektionsfälle vermelden würde, um ihre Anhänger*innen nicht davon abzuschrecken, an den Demonstrationen teilzunehmen.

Auch die für den 21. Februar angesetzten landesweiten Parlamentswahlen zu verschieben, war für die Regierung keine Option. Als sich zwei Tage vor den Wahlen erste Gerüchte über das Coronavirus verbreiteten, erschien Ali Khamenei, der Oberste Religionsführer des Landes, im Fernsehen. Dort tat er Meldungen über die Ausbreitung des Coronavirus als Verschwörung ab. Die Feinde der Islamischen Republik könnten eine hohe Wahlbeteiligung nicht ertragen, behauptete er.

Der Ursprung des Coronavirus in Iran ist nicht gänzlich geklärt, doch laut des Präsidenten der Universität für Medizinische Wissenschaften in Mashhad sei das Virus durch 700 chinesische Theologiestudenten, die in Ghom die schiitischen Schulen besuchen, ins Land gekommen. Als der erste Infektionsfall in Ghom bestätigt wurde, verlangten Zivilgesellschaft und Medien, die Großstadt unter Quarantäne zu stellen. Denn Ghom ist eine für Schiit*innen heilige Stadt: Hier befindet sich der Schrein der Fatima Masuma, der Schwester des achten Imams der Zwölferschiit*innen. Über zwanzig Millionen Schiit*innen pilgern jährlich zu diesem Wallfahrtsort – nicht nur aus allen Teilen des Landes, sondern aus der ganzen Welt.

Die hochrangigen Kleriker lehnten eine Quarantäne trotzdem ab, weil sie eine derartige Schutzmaßnahme als Beleidigung der heiligen Stadt werteten. Im Staatsfernsehen bezeichneten sie eine Quarantäne als mittelalterliche Maßnahme. Als das Auftreten der Krankheit nicht mehr zu leugnen war, mahnte Khamenei in einem Fernsehauftritt, nicht zu übertreiben. Mehrmals verkündete Präsident Hassan Rohani, dass die Regierung die Lage im Griff habe.

Tote lügen nicht

Doch die Machthaber sind einer Illusion erlegen: Sie glaubten, dass sich die Krise einfach abstreiten ließe. Den Tod kann man aber nicht leugnen. Oder wie Sadegh Hedayat, einer der größten Intellektuellen und Schriftsteller des modernen Iran, einst sagte: „Das einzige, was nicht lügt, ist der Tod.“ Etwa siebzig Jahre später überholt die Überzeugung des säkularen Denkers die gewaltigen Theokraten. Alle Versuche, so zu tun, als ob man die Lage beherrschen würde, scheitern daran, dass sich die unzähligen Toten nicht abstreiten lassen. Die vielen Gräber kann man mittlerweile sogar aus dem Weltall sehen.

Das Coronavirus hat einen bitteren Sinn für Humor: Irans Vize-Gesundheitsministers Iradsch Harirtschi steckte sich bereits in den ersten Tagen des Ausbruchs an. Ihm folgte Massoumeh Ebtekar, Vizepräsidentin und damalige Leiterin der Behörde für Umweltschutz. Ihre Kompetenz als „Immunologin“ betonend, hatte Ebtekar der Bevölkerung noch ein paar Tage vor ihrer Infektion in einem Tweet zugesichert, dass das iranische Gesundheitssystem eines der besten der Welt sei. Ihren Höhepunkt erreichte die Ironie mit der Nachricht, dass der Leiter der nationalen Katastrophenschutzorganisation des Iran am Coronavirus erkrankt ist. Inzwischen hat sein Stellvertreter übernommen.

Die große Enttäuschung sind nicht die religiösen Hardliner

Dass hochrangige Politiker*innen und Vertraute des Regimes von dem Virus betroffen und teilweise daran verstorben sind, ist kein Zufall. Schließlich begann die Epidemie offenbar in der heiligen Stadt Ghom, in der Unterstützer*innen des Gottesstaates zusammenkommen. So hat sich das Virus ausgerechnet unter Regime-Anhänger*innen besonders schnell verbreitet. Ein Mitglied des Expertenrats, der aus Klerikern besteht, war eines der ersten Todesopfer.

Die größte Enttäuschung der Krise sind aber nicht die Hardliner und Konservativen, die ohnehin nicht gewählt worden sind, sondern nur durch den Einfluss der Religionsgelehrten die mächtigen Institutionen des Staates in der Hand haben. Viel schwerer trifft die Bevölkerung die mangelnde Kompetenz des Präsidenten Rohani, auf den die Mehrheit erst vor drei Jahren große Hoffnung gesetzt hatte.

Ihre Ohnmacht und Unfähigkeit hat Rohanis Regierung in wirtschaftlichen und politischen Krisen bereits mehrfach bewiesen. Es ist gerade mal zwei Monate her, das Rohani behauptete, er habe erst paar Tage später erfahren, dass die ukrainische Passagiermaschine nicht an einem technischen Fehler abstürzte, sondern von einer Rakete der Revolutionsgarden abgeschossen wurde. In iranischen sozialen Media spottet man nun, dass der Präsident erst am nächsten Samstag mitbekommen wird, was in dem Land los ist.

Die Bevölkerung Irans hat das Gefühl, mit diesem Virus allein gelassen zu werden. Die Islamische Republik lässt sich mit ihrer Leistung in dieser Krise in einem Begriff zusammenfassen: Failed State.

 

 

Omid Rezaee ist ein iranischer Journalist. 2012 verließ er seine Heimat, nachdem er aufgrund seiner journalistischen und politischen Tätigkeiten einige Monate im Gefängnis verbracht hatte. Bis Ende 2014 berichtete er aus dem Irak vor allem über den Krieg gegen den sogenannten Islamischen Staat. 2015 kam er nach Deutschland und schreibt seitdem...
Redigiert von Maximilian Ellebrecht, Anna-Theresa Bachmann