In Russland leben 40 unterschiedliche Bevölkerungsgruppen, die muslimisch geprägt sind. Die steigende Repression im Land betrifft auch sie immer stärker. Was das konkret heißt, soll hier kurz erklärt werden.
Trotz seiner ethnischen Vielfalt wird Russland oft als kulturell homogen dargestellt. Dabei lebt der größte Teil der muslimischen Bevölkerung Europas in dem 17,1 Millionen Quadratkilometer großen Land.
Russland ist Heimat zahlreicher muslimischer Gemeinschaften, die zum Teil seit Jahrhunderten auf dem heutigen Staatsgebiet leben. So wurden Tatar:innen sowie muslimisch geprägte Völker aus dem Kaukasus wie die Tschetschen:innen im Zuge der zaristischen und später sowjetischen Expansion in das Staatsgebiet eingegliedert.
Einer der Hauptgründe für das heutige Wachstum der muslimischen Bevölkerung ist die zunehmende Migration von Menschen aus Zentralasien und dem Kaukasus. Der Grund dafür ist häufig die Aussicht auf bessere Arbeitschancen. Somit machen Arbeitsmigrant:innen einen bedeutenden Anteil der muslimischen Bevölkerung Russlands aus.
Die Binnenpluralität der verschiedenen Gemeinschaften ist das Ergebnis regional spezifischer ethnischer, aber auch historischer Faktoren. Diese innerreligösen, kulturellen, sprachlichen aber auch sozialen Unterschiede führen dazu, dass der Umgang mit staatlichen Repressionen stark variiert: Während sich einige der muslimischen Gruppen anpassen, verweigern sich andere dem staatlichen Druck.
Die Ausweitung der autoritären staatlichen Kontrolle durch die systematische Verfolgung von Oppositionellen betrifft somit auch Muslim:innen in Russland. Der Vorwurf lautet dabei häufig „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung”. Viele Muslim:innen in russischen Gefängnissen versuchen religiöse Praktiken, wie das regelmäßige Beten, sowie das Fasten im Monat Ramadan, aufrechtzuerhalten – allerdings unter erschwerten Bedingungen.
Religiöse Praxis in russischen Gefängnissen
Im Ramadan dürfen Inhaftierte erst nach Sonnenuntergang essen. In vielen Einrichtungen ist es jedoch verboten, Speisen mit in die Zellen zu nehmen, was dazu führt, dass sie gezwungen sind, zu hungern.
Zudem berichtet die russische NGO OVD-Info, dass viele inhaftierte Muslim:innen aufgrund ihrer religiösen Praktiken, insbesondere des Gebets, bestraft werden. Die NGO OVD ist eine der wenigen Organisationen, die zu diesem Thema in Russland arbeitet und angesichts der Sicherheitslage für kritische zivilgesellschaftliche Arbeit, stammen die hier zitierten Informationen oft aus Telegram-Channeln, über die offener kommuniziert werden kann.
Das regelmäßige Beten sowie das Fasten während des Ramadan sind zentrale Bestandteile des religiösen Lebens im Islam und unabhängig von der innerhalb des Islams bestehenden pluralen Ausrichtung verpflichtend.
So berichtete der inhaftierte Journalist Remzi Bekirov von wiederholten Verlegungen in eine Strafzelle (auf Russisch SHIZO genannt) wegen der Ausübung seiner religiösen Pflichten. In der Einzelhaft würden laut Bekirov besonders harte Bedingungen herrschen, da die Zellen extrem kalt oder heiß seien und es neben den reduzierten Essensrationen wenig Bewegungsfreiheit gebe. Bekirov schilderte seine Situation eindrücklich in einem Prozess zu rechtswidrigen Strafzellenverlegungen:
„Ich stehe ständig vor der Wahl: entweder zu beten und dafür in der Strafzelle bestraft zu werden oder nicht zu beten und dafür am Tag des Jüngsten Gerichts bestraft zu werden. In meiner letzten Rede habe ich gesagt, dass Gefängnisse unseren Glauben nicht brechen können.“
Diese Aussage wurde von der russischen NGO veröffentlicht, die sich für politische Gefangene und deren Rechte in Russland einsetzt.
Politische Repression von Tatar:innen
Vor seiner Verhaftung berichtete Bekirov regelmäßig über politisch motivierte Hausdurchsuchungen und Gerichtsverfahren auf der Krim, die sich insbesondere gegen krimtatarische Aktivist:innen richteten. Bekirov war aktives Mitglied der Plattform „Crimean Solidarity“, die seit 2016 Familien politischer Gefangener unterstützt und über Menschenrechtsverletzungen berichtet.
Er dokumentierte unter anderem den Fall von Vedžie Kaška, einer prominenten Krimtatarin und langjährigen Aktivistin. Sie starb im November 2017 während einer Operation russischer Sicherheitskräfte, bei der mehrere ihrer Mitstreiter:innen festgenommen wurden.
Ein weiterer Schwerpunkt seiner Berichterstattung war die Dokumentation von Festnahmen mutmaßlicher Mitglieder der Partei Hizb al-Tahrir. Die Partei wurde 2003 vom Obersten Gerichtshof Russlands als terroristisch eingestuft und verboten. Die Anklagen basieren auf dem Artikel 205.5 des russischen Strafgesetzbuches, der die „Organisation der Tätigkeit einer terroristischen Vereinigung“ unter Strafe stellt. Menschenrechtsorganisationen kritisieren jedoch, dass es keine belastbaren Beweise für terroristische Aktivitäten der Angeklagten gebe.
Da die Partei in Russland, allerdings nicht in der Ukraine, verboten ist, wuchs die staatliche Repression nach der Annexion der Krim 2014 schlagartig an, und überzog besonders auf der Krim die Krimtatar:innnen mit einer Welle von Repression, welche politisch motiviert ist und unter dem Deckmantel der „Terrorismusbekämpfung“ geführt wird.
Bekirov verfolgte nicht nur die allgemeine Repressionswelle gegen Krimtatar:innen, sondern begleitete auch konkret die ersten Gerichtsverfahren gegen Mitglieder der Hizb al-Tahrir, die 2015 in Moskau und 2016 in Čeljabinsk stattfanden. Als sich 2019 auf der Krim eine neue Verhaftungswelle unter ähnlichen Vorwürfen abzeichnete, geriet er erneut als Beobachter und Chronist ins Zentrum des Geschehens: Damals wurden unter dem Vorwand der Mitgliedschaft in der verbotenen Partei 20 Tatar:innen festgenommen.
Bekirov beschränkte sich jedoch nicht auf journalistische Arbeit – im Zuge seiner Berichterstattung initiierte er auch kollektive Hilfsaktionen für die Familien der Inhaftierten. Am 27. und 28. März 2019 führten russische Sicherheitskräfte großangelegte Hausdurchsuchungen bei krimtatarischen Aktivist:innen durch, darunter auch bei Mitgliedern der Plattform „Crimean Solidarity“, für die Bekirov regelmäßig schrieb. Infolge dieser Maßnahmen wurden 24 Personen festgenommen – darunter auch die Journalisten Osman Arifmemetov, Rustem Sheikhaliyev und schließlich Bekirov selbst.
Im März 2022 wurde Bekirov von einem Militärgericht in Rostow am Don zu 19 Jahren Haft verurteilt – ein Urteil, das international als politisch motiviert kritisiert wurde. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation OVD-Info befinden sich derzeit mindestens 115 Krimtataren wegen angeblicher Verbindungen zu Hizb al-Tahrir in russischer Haft – offiziell unter dem Vorwurf des „islamistischen Terrors“, faktisch jedoch oft aufgrund ihrer gesellschaftlichen oder religiösen Aktivitäten.
Baschkir:innen im Visier des russischen Strafsystems
Erst 2024 kam eine weitere muslimische Minderheit, die Baschkir:innen, ins Visier des russischen Strafvollzugssystems. Auslöser war die Verhaftung des baschkirischen Umweltaktivisten Fayil Alsynov, der aufgrund angeblicher „Aufstachelung zu ethnischem Hass“ zu vier Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Seine Kritik richtete sich jedoch gegen den umweltschädlichen Goldabbau in der Region Baymak. Die Urteilsverkündung löste die sogenannten Baymak-Proteste, eine der größten Protestbewegung in Russland seit Beginn des Ukraine-Kriegs aus. Tausende Menschen versammelten sich vor dem Gericht in Baymak, um ihre Solidarität mit Alsynov zu zeigen. Bei den gewaltvollen Reaktionen der Polizei mit Tränengas und Schlagstöcken wurden zahlreiche demonstrierende Personen verletzt oder festgenommen. Die Behörden leiteten daraufhin Verfahren wegen „Massenunruhen“ ein, was zu mindestens 76 Inhaftierungen führte. So wurde auch Iljas Bayguskarow festgenommen, der laut OVD-Info versuchte, die protestierende Menge zu beruhigen. Stattdessen wurde er als Anführer der Proteste angeklagt. Heute, so berichtet er, widme er sich in Untersuchungshaft dem Studium des Korans.
Auch Angehörige berichten von Diskriminierung. So etwa Nazeera (Name geändert), die Ehefrau eines Baschkiren, der wegen seiner Teilnahme an den Protesten in Untersuchungshaft sitzt, wurde eigenen Angaben zufolge vor Gericht vom Staatsanwalt und dem Richter verbal angegriffen, weil sie keine standesamtliche Heiratsurkunde vorlegen konnte. Ihr Hinweis, dass sie nach der islamischen Nikah-Tradition verheiratet seien, sei mit Spott kommentiert worden.
Sie und ihr Mann hätten vor den Protesten andere Pläne für die Zukunft gehabt, so Nazeera: „Wir haben eine Hypothek aufgenommen und wollten ein Haus kaufen. Wir waren nicht an Politik interessiert. Er wollte anfangen, täglich zu beten. Jetzt betet er in der Untersuchungshaftanstalt.“
Bis März 2025 wurden laut OVD-Info mindestens 76 Personen im Zusammenhang mit den Baymak-Protesten inhaftiert. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International forderten unabhängige Untersuchungen der Polizeigewalt und die Freilassung friedlicher Demonstrierender.
Diese Ereignisse verdeutlichen eine zunehmende Polarisierung im Verhältnis zwischen dem russischen Staat und ethnisch sowie religiös geprägten Minderheiten. Während einige muslimische Gruppen näher an die offizielle Politik heranrücken, geraten andere – insbesondere solche, die sich politisch oder sozial engagieren – systematisch ins Visier der Sicherheitsbehörden. Soziolog:innen beobachten: Anpassung wird belohnt und abweichendes Verhalten mit Haft und Repression bestraft.




















